Umfassende Bereiche:


Schelling und die selbstorganisierte Entwicklung

"Das Universum ist mir nicht mehr jener in sich selbst zurücklaufende Zirkel,
jenes Ungeheuer, das sich selbst verschlingt, um sich wieder zu gebären,
wie es schon war;
es ist vor meinem Blick vergeistigt und trägt das eigne Gepräge des Geistes:
stetes Fortschreiten zum Vollkommnern in einer geraden Linie,
die in die Unendlichkeit geht." (Fichte)

1. Die Aktualität Schellings

Schelling hatte mit den Naturforschern seiner Zeit eine enge Verbindung und inspirierte einige von ihnen mit seinen spekulativen Ideen. Die Hegelsche Philosophie dagegen fand unter Naturwissenschaftlern kaum Liebhaber. Nachdem auch Schellings Philosophie lange Zeit nur wenig rezipiert wurde, wurde er Anfang dieses Jahrhunderts wiederentdeckt. Im letzten Jahrzehnt nun gibt es eine neue Welle der Bezugnahme auf Schelling, weil seine Naturphilosophie geeignet erscheint, erstens die neuen Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Selbstorganisationskonzepte zu unterlegen und zweitens ein ökologischeres Verständnis des Verhältnisses der Menschen zur Natur zu begründen als z.B. Hegel. Andere Wissenschaftler hingegen warnen vor einer "unkritischen Übernahme Schellingscher Gedanken" infolge "eines bodenlosen Spiels mit Begriffen und Analogien" (Küppers 1992, S. 118).

Nun, ob Übernahmen unkritisch erfolgen, muß man im Einzelnen sehen. Ich habe das nirgends gefunden. Aber ein interessantes Hinterfragen von Standpunkten aus philosophischer Sicht allemal.

Es kommt überhaupt nicht darauf an, wie M.-L.Heuser betont, die alte Naturphilosophie nur als historischen Vorläufer moderner Konzepte zu betrachten, sondern an die spekulative Naturphilosophie anzuknüpfen und sie auf Grundlage gegenwärtiger naturwissenschaftlicher Ergebnisse weiterzuentwickeln (Heuser 1990, S. 40).

Ich selbst werde beim Evolutions-Thema auch eher davor warnen, allzuviel aus Schelling herauszulesen, weil er m.E. doch letztlich ein recht statisches Weltbild hat und die "Logik" der Evolution - die Dialektik - besser bei Hegel erfaßt ist. Das trübt aber nicht meine Verwunderung, wie weitsichtig und konzeptionell tiefgründig seine sich weit im Vorfeld der Wissenschaft vorantastenden Welt-Anschauungen angelegt sind.

2. Schellings An-Sichten

Schellings Ansichten zur Entwicklung sind nicht ganz eindeutig formuliert, ändern sich im Laufe der Zeit mitunter wesentlich und erfordern die jeweils genaue Beachtung der Blickrichtung, aus der etwas betrachtet wird.

Zusammenfassend soll gleich auf Folgendes aufmerksam gemacht werden:

Schellings Philosophie ist eine Identitätsphilosophie. Primär ist das Un-Bedingte in seiner Identität als Subjekt-Objekt. Die nur gedachte Trennung von Unendlichem und Endlichem, von Subjektivem und Objektivem enthält auch eine nur gedachte Trennung von (unendlicher, außerzeitlicher) natura naturans und (endlicher, zeitlicher) natura naturata. Die natura naturans kann sich nur realisieren in einer unendlichen zeitlichen Folge in Form endlicher Produkte - die Produkte der natura naturata enthält in sich immer die natura naturans als ihre Seele in (nur quantitativ) verschiedener Potenzierung.

Metaphysisch sind diese Naturen Eine. Nur im Denken werden sie getrennt. Daraus ergeben sich für das Entwicklungsdenken zwei Tendenzen:

1. Für die natura naturans (und ihr Ausdruck/Affirmation in den Produkten der natura naturata) ergeben sich Aussagen über die Entwicklung, die in weiten Strecken sehr weitgehende Vor-ahnungen moderner Selbst-Organisationskonzepte sein können. Auf dieser Ebene ist die Quelle der Autonomie von Natur und Mensch in einer gemeinsamen ursprünglichen Tätigkeit zu suchen. Hier ist Schelling einer der ersten Forscher, die verstehen, daß Natur nur als sich entwickelnde Natur richtig zu verstehen ist. In der Bestimmung der Veränderung und des Wandels als Realisierungserfordernis des Einheitlichen in der Mannigfaltigkeit geht er auch über Spinozas Substanzdenken hinaus.

