Befreiung von oder in der Arbeit?

siehe auch hier

"Arbeit hat die Menschen geschaffen" und "Befreiung von der Arbeit" - paßt das zusammen?

Abgesehen vom Zwang, sich seinen Lebensunterhalt über Lohnarbeit zu verdienen, der zu dem Ruf "Arbeit, Arbeit, Arbeit!" führt, definieren auch viele Menschen ihr Selbst über ihre Arbeit und haben sich damit in der entfremdeten Lohnarbeit so sehr "eingerichtet", daß sie bei Erwerbslosigkeit keine Befreiung empfinden, sondern Haltlosigkeit (auch wenn sie finanziell abgesichert sind).

Hier wirkt noch eine tiefere Verankerung von Arbeit im Selbstempfinden der Menschen. Sie ist allerdings nicht allen Menschen gegeben, sondern hielt erst in den letzten Jahrhunderten in Europa Einzug.

Noch im alten Griechenland, aus dem ja viele unserer kulturellen Verankerungen herrühren, hieß Arbeiten "Sklave der Notwendigkeit sein" (nach Ahrendt, S. 101) und war dementsprechend nicht geachtet, sondern dem Bereich der Sklaven, Frauen und Kinder zugeordnet. Dieser Bereich des Ökonomischen blieb dem wesentlich Menschlichen, der Fähigkeit zur Kontemplation (ebenda, S. 37) untergeordnet.

Erst nachdem im Mittelalter ein gesellschaftliches Zwischenreich entstand, in dem den privaten Interessen öffentliche Bedeutung zukam, konnte auch die Arbeit in den Bereich des Öffentlichen gelangen (ebenda, S. 45, 60).

H. Ahrendt unterscheidet drei Tätigkeitsformen, deren Bedeutung historischen Wandlungen unterliegt:

Arbeit: entspricht dem biologischen Prozeß des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt und zubereitet, um sie als die Lebensnotwendigkeiten dem lebendigen Organismus zuzuführen (Ahrendt, S. 16). Sie hinterläßt nichts Greifbares, verzehrt das Resultat ihrer Mühe gleich wieder (S. 194). Es ist deshalb auch niemals "fertig", "sondern dreht sich in unendlicher Wiederholung in dem immer wiederkehrenden Kreise, den der biologische Lebensprozeß ihm vorschreibt..." (117)

Herstellen: Produziert eine künstliche Welt von Dingen... widerstehen der Natur bis zu einem gewissen Grade und werden von den lebendigen Prozessen nicht einfach zerrieben. (Ahrendt, S. 16)

Handeln: einzige Tätigkeit der Vita activa, die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt. (Ahrendt, S. 17)

Die Arbeit bei Marx umfaßt alle drei Formen. Einerseits ist sie die ewige Reproduktion - bei der aber irreversible Änderungen gesetzt werden (durch die Steigerung der Produktivkräfte in Arbeitskräften, Arbeitsmitteln und -gegenständen) - was das Herstellen im Ahrendtschen Sinne mit enthält. Alles Handeln als soziale wesentliche Wechselwirkung ist bei Marx auf die Arbeitstätigkeit bezogen, weil Arbeit das Feld ist, auf dem die Menschen primär und notwendig kooperieren und vom dem her das Gesellschaftliche überhaupt konstituiert wird. Der Marxsche Arbeitsbegriff ist also viel weiter gefaßt als bei Ahrendt.

Bei Marx gibt es auch zwei Pole der Bestimmung von Arbeit:

Einerseits ist bei ihm die Produktion ihrer Lebensmittel der Unterschied von Menschen gegenüber Tieren (MEW 3, S. 21), andererseits hat der Mensch im Unterschied zur Biene sein Arbeitsergebnis "vorher im Kopf gebaut" (MEW23, S. 193).

"Bewußte Produktion" ist also das Typische für den Wechselwirkungsprozeß zwischen Menschen und ihrer natürlichen Mit-Welt. Einerseits betrifft das die im Kreislauf gleich wieder verschwindenden Arbeitsergebnisse, andererseits die bleibenden Artefakte - dazwischen die hergestellten Produktionsmittel, die innerhalb der zyklischen Prozesse eine Irreversibilität veränderter produktiver Kräfte hervorrufen.

Dazu gehört, daß Menschen bei ihrer Arbeit "als Bedürftige aus der Tätigkeit herausfallen, neben sie treten und sie nach ihren Bedürfnissen, ihrem Plan und Willen bestimmen" (Pohrt, S. 118). Und nicht zu vergessen: bei der Arbeit verändern sie nicht nur ihre Umgebung, sondern wesentlich sich selbst - diese Selbstveränderung des Menschen in der Arbeit wurde bei H. Ahrendt z.B. überhaupt nicht mehr berücksichtigt - für Marx ist sie das Wesentliche.

