Selbstorganisation

in der Gesellschaft

Kurzform des Compu-skripts

zum Buch "Daß nichts bleibt, wie es ist..."

Band II (Kapitel 1)

Jena, 29.2.1997 (wurde für das Buch noch überarbeitet)

1. Befolgen wir alle nur Systemgesetze?

2 Selbstorganisierende Systeme

2.1. Warum fasziniert uns das Thema Selbstorganisation so?

2.2. Was ist nun Selbstorganisation?

2.3. Die Menschen in Systeme einsperren?

3. Gesellschaft als Komplex selbstorganisierender Systeme

3.1. Systeme - Bereiche mit typischen wesentlichen Zusammenhängen

3.2. Die Gesellschaft als Komplex ganz besonderer Bereiche

3.3. Konkrete Anwendungen des Selbstorganisationskonzepts in der Gesellschaftstheorie

3.3.1 Selbstorganisationskonzepte im Soziologie und Management

3.3.2 Selbstorganisationskonzepte für einen Neuaufbruch


1. Befolgen wir alle nur Systemgesetze?

... Eine Theorie will das Verhalten ihrer "Objekte", ihres "Gegenstandsbereichs" erklären und begründen. Die Objekte der Gesellschaftstheorie sind aber Subjekte und jeder Theoretiker ist selbst ein Akteur in der Gesellschaft und nicht nur Beobachter.

Trotz aller Ausdifferenzierung von Lebensstilen, sozialen Schichtungen und der Fragmentierung des Konsums - angesichts der akuten sozialen und ökologischen Problemlage in der Gegenwart ("Standortdebatte", Sozialabbau, "Globalisierung"...) wird deutlich, daß die kapitalistische Wirtschaftsform allen Differenzen überlagert ist. Auch Subjektivität kann sich vorwiegend nur innerhalb des Vermarktungsmechanismus der Arbeitskraft entfalten. Den meisten von uns wird es schon gar nicht mehr bewußt, was für eine Zumutung die Tips und Ratschläge für Bewerbungen und Vorstellungsgespräche eigentlich sind.... Kreativität soll gefördert werden, aber nur für die effektivere Erfüllung der vorgegebenen, nicht etwa selbstgewählter Ziele.

Wir haben die Prinzipien des Kapitalismus - z.B. bezüglich des Arbeitsethos, der "Effektivität" der Arbeit und der Konsumbedürfnisse - kulturell schon tief verinnerlicht, so daß wir Alternativen schon nur noch innerhalb seiner Prinzipien suchen. ...

Die "Globalisierung" wird auch bei Linken unhinterfragt als Tatsache akzeptiert - dies führt zu einer Standortdebatte, bei der tendenziell alle sozialen Errungenschaften aufgegeben werden und die Ökologie ganz aus dem Blickfeld verschwindet.

Aber was nun? Wir erkennen die Logik des Geschehens - sind wir ihr deshalb ausgeliefert?

"Solange die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht,
erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht." (Horkheimer)

Alle "Sachzwänge" sind doch Folgen des Tuns und Lassens von Menschen (siehe Praxisphilosophie). Die Ergebnisse von menschlichem Tun werden zu "vorgegebenen Dingen" (verdinglicht), sie erscheinen als von uns unabhängige Sachen und "Sachzwänge".

Wenn es nicht nur um trotzigen Aktivismus, sondern um eine wirkliche Wiedererringung der Subjektivität geht, müssen wir bei uns selbst beginnen. Habe ich wirklich das Bedürfnis, ein Recht und damit eine Pflicht zur Arbeit (40 Stunden in der Woche mein Leben lang) zu haben, wo ich doch weiß, daß auf Grundlage moderner Technologien (auch wenn wir auf die naturzerstörerischen verzichten!) nur noch wenige Arbeitstage im Monat notwendig wären? Geht es mir tatsächlich um das Kennenlernen anderer Menschen und Länder oder brauche ich den Teneriffa-Urlaub nur, um mich vom Rest des Jahres zu erholen? (wie schlimm muß dann doch mein Alltagsleben trotz Auto, schicken Klamotten und so weiter... sein!!) Ähnliche Fragen trauen wir uns doch kaum zu stellen und wenn sie sich mal aufdrängen, verdrängen wir sie schnell wieder.

Daß wir es verdrängen, zeigt wenigstens, daß es diese tieferen, anderen Wünsche doch gibt. In meinen vielen verschiedenen ABMs und Umschulung etc. bin ich mit vielen Leuten zusammengekommen, und in allen war da innen noch etwas...

Schon dutzendemale haben Menschen auf allen Erdteilen verschiedene Kulturbrüche erlebt und realisiert. Warum sollte die globalisierte kapitalistische Marktwirtschaft und -kultur das "Ende der Geschichte" sein? Eine andere Art zu leben und zu arbeiten kann neue Kulturen entstehen lassen.

Wir können der "Logik" und den "Sachzwängen" ein Schnippchen schlagen, indem wir eine ihr entgegenstehende Kultur entwickeln, die der Boden für Keime von neuen Wirtschafts- und Lebensformen sein kann.