2. In der Gesamtbilanz jedoch überwiegt die Ansicht, daß die natura naturans als Ganze sich nicht entwickelt, sondern außer aller Zeit besteht und alle Möglichkeiten verwirklicht enthält. Nur in der natura naturata gibt es Wandlungsprozesse, die jedoch in der Anschauung des Absoluten "nichtig" sind.

Entwicklung im Bereich des zeitlichen Existenz ist also nach Schelling kein wesentliches philosophisches Thema. (Für den Naturphilosophen müsse die Natur ein Unbedingtes sein. "Dieß aber ist nicht möglich, wenn wir von dem objektiven Seyn in der Natur ausgehen." (1799a).) Nur insofern das zeitlich Existierende mit dem absoluten Wesen verbunden ist, findet es sein "wahres Seyn", nicht in einer offenen Evolution. Das interessierende Ganze "bleibt bei dem Wechsel des einzelnen... sich stets gleich".

Diese grundlegende Bestimmungen von Ruhe im Unendlichen und Wandel im Endlichen ist der stabile Hintergrund im Schellingschen Denken. Im Konkreten betont er in verschiedenen Epochen unterschiedliche Aspekte. Erst dachte ich, daß er seine Meinung selbst so oft geändert hätte. Aber bei Beachtung seiner grundlegenden Systematik (Identität, aber auch Unterschied von natura naturans und natura naturata) ist die jeweils unterschiedliche Akzentuierung bei beibehaltenem Grundkonzept deutlich zu erkennen.

Bereits in seinen ersten Schriften (1795/96) betont er, daß es Entwicklung nur für Produkte und Dinge gibt, die Scheinprodukte in der Schwebe zwischen unendlicher Produktivität und deren Hemmung sind. Für den Menschen besteht noch die Aufgabe, das, was ihm möglich ist, wirklich zu machen. Aber dieses steht nicht im Unbestimmten, Offenen, sondern ist bereits "außer aller Zeit" in seinem Wesen festgelegt.

Ausdrücklich betont Schelling, daß es nur einen Schein der Naturgeschichte und einen Schein der Freiheit gebe. Er unterscheidet dann noch zwischen den tierischen Organismen und den Menschen sowie jeweils zwischen Individuum und Gattung.

Den Tieren als Individuum kommt kein Progreß zu, weil sie eingeschlossen sind in einen Zirkel von Handlungen, über den sie nie hinaustreten.

Der Mensch als Individuum dagegen kann noch selbst Geschichte machen.

"Dem Menschen aber ist seine Geschichte nicht vorgezeichnet, er kann und soll seine Geschichte sich selbst machen" (Schelling 1796/1797).

Eine Geschichte der Tiergattungen ist in verschiedener Weise denkbar:

a) Alle einzelnen Organisationen bezeichnen nur verschiedene Stufen der Entwicklung einer und derselben Organisation.

b) Der jetzige Zustand der organischen Natur ist von dem ursprünglichen höchst verschieden.

Im zweiten Falle wäre, wie Schelling bereits erkannte, die Menge scheinbar verschiedener Arten auf Abartungen derselben Gattung zurückführbar.

Schelling entschied sich hier für keine der Varianten, hob aber hervor, daß in beiden Fällen eine Geschichte nur für Gattungen angenommen werden kann, weil nur dann die Einheit (Congruenz mit einem Ideal) in der Vielheit (Abweichungen im Einzelnen) gesichert ist.

Geschichte ist überhaupt nur für Wesen, die den Charakter einer Gattung ausdrücken, möglich. In diesem Sinne hat das Menschengeschlecht als "Ein Ganzes" Geschichte (Schelling 1796/1797). Diese Gattungsgeschichte hat jedoch ein Ideal vor sich, wobei durch den Gattungscharakter bei allen Abweichungen im Individuellen die Congruenz der Gattung mit diesem Ideal gesichert ist.

