Schreibtagebuch 2. Buch - die ersten Wochen

26.12.1996 Gehren

Hermann hat sich eben Tanja fur einen Abend-Weihnachtsspaziergang geschnappt, damit ich eine Weile in Ruhe arbeiten kann. Aber wie soll ich arbeiten mit dem Chaos und der Leere im Kopf? Wir sind für vier Tage hier bei den Schwiegereltern in Gehren. Ich kann mir die Hausarbeit sparen, aber wir sitzen zu dritt in einem Zimmer und ich kann mich natürlich nicht konzentrieren und in Stimmung bringen. Jetzt haben sie mir ein Extrazimmer oben abgeboten, das müßten sie aber extra heizen und da ich weiß, sie sie damit sparen, geht das natürlich nicht. Also muß ich die von Hermann verschaffte Zeit jetzt ausnutzen.
Aber wie kann ich sie nutzen? Eine geschenkte halbe Stunde - was bringt sie angesichts des Chaos, der Fülle und der Leere? Wenn man einfach nur etwas abzuarbeiten hätte, würde das gut funktionieren. Aber ich brauche die Gelegenheit, einen Überblick zu bekommen, die Zusammenhänge noch mal voll zu durchdringen, um die beste Darstellungsweise mit der Gliederung vorzubereiten. Seit Februar habe ich schon eine 10-Kapitel-Planung. Durch die Schelling-Studien und das Internet-Projekt komme ich erst wieder dazu.

In das jetzt zu beginnende Buch muß eigentlich ALLES rein, was ich weiß und fühle. Es soll wissenschaftlich korrekt sein (auf höchstmöglichem Niveau), es soll aber für jede/n verständlich bleiben. Dabei will ich keine Einführung in den Urschleim (Marxismus) geben müssen (wie ich ja in der Kosmologie die Relativitätstheorie auch nicht erklärt habe).
Politisch soll es nicht allzu polemisch-ausgrenzend werden, klare Konturen bekommen, aber die dialektische Synthese aller sinnvollen Ansätze ermöglichen. Wieder mal bin ich zwischen allen Stühlen, diesmal kann ich aber dem "Farbe bekennen" oft kaum ausweichen.

Methodisch will ich dem Zeitpfeil nicht weiter folgen. Bei diesem gesellschaftstheoretischen Thema ist die Wahl der benutzten wissenschaftlichen Ansätze nicht mehr beliebig, sondern selbst gesellschaftsparteilich bestimmt. Hier funktioniert es mir der im naturwissenschaftlichen Teil oft verwendeten Komplementarität sehr viel schlechter. Feministische Theorien der Menschwerdung lassen sich nicht einfach kombinieren mit den offiziell vorherrschenden. Außerdem fehlt mir an dieser Stelle wirklich die Fachkompetenz. Die Auswahl der archäologischen Interpretationen ist allein schon parteilich bestimmt - und ein Gesamtüberblick würde den Rahmen der Arbeit sprengen, so viel Fleiß will ich auch nicht dafür aufbringen.

Außerdem wird mir die Zeitabfolge als Gliederung auch langsam langweilig. Ich will mal etwas anderes ausprobieren. Bloß was? Das müßte jetzt endgültig geklärt werden, bevor es dann an die Kleinarbeit geht.
Durch das Internet konnte ich die faszinierende Welt des Hypertextes ausprobieren. Es klappr auch wunderbar, meine Assoziationen im WWW umzusetzen. Ich brauche hier nicht mehr die komplexen Zusammenhänge künstlich zu linearisieren.
... Jetzt ningelt Tanja, weil sie keine Purzelbäume mehr auf dem Bett machen darf... es strampelt und wütet aus dem Bett hinter mir...
Irgendeine Idee, die ich grad aufschreiben wollte, ist weg

Die Vieldimensionalität des gesellschaftlichen Problembereichts ermöglicht viele "Schnitte" auf weniger Dimensionen.
Eine Differenzierung verschiedener Ebenen fällt mir jetzt beim Schreiben ein:

  • Bereich gesellschaftlicher Praxis (wiederum differenzhiert in: Geschichte, Politik, Kultur, Ökonomie, Psychologie)
  • Selbstorganisationskonzept.
  • Philosophie (als Dialektik, Entwicklungsgesetzmäßigkeiten...)
  • Philosophie als Reflexion der Reflexion (gesellschaftlich, für Gruppen, individuell -d.h. auch für mich als Schreiberin)

(Ich habe dazu ein Bild gemacht mit Wirklichkeitsbereichen und entsprechenden Projektionen, das ist vielleicht sogar gut im Buch zu verwenden)

Man kann das jetzt beliebig vereinfachen, indem man immer nur zwei oder mehr Komponenten miteinander verbindet. Und man kann andere Konzepte kritisieren, indem man die von ihnen nichtverarbeiteten Aspekte ergänzt - womit man sie auch sinnvoll integrieren kann. Hm, gefällt mir schon ganz gut.

