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Natur als Wert?

Innerhalb der vorliegenden historischen Form der Vergesellschaftung über abstrakte Werte kommt es zu weiteren Fragestellungen in Bezug auf unser Verhältnis zur Natur. Es gibt keine übernatürlichen produktiven Kräfte. Auch die menschliche Arbeit organisiert, regelt und steuert die produktiven Kräfte der Natur lediglich im Interesse der Menschen nach ihren Zwecken und unter Zuhilfenahme ihres Wissens (Abb. 3.2). Ohne die natürlichen Grundlagen ist keine Produktion möglich. Im Sinne der Produktionsfaktorentheorie geht auch die Natur in das Produkt ein.

Abbildung 3.2: äußere Natur und Gesellschaft - vermittelt durch die Arbeit

In der marxistischen Werttheorie gibt es nun eine grundlegende Debatte (Immler und Schmied-Kowarzik 1988). Natur und menschliche Arbeit bilden nach Marx die Grundlage für den Reichtum einer Gesellschaft. Wertbildend im Sinne der politökonomischen Theorie ist dagegen nur die abstrakte gesellschaftliche Arbeit.

Dies wird dem Marxismus von Vertreterinnen und Vertretern der Ökologie, des Ökofeminismus (vgl. Werlhof 1991) und auch von H.Immler vorgeworfen. Der Marxismus sei auf dem ökologischen Auge sehschwach oder stehe wie ein Storch nur auf einem Bein.

Um der Natur wenigstens eine Gleichberechtigung gegenüber dem Faktor Arbeit zu verschaffen, bietet es sich an, die Natur ebenso wie die Arbeit als wertbildend anzusehen (Immler 1988, S. 27). Immler erwähnt, daß auch eigentumsfähige, gebrauchwertbildende Naturprodukte Tauschwert begründen (ebenda, S. 25). Allerdings ist zumindest die Aneignung zur Eigentumsbildung gesellschaftlich vermittelt.

 

Abbildung 3.3: Gebrauchs- und Tauschwerte
(zu "Produktivkraft Natur" siehe Ergänzung!)

Bereits Ricardo betrachtete den Übergang von den vielen unterschiedlichen Arbeiten zur abstrakten gesellschaftlichen Arbeit (Arbeitswerttheorie).

Marx fügte die Erkenntnis vom Doppelcharakter jeder Ware als Gebrauchs- und Tauschwert hinzu.

Während kein Ding ohne Gebrauchswert zum Tauschwert werden kann, und diesem durchaus Arbeit und Natur zugrunde liegen, ist die Bedeutung von Arbeit und Natur im Tauschwert ununterscheidbar geworden.

 

Nicht jede Herstellung von Gegenständen ist Warenproduktion und nicht jeder Tausch bildet einen Warenwert. Wesentlich ist - für den marxschen Sprachgebrauch - die Beziehung auf "voneinander unabhängig betriebene Privatarbeiten" (Marx 1867, S. 87). Die Abstraktion erfolgt also nicht auf dem Weg vom konkreten Gebrauchsgegenstand zum "abstrakten" Tauschwert, sondern die Arbeit, die selbst gleichgültig gegen ihre konkrete Form geworden ist, ist abstrakte gesellschaftliche Arbeit und bildet die Wertsubstanz. Es ist also nicht nur eine Verrechnung - sondern kennzeichnet die Form der Vergesellschaftung in einer konkret-historischen Situation der Menschheitsentwicklung.

Eine spezielle Rolle spielen die natürlichen Grundlagen der Natur in der Ökonomie bei der sog. "Grundrente", bei der monopolisierte Naturkräfte ihren Eigentümern - vermittelt über eine Steigerung der produktiven Kräfte ihrer Arbeitskräfte - einen Extraprofit, sie sog. "Differentialrente" bringen.

Schmied-Kowarzik betont, daß die asymmetrische Betrachtung von Arbeit und Natur bei Marx nicht dessen Wertschätzung im Allgemeinen ausdrückt, sondern die Asymmetrie der Behandlung durch das Kapital selbst nachzeichnet.

Der Wert ist letztlich eine gesellschaftliche Größe und abstrahiert vom Gebrauchswert (der lediglich vorhanden sein muß). Er wird ermittelt über eine Quantifizierung, die auf der durchschnittlichen gesellschaftlich verwendeten Arbeitszeit fußt (darauf weist in der Debatte berechtigt Kogge 1989, S. 113, hin). Insofern wirken Naturkräfte (in dieser Rechnung tatsächlich nur) als Erhöhung der Arbeitsproduktivität und deshalb wird auch die Natur in der abstrakten Arbeit mit verrechnet. Es ist nicht ein Fehler in der Rechnung, sondern die Art und Weise der Rechnung selbst zu kritisieren!