1798 betont er wieder die ursprüngliche Bewegtheit, die Produktivität der Natur (als natura naturans). Diese Produktivität ist aber "nicht in der Zeit", sondern "das Seyn selbst". Natur als zeitliche Evolution entsteht nur, wenn es als Objekt genommen wird - was aber nicht im Interesse Schellingscher Philosophie steht. Die Konstruktion der Natur, die er 1800 beschreibt, ist gerade nicht die historische Evolution, sondern eine Konstruktion im Denken. Zeit entsteht dabei, damit das Selbstgefühl sich selbst zum Objekt werden kann.

Wir können nicht wissen (sonst würden wir es zum Objekt machen, was laut Definition mit dem Absoluten nicht geschehen darf), sondern nur glauben (anschauen), daß das Objektive (Gesetzmäßige) und das Bestimmende (Freie) durch eine höhere absolute Identität zusammenpaßt. Diese Voraussetzung der Identität von Freiheit und Gesetzmäßigkeit aber führt zum Begriff des Ideals als deren Einheit. Dieses Ideal steht dann aller Geschichte voran.

Um seine vorausgesetzte Identität in der Philosophie verwirklichen zu können, kann Schelling nichts offen lassen, auch nicht für kreative Prozesse der Erzeugung von Neuem. Alles ist bereits im Ideal vorhanden. Alles Mögliche ist bevorratet im außerzeitlichen Absoluten, nichts wird neu möglich.

Mit dem Wissen dieses schelling´schen Grundsatzes ist es auch nicht mehr mißzuverstehen wenn er sagt: "Dieses Wiederentstehen und Wiederaufheben des Gegensatzes in jedem Moment muß der letzte Grund aller Bewegung sein." Es sind keine neuen Gegensätze, die entstehen und die Bewegung voranbringen. Es ist nur immer wieder der ursprüngliche Gegensatz selbst, der nie vollständig synthetisiert, immer wieder nur momentan aufgehoben wird.

Für die geschichtliche Entwicklung der Menschheit sagt er zwar einerseits, daß der Mensch gerade deswegen Geschichte habe "weil, was er tun wird, sich nach keiner Theorie zum voraus berechnen läßt". Aber die "Geschichte als Ganze ist eine fortgehende, allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten" über verschiedene Perioden hinweg (Zerstörung von Großem und Herrlichem - was er 1804 noch stärker betont - und darauffolgende Entwicklung der Vorsehung).

Noch deutlicher wird er 1801, wo er eindeutig sagt: Entstehung in der Zeit gibt es nicht. Die Stufenleiter des Seins gibt es von jeher. Die Potenzen sind absolut gleichzeitig. "Die Erscheinungswelt ist daher nichts anderes als das Phänomen, die successive Erscheinung dessen, was an den Dingen nicht ist, was durch die Idee der vollendeten Welt vernichtet ist, oder sie ist die successive Entwicklung jener in Gott ewigen Vollendung der Dinge, indem ja die Zeit, in der alle Erscheinung ist, nichts anderes ist als eben die Erscheinung des Vernichtetwerdens alles dessen, was nicht an sich ewig ist, was in der vollendeten Idee der Welt nicht begriffen ist, nicht zur Idee Gottes gehört."

1806 ist es nicht mehr zu überhören: Das Zeitleben ist nichtiges Leben. "Eine Zeit und Zeiten, als solche, magst du wohl denken <d.h. natura naturata getrennt von natura naturans>; sehen, wenn du siehst <anschauen>, nur die eine, immer ruhende Ewigkeit." <Ergänzungen von mir, A.S.>

Gott, wie er das Absolute nun auch nennt, ist eine ewige Schöpfung ohne Handlung und Bewegung, als stetes ruhiges Wetterleuchten aus unendlicher Fülle.

Dieses Bild nimmt er 1809 wieder auf, als er Gottes Grund als ein "wogend wallend Meer" von Gott selbst unterscheidet, um sich vom Pantheismus-Vorwurf zu befreien.

Die stufenweise Entfaltung, mit der sich der dunkle Grund Gottes lichtet, macht das Wunder seines Wesens offenbar. Schelling deutet hier eine auch für ihn neuartige Dynamik an. Er deutet das Sein jetzt als Aufstieg, in dem der Geist der Liebe Gelegenheit hat, im nicht entschiedenen Kampf von Licht und Finsternis einzugreifen. Die Finsternis und das Böse sind als Grund notwendig, damit aus ihm das Gute sich durch eigne Kraft herausbilden kann. Wenn in der Zukunft alles als Gewordenes zurückkehrt in Gott, so war das kein Kreislauf, sondern indem die Früchte verschiedener Zeiten in Einer Zeit zusammenleben werden, ist die neue Einheit in Gott eine aus Mannigfaltigkeiten gebildete.