Insofern hat sich die Verlegenheitslösung, jetzt einfach so ein Schreibe-Tagebuch zu beginnen, schon gelohnt. Ich kann einfach im Moment nicht anders an den Stapel fliegender Blätter, der vor mir liegt und nur ein Bruchteil des zu verarbeitenden Materials ist, herangehen.

Wichtig ist mir ja vor allem auch, daß ich offenbare, warum gerade ich zu welchen Gedanken komme. Aber es soll auch herauskommen, daß sie allgemeine Gesetzmäßigkeiten widerspiegeln, nicht willkürlich sind. Menschliches Bewußtsein aus durch-schauendes und vor-sehendes an meinem kleinen Beispiel.

Vielleicht sollte ich auch akzeptieren, daß ich eben nicht ALLES in 300 Seiten schlüssig verbinden kann. Ich nehme mir vor, einige kleinere Nebenarbeiten weiter ins Internet zu stellen; mir schwebt auch immer deutlicher vor, bestimmte Sachen noch mal als Extrabuch zu machen! (die mit dem "Ich"...).

So, reicht das für den ersten Abend?

Inzwischen lesen hinter mir alle ruhig und ich könnte weitermachen. Mir ist bloß nicht so danach. Ich sehe die 10 vorbereiteten Gliederungspunkte und beginne wieder zu "schwimmen". Ich muß erst mal das wieder "auf die Reihe bekommen", was ich im Februar schon mal an Komplexität eingefangen hatte. So viel wird sich seitdem schon nicht verändert haben...

Morgen durchforste ich den ersten Teil der vorbereiteten Stichpunkte und untersetze das oben genannte Übersicht-Bild in kleinere Details. Dann müssen mir geeignete Methoden einfallen, die Komplexität bei dem Schreiben nicht zerrinnen zu lassen in einen eindimensioneln Faden ("Gliederung").

Überhaupt. Ich muß mir noch mal den Zusammenhang von eindimensionaler Logik der Gliederungen (aus 1. folgt 2., als 2. folgt 3....) und den von mir favorisierten Netzwerken überlegen. Ich bin ja nicht ganz gegen schlüssiges Argumentieren. Nur geht das nicht, wenn (das hab ich in der Mailinglist Philosophie gelernt!) verschiedene Werte eine Rolle spielen. Dann entstehen die nichtklassischen Logiken und von denen weiß ich nicht viel! Ich werde Stefan M. (über eMail) danach fragen, vielleicht kann er es kurz und verständlich erklären.

27.12.96 Gehren

Heute habe ich doch tatsächlich schon ein Kapitel fürs Buch geschrieben. Ich wollte nur alle Ideen für alle Kapitel nacheinander aufschreiben, da habe ich gleich beim ersten Textkapitel angefangen, loszuformulieren.
Tanja langweilt sich neben mir ein wenig, aber sie muß es wohl lernen, sich selbst zu beschäftigen. Heute nachmittag gehen wir wieder zusammen Schlittschuhlaufen. Nachdem ich gestern Rückwärtsfahren und das Vorwärts-Übersetzen in der jeweils zweiten Richtung und den Wechsel der Richtungen sowie einen beidfüßigen Sprung um 180 Grad gelernt habe, will ich mich heute noch auf einem Fuß umdrehen lernen...

Es wird wirklich Zeit, daß ich geistig voll in das Buch reinkomme. Noch erledige ich das mehr wie eine abzuarbeitende Arbeit. Es ist noch kein richtiger Schwung drin. Dadurch bekomme ich die verschiedenen Gestaltungsideen auch nicht in einen "runden" Zusammenhang:

  • "Blockschaltbild" als Gliederung konsequent durchziehen;
  • Dialektik: a) Fusion - Differenzierung - Integration
  • b) konkret-geistige Widerspiegelung in Inhalten auch in Form kenntlich machen;
  • Mischung: Analyse, Reflexion...
  • neue Evolutionsprinzipien herausbekommen!
  • Erklärungen diesmal in Fußnoten (ev. mit URL)...

abends:

Inzwischen hab ich schon zwei Kapitel fast fertig. Ich habe mich dann noch gebremst und mit der Gesamtübersicht über die Kapitel weitergemacht. Da ist mir beim Schreiben dann klargeworden, daß die jetzige Reihenfolge nur sehr bedingt logisch ist. Ich muß es also doch noch mal völlig umstülpen! Vor allem wenn ich an die vorhin genannten methodischen Prinzien denke, so sind die überhaupt noch nicht eingearbeitet.

So, jetzt hab ich auch einen neuen Gliederungsvorschlag, der etwas besser ist als der alte (gescheitere Titel muß ich mir eh noch einfallen lassen):

  1. Ich und Andere: Erfahrungen, Hoffnung (Mensch ist, was er noch werden kann)
  2. Einführung Methodik, Psychohistorik...
  3. allg. Evolutionsprinzipien
  4. menschliche Entwicklung als SO
  5. Dialektik in der menschlichen Entwicklung
  6. M.-N.
  7. weibliche Sicht auf Anthropogenese
  8. Reale Situation
  9. Politik heute
  10. emotionaler Ausklang

28.12.96 immer noch Gehren

Tanja ist nun doch richtig krank geworden, liegt mir Bauchschmerzen hinter mir. Heute sind es draußen -18 Grad, die Sonne scheint - also ideales Schlittschuhwetter. Aber es wird wohl nichts.
Dabei bin ich mir heute unsicher, ob ich die Zeit voll nutzen kann zum Arbeiten. Noch ist die grundsätzliche Frage nach der Gliederung nicht ganz entschieden. Ganz glücklich bin ich mit der oben aufgeschriebenen noch nicht...