Während die Arbeit soweit reproduziert wird, wie sie zur Erzielung von Mehrwert notwendig ist - wird die Natur (äußere, sowie nicht bezahlte menschliche Arbeit) als kostenlose Voraussetzung angeeignet. Dies ist nicht reparierbar durch "gerechte Bezahlung" (Preise für Naturnutzung, Frauenarbeit als Lohnarbeit...), sondern ist prinzipiell mit der Wertvergesellschaftung verbunden und verweist auf weitergehende Konsequenzen als sie bei H.Immler mit einem "Hineinnehmen" gefordert werden brauchen (Abschaffung der Wertvergesellschaftung statt lediglich anderer Verrechnung innerhalb dieser).

Nicht nur die Art und Weise der Verrechnung ist zu kritisieren, sondern die gesamte Praxisform in dieser Produktionsweise. Bei uns in Europa wichtige lebenspraktische Gefühl der Einheit der Menschen in der Natur ging uns europäischen Menschen schon seit vielen Generationen verloren. Deshalb ist die Trauer um den unmittelbar gegenwärtigen Verlust dieser Einheit bei vielen Natur-Völkern für uns kaum nachvollziehbar. In der sog. "Dritten Welt" sind diese Prozesse für den aufmerksamen Betrachter jedoch noch deutlich:

Für die Gemeinschaften in Indien z.B. lieferten die Wälder neben ihrer Funktion beim Wasserhaushalt, der Ökologie usw. fast 50% aller notwendigen Lebensmittel, Brennstoffe, Faserstoffe, Heilpflanzen usw. "Der Sinn- und Wertmaßstab ist von den in der Männer-Forstwirtschaft gebräuchlichen völlig verschieden." (Shiva 1989, S. 77) . Jahrhundertelang nutzte die indische Bevölkerung den Wald multifunktional, pflegte ihn durch Baumbeschnitt, gezielte (Misch-)Pflanzungen und entsprechende Hege. Für die britischen Kolonialisatoren waren die Wälder zuerst nur im Wege, weil nur Ackerbau Steuern einbrachte. Zusätzlich wurde Teakholz für das Militär gebraucht - also wurde abgeholzt. Als ab 1865 eine "wissenschaftliche Bewirtschaftung" begonnen wurde, erfolgte eine neue Etappe der Ausbeutung. Der Wald wurde nicht multifunktional, in Bezug zu den Interessen seiner Nutzer(innen) betrachtet. Nur die kommerziell verwertbare Biomasse wurde als "Ertrag" gesehen, der ökologisch und als Lebensgrundlage der Bevölkerung wichtige Rest war "Abfall".

Wie sehr dieses Problem nicht nur ein Konflikt zwischen Kapital und Lohn-Arbeit ist, sondern eine Geschlechtsspezifik beinhaltet, zeigt sich eindrucksvoll in Indien. Während die Frauen traditionell die Waldpflege als Quelle des Lebens verstehen, sind es die eigenen Männer, die sich als Baumfäller verdingen lassen. Für die Männer wird das Bäume-fällen zum "Broterwerb", während für die Frauen das "Brot" nur im lebenden Wald wachsen kann. Ganz konkret kam es oft vor, daß die Frauen in der Chipko-Bewegung in Indien sich schützend vor die Bäume stellten, die ihre eigenen Männer fällen wollten.

Derselbe Prozeß geschah mit dem sogenannten "Ödland". "Wild" bewachsene Landflächen waren zu 80% in Gemeinschaftsbesitz und garantierten - bei aller Ausbeutung durch die feudalen Herren - die Grundernährung der Bevölkerung. Das Programm der "Entwicklung des Ödlandes" verödet ökologische Vielfalt, laugt Böden aus und nimmt ihnen ihre wasserspeichernde Funktion. Gleichzeitig wird die Gemeinschaft zugunsten neuer Eigentümer enteignet. Nur 10% der vorher "Landlosen" bekommt das Land zugesprochen, die restlichen 90% der Menschen werden plötzlich "überflüssig" und bilden eine Teil der von uns so gefürchteten "Überbevölkerung".

Die derzeit wieder als "Lösung der globalen Probleme" gepriesene "Biotechnologie" ist eine neue Etappe der In-Wert-Setzung des Lebendigen im Dienst der Kapitalakkumulation. Die "Biotechnologie" zerstört Errungenschaften aus 40 Jahrhunderten Pflanzenzucht in Indien (es gab 400 000 Reissorten, ans Klima und die Standortbedingungen angepaßt und trotzdem flexibel. Künstliche Hybride wachsen nur unter optimalen Bedingenen, die künstlich erzeugt werden müssen und die natürlichen Bedingungen zerstören!...).