Ökofeministinnen (Bennholdt-Thomsen, Mies) betonen, daß gerade die Reproduktionsarbeit des Lebens, die traditionell mit Frauenarbeit verbunden ist, bei Marx systematisch ausgeblendet ist. Sie glauben nicht an die befreiende Wirkung von Produktivitätsfortschritten. Alles, was nicht der Lebensmittelherstellung nutze, wie die Computer, lehnen sie ab. Damit müssen sie natürlich alle früheren als industrielle Lebens- und Reproduktionsformen als besser annehmen. Bei aller Relativierung der von "Produktivisten" fälschlicherweise fehlinterpretierten Vergangenheit ("alles war Not und Elend") wäre die Behauptung des Gegenteils ("alles war früher besser") genau solch eine Fehlinterpretation. So kann das nicht aufrechterhalten bleiben - die Erinnerung an frühere Jahrzehnte zeigt bereits in unseren Familien ein anderes Bild. Idealisierungen der Dorfidylle vergessen deren Unterdrückungspotentiale. Es gibt noch Refugien, in denen es "Freiheit, Glück, Selbstbestimmung innerhalb des Reichs der Notwendigkeit" gibt (Bennholdt-Thomsen, Mies S. 25). Aber das Leben muß nicht mehr nur innerhalb dieses Reiches ablaufen, denn dann wäre auch kein Raum zum Schreiben und Lesen von Büchern etc. Leute aus Juchatán müssen i.a. 10 Stunden am Tag arbeiten, nur wenige können außerhalb zum Studium geschickt werden. Wollten die Menschen auch eine andere Naturkunde und Denkweise etc. für und mit allen entwickeln, brauchen sie mehr Zeit dafür. Wenn es den Menschen in Juchatán ausreicht, ist das für sie in Ordnung - ich kenne aber viele Menschen, die in ihrem Leben etwas anderes als wöchentlich 50 bis 70 Stunden notwendige Arbeit leisten wollen und die können wir nicht darauf verweisen, sich mit dieser Arbeit frei und glücklich fühlen zu sollen.

Marx hat als große Vision, daß die rein reproduktive, zyklische Arbeit und auch notwendige Erweiterungen des Arbeitsfeldes nicht mehr von Menschen erledigt werden muß (was nicht ausschließt, das man es darf, so man will), sondern "Arbeit, wo der Mensch in ihr tut, was er Sachen für sich tun lassen kann, aufgehört hat" (MEW 42, S. 244). Stofflich-energetische Prozesse sollen in die Naturprozesse hineinverlagert werden, damit den Menschen ihr wirklicher Reichtum, nämlich freie Zeit und reiche zwischenmenschliche Beziehungen zugute kommt. Sehr ausführlich beschreibt Marx diese Vision nicht. Er erwähnt, daß die "kommunistische Revolution sich gegen die bisherige Art der Tätigkeit richtet, die Arbeit beseitigt und die Herrschaft aller Klassen mit den Klassen selbst aufhebt..." (MEW 3, S. 70) und nochmals wiederholend : "die Proletarier (müssen), um persönlich zur Geltung zu kommen, ihre eigne bisherige Existenzbedingung, die zugleich die der ganzen Gesellschaft ist, die Arbeit, aufheben." (MEW 3, S. 77). "Die Arbeit ist hier wieder die Hauptsache, die Macht über den Individuen , und solange diese existiert, solange muß das Privateigentum existieren." (MEW 3, S. 50).

An anderer Stelle taucht die Vorstellung auf, daß "die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden." (MEW 3, S. 33). Dies deutet darauf hin, daß er zwar durchaus noch arbeiten will, aber selbstbestimmt und nicht mehr 10 Stunden lang von der Notwendigkeit (z.B. zur effektiven Berufsausfüllung) bestimmt.

Diese Kombination von Befreiung der Menschen von Zwangs-Arbeit zur Verwandlung der verbleibenden Arbeit in selbstbestimmte ist meiner Meinung nach eine sinnvolle Lösung der Frage "Befreiung von oder in der Arbeit", durch die Antwort: Beides: Aufhebung der Zwangsarbeit und dadurch Befreiung in der Arbeit. Nur dann kann die (veränderte/ von Zwang befreite) Arbeit zum ersten Lebensbedürfnis werden (MEW 19, S. 21).

W. Pohrt betont, daß bereits der Zweck kapitalistischer Arbeit in der Abschaffung der Arbeit besteht (ebenda, S. 163). D. Dante hat mit Zahlen von 1988 nachgewiesen, daß wir mit dem gleichen Luxus und Lebensstandard wie 1989 nur 5 Stunden Arbeit pro Woche leisten brauchen.

Wenn ich mich erinnere, wie ungern ich zu der langweiligen Arbeit im "Unterrichtstag in der Produktion" gegangen bin, wie ich immer wieder eine Zukunft an Fließbändern jeder Art gescheut habe - so fühle ich mich mit diesem Hintergrund endlich nicht mehr ganz so "arbeitsscheu", sondern kann nachempfinden, was P.Lafargue schrieb: "
Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung gehende Arbeitssucht."

Literatur:

Ahrendt, H., Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1997
Bennholdt-Thomsen, V., Mies, M., Die Subsistenzperspektive. Eine Kuh für Hillary, München 1997
Dante, D., 5 - Stunden sind genug, Marne 1992
Pohrt, W., Theorie des Gebrauchswerts, Berlin 1995
Marx, K., Die deutsche Ideologie, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 3, Berlin 1990
Marx, K., Das Kapital I , in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 23, Berlin 1988
Marx (1875), Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, in: Karl Marx Friedrich, Engels Werke, Berlin 1962, Band 19 S. 15-32

Frithjof Bergmann:
Neue Arbeit, Neue Kultur
440 Seiten, geb., 24,80 Euro, Arbor-Verlag
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