Dieses Modell in seiner ganzen Kompliziertheit kann betrachtet werden unter der verständlicheren Dialektikinterpretation von Ken Wilber: Ursprünglich bestand die Einheit in einer ungetrennten "Fusion". Diese Fusion zerbrach, Differenzierungen entstanden. Diese sind notwendig, damit eine erneute Einheit als Integration der differenzierten Teile entstehen kann. Auch diese Einheit ist dann wiederum (bei Wilber!) Ausgangspunkt einer erneuten Differenzierung...

Denkansätze zu einer solchen iterierten Dialektik sind auch bei Schelling in der Selbstobjektivierung der jeweiligen Subjekte enthalten, wobei tendenziell das Subjekt über das Objekt siegt.

Um Genaueres über die späteren Meinungen Schellings zu sagen, hat er zu wenig systematisch aufschreiben können.

3. Selbstorganisation und notwendige Ergänzungen aus der Sicht der Entwicklungstheorie

Das Autopoiesis-Konzept betont, daß alle Dinge sich in Prozessen verwirklichen, wobei das Ganze des Systems durch eine Wechselwirkung der Teile ständig neu reproduziert wird und die Teile selbst nur existieren als Teile dieses Ganzen.

Das Konzept der Selbstorganisation nach Prigogine geht weiter und fragt nach der Entstehung strukturierter Gebilde.

Daß diese strukturierten Gebilde nach einem Selbstorganisationssprung i.a. eine neue Stufe kollektiver Ordnung darstellen, betont die Synergetik nach H.Haken.

Alle drei Konzepte stellen Modelle bereit, Naturzusammenhänge mit wissenschaftlichen Methoden darzustellen, die Schelling vor 200 Jahren spekulativ voraussagte.

Alle drei Konzepte entsprangen dem Bestreben, die Einheit in der Natur nachzuweisen. Sie versprechen, universelle Aussagen machen zu können. Angesichts der vorherrschenden zersplitterten Weltsicht versprechen sie die aufkommende Sehnsucht nach neuen Ganzheiten erfüllen zu können.

Reicht jeweils ein Konzept oder diese naturwissenschaftlich fundierten Konzepte gemeinsam aus, um eine ganzheitliche Sicht auf das Universum und das Werden in ihm zu begründen?

Das Autopoiesis-Konzept entspricht dem Schellingschen Konzept des Primats des Werdens vor dem ruhenden Sein, es vermag aber nichts über die Entstehung von strukturierten Prozessen/Dingen auszusagen.

Das Selbstorganisationskonzept macht Aussagen über die Entstehung von Strukturen, geht jedoch implizit von einem Primat des ruhenden Gleichgewichtszustandes aus und weiß nichts über die entstehenden neuen Zustände.

Die Hakensche Synergetik bildet die Kollektivität der entstehenden Zustände mathematisch quantitativ ab; Aussagen über vermutete qualitative Zusammenhänge (Zweckmäßigkeitserwägungen) müssen zusätzlich hineingebracht werden.

Die folgende Tabelle deutet - sehr verkürzt - einige Unterschiede in den Konzepten an, wobei sie schellingsches Denken und eine allgemeine Entwicklungstheorie mit einbezieht.

Autopoiesis Selbstorganisation Synergetik Schelling Entwicklungs-
theorie
wie funktioniert es? wie entsteht es? Wie geschieht Entscheidung? (Möglichkeitsfelder austesten - Zweckmäßigkeit) genetisch -historische Komponente in der Naturwissenschaft Logisches-Historisches...
stoffliche Materie vorausgesetzt Wie entsteht Objektivität? Konkrete Wechselwirkungs-
Situation (Wahrheit ist konkret)
systemimmanent,

deterministische Rückkopplung

innovativ-emergent,

im Bifurkationspunkt nicht deterministisch berechenbar

deterministische Berechnung der Möglichkeiten - indeterm. "Entscheidung" im Absoluten ist alles Mögliche wirklich , d.h. notwendig Dial. Determinismus...im statist. Gesetzesbegriff
Prozeß als Werden ist primär Gleichgewicht ist "Normalzustand", Nicht-Gleichgewicht nur im Bif.-punkt gekoppelte Diff.-gleichungen, keine Evolutionsglei-chungen Werden ist primär

(in natura naturans, nicht in n. naturata!)