"Aber wir benötigen gar keine Gentechnik, die Mais und Hirse stickstoffbindende Gene implantiert. Die Bauern und Frauen haben jahrhundertelang bereits die ökologischere Option angewandt und Mais im Gemenge mit stickstoffbindenden Bohnen und Hirse mit anderen Hülsenfrüchten angebaut."

Derselbe absichtliche Irrtum unterläuft der Gentechnik, die in Pflanzen eine "Schädlingsresistenz" einbauen will, obwohl die natürliche Schädlingsbekämpfung nie durch die einzelne Pflanze geschieht, sondern im Gesamtsystem der Ökologie gewährleistet ist.

Die sog. "Grüne Revolution" (die Einführung von gezüchteten Hybrid-Pflanzen zwecks Ertragssteigerung ohne Berücksichtigung der örtlichen Ökologie und Bedürfnisse) führte zu einer Entwertung ökologischer Produktionsweisen, zu einer Entwertung der Arbeit und des Wissens der Frauen. In Europa fand durch die Hexenverfolgung eine Zerstörung der diesbezüglichen Kulturen statt - heutzutage finden in Indien massenhafte Kinds- und Fötustötungen statt, um die "überflüssigen" Frauen zu beseitigen. Im Vergleich zur Population in Afrika fehlen in Indien 30 Millionen Frauen!

Auffällig ist auch, daß die Gebiete, in denen derartige "Entwicklungs-"programme vorwiegend stattfanden, heute diejenigen sind, in denen der soziale und politische Sprengstoff am größten ist (z.B. Punjab).

Die Ursachen dafür sind nun nicht nur Erkenntnis-Irrtümer einzelner blinder Wissenschaftler, sondern strukturell im herrschenden Weltwirtschaftssystem verankert.

Bei H.Immler erscheint die Natur als neues Subjekt im Hauptwiderspruch des Kapitalismus, das die Arbeit nur noch als einen ihrer Teile enthält. Die ökologische Krise zeigt eine Widerständigkeit der Natur gegenüber ihrer Ausbeutung an. Insgesamt können hier die Gegenkräfte gegen die kapitalistische Produktionsweise komplexer gefaßt werden als bei einer Reduktion auf die Arbeiterklasse - andererseits könnte hier (was bei H.Immler nicht gegeben ist) auch wieder "die Natur" - abstrakt und unhistorisch - zum Beherrscher menschlichen Lebens werden.

Schmied-Kowarzik dagegen nimmt es uns nicht ab, gerade aus der realen Asymmetrie der verschiedenen Ausbeutungsformen ("Bezahlung" der Lohnarbeit unentgeltliche Vernutzung anderer produktiver Kräfte wie außermenschlicher Natur, anderer menschlicher, besonders Frauenarbeit etc.) konkret eigene Handlungsorientierungen abzuleiten, die nicht von "der Natur" allein vorgegeben werden können.



Immler, H., Du antwortest richtig, aber Deine Frage war falsch, in: Immler, H., Schmied-Kowarzik, W., Natur und Marxistische Werttheorie. Dokumentation einer interdisziplinären Arbeitstagung Kassel 1986, Kasseler philosophische Schriften 23, 1988, S. 13-47
Marx (1867), Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, In: Karl Marx Friedrich Engels Werke, Berlin 1988, Band 23
Shiva Vandana: Das Geschlecht des Lebens, Berlin 1989
Schmied-Kowarzik, W., Auch richtige Fragen können zu falschen Antworten führen, in: Immler, H., Schmied-Kowarzik, W., Natur und Marxistische Werttheorie. Dokumentation einer interdisziplinären Arbeitstagung Kassel 1986, Kasseler philosophische Schriften 23, 1988, S. 47-64
Werlhof, v., C., Was haben die Hühner mit dem Dollar zu tun? Frauen und Ökonomie, München 1991

Aus dem Buchmanuskript "Daß nichts bleibt, wie es ist..." Band II, Kapitel 3.2.1 (von Annette Schlemm, Stand 14.1.1998)


Ergänzung 1999:
Es ist wichtig, zwischen zwei verschiedenen Produktivitätsbegriffen zu unterscheiden und jeweils klarzustellen, welchen man meint:
a) Weiterer Begriff: Produktivität als Schöpferkraft im Schellingschen Sinne
b) Engerer Begriff: Produktivität als Wertbildung im marxistischen Sinne.
Bisher wurde die Produktion bei der Kategorie "Produktionsweise" lediglich im engeren Sinne verwendet, was dem erreichten ökonomiedominierten Entwicklungsstand der Gesellschaft entspricht.

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