Ich fürchte auch, das Ganze bekommt keinen durchgehenden roten Faden, sondern wird eine Zusammenklitterung von Vielem. So sammle ich zumindest im Moment alles Material zusammen. Ich muß zusehen, die dialektischen Prinzipien auch methodisch einzuformen! Dazu müßte ich die vorbereiteten Begriffe "System", "Gesetz" und "Entwicklung" verwenden, jeweils spezifizieren und konkret damit arbeiten!

Dem Ganzen fehlt auch irgendwie noch der Schwung und Elan, den ich z.B. beim Schreiben des INFOs damals hatte. Da fanden sich geeignete Zitate und Übergänge zwischen den Kapiteln. Jedes Kapitel war in sich rund und ihre Kombination untereinander war es dann wieder...

Ich habe heute noch die Ideen von den Karteikarten aufgesammelt, aber jetzt höre ich erst mal auf. Ich brauche eine andere Gliederung! Sie muß ein wiedererkennbares, aber inhaltlich begründetes Muster haben und das ist mir noch nicht eingefallen.

Das schöne Zitat von Saint Exepery (Lehre die Leute die Sehnsucht nach dem Meer...) kann ich eh nicht verwenden, denn mein Ziel mit dem Buch ist ja ein anderes, weil meine Fähigkeiten eben auf einem anderen Gebiet liegen. Die von mir u.a. verwendete Umfrage von Herrmann Cropp und Co. ergibt übrigens (wie erwartet), das Sachbücher viel weniger als Belletristik gelesen werden. Ich hab also eh wenig Chancen. Jetzt lese ich aber auch erst mal in das neue Buch von B.Leßmann "Börsenkrach oder das Schlüpfen des Schmetterlings" rein...

abends:

Der "Börsenkrach" ist nicht besonders. Die belletristische Form sollte zwar ansprechender sein als das Fachbuchartige, hier ist sie aber nicht gerade gelungen und die inhaltliche Substanz ist auch nicht so besonders...

Ich habe mir inzwischen eine raffinierte Gliederungsform einfallen lassen (drei Spiralkreise in sich, die jeweils Fusionà Differenzà Integration in sich enthalten). Jetzt merke ich aber, daß ich den ganzen Inhalten ein recht aufgesetztes Schema aufdrücke...

Das muß doch anders sein, die Form muß sich aus dem Inhalt ergeben! (auch wenn ich beides grob schon im Kopf habe und deshalb die Form grob voraussetzen kann. Dann muß es aber die richtige, sich natürlich ergebende sein und keine raffinert ausgedachte!).

... So, die Grundidee scheint jetzt zu funktionieren. Ob alles in sich stimmig ist, wird sich zeigen... Doch - es gefällt mir ganz gut. Alle Themen sind untergebracht oder noch einbaubar, die innere Logik stimmt (weil ja eben die Dialektik Fusionà Differenzierungà Integration kein künstliches Schema ist, sondern das Nachzeichnen realer Evolution ebenso ermöglicht wie fortschreitende Erkenntnis).

Vielleicht sollte ich die Psychohistorik ganz rauslassen, das stört den Fortgang der Argumentation in dieser Logik. Hier brauche ich andere Übergänge (Wesen des Menschen!), nicht so viel über die Erkenntnismittel...

26.1.1997

Tja, der erste Monat ist schon wieder rum und ich habe keine Seite weiter geschrieben. Allerdings habe ich die Gliederung "fertig"-gemacht und das erste grundlegende Thema abgearbeitet: die System- und Selbstorganisationskonzepte. Dazu schreibe ich nächste Woche (?) noch Texte fürs Internet und dann kanns systematisch mit Ökonomie weitergehen.

Seit letzter Woche muß ich auch wieder bis 15.30 Uhr auf Arbeit rumsitzen. Ich nutze die Zeit auch fast nur für mich (Programme ausprobieren, Umwelt-Sachen lesen), aber es ist schon eine andere Tagesaufteilung mit weniger Muße zum Überlegen...

Nächste Woche kommt dann abends noch einmal Tauschring, einmal eine (Weihnachts-)Fete im Institut und das freitägliche Philo-Gespräch dazu, so daß wenig konzentrierte Zeit für was thematisch Anspruchsvolleres da ist...

Dabei kürze ich meine Internetaktivitäten schon drastisch - wobei ich merke, daß eine "richtige" Webkultur da auch maximales Engagement brauche würde.

Danach habe ich eigentlich nur noch am Buch geschrieben, das reicht sicherlich auch...

 

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