Dialektik von Prozeß und Entwicklung
nur Driften Zufall als Bewegungsursache

(Freiheit im Zufall)

Selektion entsprechend Zweckmäßigkeit (zusätzlich betrachtet) Zweckmäßigkeit

(Freiheit als produktive Freiheit)

Dial. Freiheit-Notwendigkeit und Zufall/Mgl.-Notw.
Keine Aussagen über neue Zustände beschreibt Kooperativität , aber nicht Produktion neuer Moden höhere Potenzen

(ohne qual. Wesensunterschiede)

Höherentwicklung durch Ko-Evolution
Jeweils nur Elemente der Entwicklungszyklen Universalität als historischer Prozeß (in n.naturata) Folge von Prozessen (ko-evolutiv,deshalb irreversibel)
Fließgleichgewicht Ungleichgewicht im Bifurkationspunkt Entstehung verschiedener "Moden" im/nach Bif.-punkt ursprünglicher Gegensatz nie vollständig synthetisiert immer neue Widersprüche/
Möglichkeiten entstehen
jeweils nur ein Schritt der Prozeßfolge
betrachtet
Kontinuität der Potenzierung Wechselw. der Ebenen, Verschachtelung...

Ko-Evolution

(unter Verwendung von Heuser-Keßler 1986)

Beachtenswerte Hinweise von Schelling sind:

  • Das Werden ist primär (Prozeßdenken), wobei auch er auch Gleichgewichts-Denken zeigt: Natur ist nur thätig um des Zwangs durch Trennung loszuwerden (1799b). Das ist aber kein Irrtum oder unlösbarer Widerspruch, sondern Ausdruck der Dialektik von Einheit und Differenzierung/Gegensätzlichkeit: "Wo kein Streben zur Einheit ist, ist auch kein Gegensatz" (1799b).
  • Einheit der Welt wird in der Entwicklung realisiert (Einheit in sich entwickelnder Materie).
  • Bei der Entscheidung spielt die Zweckmäßigkeit eine Rolle.
  • Es ist notwendig, selbst in Selbstorganisation begriffen zu sein, um die Selbstorganisation zu begreifen (Praxis!).
  • Für die menschliche Selbstorganisation ist typisch die Autonomie der Zielwahl- und Zielstellung, die Möglichkeit der Selbstveränderung (Anthropologie...).
  • Die Menschheit ist autonom (als Teil und Erweiterung von) autonomer Umgebungs-Natur! (nicht Unterdrückung der Autonomie für falsche Einheit mit scheinbarer Kreislauf-Natur) .

Nicht enthalten im schellingschen Denken sind wesentliche Aspekte der Selbstorganisation wie:

  • Selbstorganisation als realer Naturprozeß nicht nur Eigenschaft des (metaphysischen) Absoluten,
  • die Entstehung jeweils gegenwirkender Tendenzen,
  • die Historizität von Möglichkeitsfeldern,
  • die Diskontinuität der Qualitätsänderung und
  • die Wesensunterschiede zwischen den prozessierenden Zuständen vor und nach dem Qualitätssprung im "Bifurkationspunkt".

Für eine philosophische Entwicklungstheorie ist also erstens über Schelling hinauszugehen und zweitens auch über die allgemeintheoretische Selbstorganisation hinauszudenken.

Das Zweite zuerst: Nicht alle Aspekte der Entwicklung sollten in die Selbstorganisationskonzepte hineingepreßt werden. Diese beziehen sich richtigerweise auf je unterschiedliche Einzelaspekte des ganzheitlichen Entwicklungsprozesses und sollten ihre inhaltliche Tiefe nicht durch Vermengung verlieren. Allerdings sollten sie in diesem Rahmen ihre Eigentümlichkeiten ausarbeiten und sich nicht in einer Verabsolutierung ihres Anwendungsbereiches verlieren.

Daß Schelling nicht alles vorausdenken konnte, sollte auch nicht ihm angelastet werden. Heute können wir mehr wissen über die Entwicklung und Selbstorganisation in der Natur.

Gerade weil es sogar Selbstorganisationprozesse in der realen Natur gibt, können wir meiner Meinung nach auf die metaphysische Begründung der Autonomiefähigkeit der Natur verzichten. Wir beobachten in der Natur Entwicklung (und Selbstorganisation als ihr Teilprozeß), weil sich die Natur entwickelt und wir mit und in ihr uns ebenfalls.

Natura naturans ist uns nicht nur eine außerzeitliche absolute Substanz, sondern alles, was es in uns und außerhalb von uns gibt ("Materie" in dieser Form definiert).

Manche Fragestellungen von Schelling sind in diesem Sinne zurückgenommen, negiert, in dem sie aufgehoben (aufbewahrt und verneint) wurden.

Im Speziellen sehe ich weitere Unterschiede zu Schelling:

Bei Schelling gibt es nur unterschiedliche Naturpotenzen gleichen Wesens, die gleichzeitig existieren und lediglich Veränderungen im Verhältnis der Grundkräfte darstellen. Dialektik ist deshalb nur ein unendliches Neuaufheben des gleichen ursprünglichen Gegensatzes von unendlicher Produktivität und ihrer Hemmung (es gibt keine qualitativen Stufen mit Wesensunterschieden) . Tatsächlich jedoch sind Strukturniveaus unterschiedlicher Wesensmerkmale zu unterscheiden.

Es gibt Zufall, weil nicht alle Prozesse auf der gleichen Ebene wechselwirken, sondern es voneinander unterschiedene wesentliche Zusammenhänge (Gesetze) gibt, die in voneinander unterschiedenen Bereichen existieren.

Möglichkeiten entstehen und vergehen, so wie Gegensätze und Widersprüche sich aufheben aber auch völlig neu entstehen können.
An dieser Stelle ergibt sich eine Bevorzugung hegelscher Dialektik (Folge von Negationen der Negationen...) gegenüber der schellingschen.
(Der Begriff "Produktivität" ist bei Schelling richtig, denn dabei wird nur etwas Vorgegebenes produziert, nichts Neues kreiert!)

Trotzdem ist auch der "reine" Hegel noch nicht die ganze Wahrheit. Bei ihm sind die Negationen nur negativ bestimmt (Bestimmung durch das "ist (noch) nicht..."), weil das absolute Ziel bereits vorausgesetzt ist. Es gibt hier keinen Raum für wirkliche Kreativität und Neues außerhalb des "Plans der Vernunft".

Zwei Punkte mächte ich noch erwähnen, bei denen ein Weiterdenken unbedingt interessant ist:

a) der Gesetzesbegriff/Determinismus: Hier ist eine genauere Unterscheidung von Zufall (Limitierungsaufhebung) und (konstruktiver) Freiheit bei der Begründung der Möglichkeiten sinnvoll. Der Zufall (Stochastik und Statistik) ist notwendig, aber nicht hinreichend für die Erklärung der Entwicklung/ des Neuen.

b) M.-L. Heuser erwähnt den Begriff der konstruktiven Produktion nach Schelling anstelle der Entropieproduktion nach Prigogine (aus Anlaß der Wärmetodfrage).

Inwiefern kann das wirklich weiterhelfen? (Auch Schelling braucht eine "eigenthümliche Sphäre" für die äußeren Kräfte, die die Produktivität notwendigerweise unterbrechen (1799b, S. 373)).




Literatur:

Heuser-Keßler, Marie-Luise: Die Produktivität der Natur, Berlin 1986
Heuser, Marie-Luise: Wissenschaft und Metaphysik, S. 39-67 in: Krohn W./Küppers G. (Hrsg.): Selbstorganisation, Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig 1990
Küppers, B.-O.: Natur als Organismus, Frankfurt a.M. 1992
Prigogine, I.: vom Sein zum Werden, München/Zürich 1988
Schelling: Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre 1796/97
Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799a)
Schelling: Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799b)
Schelling: Aus: Darlegung meines Systems der Philosophie (1801)
Schelling: System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804)
Schelling: Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (1806)
(alles in: F.W.J.Schelling: Ausgewählte Schriften, Band 1 bis 3)
Schelling: System des transzendentalen Idealismus (1800), in: .... Leipzig 1979
Schelling: Über das Wesen menschlicher Freiheit, Stuttgart 1995

9.9.96

siehe auch:




[Homepage] [Gliederung]

Stübchen Gliederung

- Diese Seite ist Bestandteil von "Annettes Philosophenstübchen" © 1996/98 - http://www.thur.de/philo/as224.htm -