Wir sind nicht nur Beobachter von Geschehnissen, wir sind Beteiligte. Unsere Erkenntnis-"Objekte" sind wir selbst. Wir beobachten kein unabänderliches Sein, sondern erkennen in "Sachzwängen" und "Logiken" verselbständigte Ergebnisse menschlichen Tuns, die auch änderbar sind.

Wenn wir Bestimmungen und Bedingungen erkennen, heißt das noch lange nicht, daß wir ihnen "zu folgen" hätten. Wir wollen sie erkennen, um sie zu verändern.

2 Selbstorganisierende Systeme
2.1. Warum fasziniert uns das Thema Selbstorganisation so?

"Leben heißt für die Menschen:
die Prozesse organisieren, denen sie unterworfen sind." (Brecht)

Menschen sind keine Blätter im Wind der Zeitenstürme. Schon andere Lebewesen haben Fähigkeiten, ihre eigene Umwelt so umzuformen, daß sie zur lebensunterstützenden Mit-Welt wird. Erst die Menschen konnten sich dieser Zusammenhänge bewußt werden. Die in der modernen, aufgeklärten Weltsicht als nichtrational und unwissenschaftlich abgelehnten magischen und mythischen Weltbilder unserer frühen Vorfahren und der "nichtzivilisierten" Völker wußten und wissen sehr viel über diese Zusammenhänge.

In einigen Gesellschaften entwickelten sich in den letzten Jahrhunderten andere Formen der Welterkenntnis. Wissenschaft, andere Produktionsformen, Gesellschaftsstrukturen und Kulturen entstanden. Auf dieser Grundlage fällt uns jetzt das Zusammenwirken aller Kräfte und Prozesse erneut unabweisbar ins Auge. Nachdem die Natur gefoltert wurde, um ihre Geheimnisse preiszugeben (Bacon), sie überlistet werden mußte, um ihre Kräfte für uns auszunutzen (Bloch), kommen wir jetzt eher zu einem "Dialog mit der Natur" (Prigogine, Stengers). Zu einer Allianztechnik, wie sie Ernst Bloch im Gegensatz zur Überlistungs-Technik fordert, sind wir allerdings außer durch das Engagement wirtschaftlich zeimlich wirkungsloser Außenseiter noch nicht gekommen.

2.2. Was ist nun Selbstorganisation?

"Organisation" kennzeichnet einerseits die Existenzform relativ stabiler Strukturen und andererseits das Entstehen von neuen Strukturen.

Eine Theorie, welche die Selbsterhaltung von komplexen Strukturen auf der Grundlage der Selbsterzeugung der eigenen Teile betont, ist das Autopoiesis-Konzept (für die Biologie) nach Maturana und Varela.

Im physikalischen Bereich wurde die "zyklische Kausalität" (Ganzes erzeugt Teile, die wiederum das Ganze erzeugen) durch die Synergetik von Hermann Haken gefunden.

Chemische dissipative Prozesse bei der Strukturbildung waren Ausgangspunkt für das Selbstorganisationskonzept nach Ilya Prigogine.

In Sinne dieser Konzepte ist Selbstorganisation ein "irreversibler Prozeß, der durch das kooperative Wirken von Teilsystemen zu komplexen Strukturen des Gesamtsystems führt" (Ebeling, Feistel 1986). Das kooperierende Wirken konstituiert die komplexen Strukturen in ihrer Erhaltung und Entwicklung. Selbstorganisation ist deshalb ein grundlegender Teil von Entwicklungsprozessen.

Komplexe Strukturen erhalten sich selbst stabil, indem sie als Ganze ihre innere Struktur so organisieren, daß innere Teile untereinander und mit äußeren Strukturen wechsel-wirken. Die Prozesse der Wechselwirkung durch Teile im Innern erhalten das Ganze stabil.

Stabile Strukturen wechselwirken in für sie typischen wesentlichen Zusammenhängen (Gesetzen). Sind diese Zusammenhänge durch die Bedingungsänderung nicht mehr realisierbar, müssen die beteiligten Strukturen sich neu ordnen, neu strukturieren. Das beinhaltet auch ihre innere Umgestaltung, Neugestaltung! Ganzes und Teile müssen andere stabile Strukturen bilden oder (stofflich-energetisch) in andere Ganze aufgehen. Andere stabile Strukturen können (wenn die Bedingungen es zulassen) früheren Strukturzuständen entsprechen. Weil sich die Bedingungen aber irreversibel geändert haben, ist diese Regression oft nicht möglich. Dem Aufgehen in andere Strukturen entspricht die Beendigung ihrer Existenz ohne das "Mitnehmen" von Eigenem (der Tod).

Im günstigsten Fall gelingt der Aufbau stabiler neuer Strukturen auf Grundlage der neuen Bedingungen (unter "Aufhebung" früherer Eigenschaften). Diese neuen Strukturen unterscheiden sich aber deutlich von den früheren, es kam zu einem qualitativen "Sprung" an einem bestimmten Punkt der zeitlichen Entwicklung.

Typisch für diese Entwicklungsschritte ist das Zurückwirken von selbst-veränderten Bedingungen. Mathematisch führt die Lösung derartiger nichtlinearer Probleme zu den faszinierenden Fraktalbildern wie dem Apfelmännchen. Abgesehen von diesen Abstraktionen (siehe dazu weiter asso.htm) erkennen wir hier unser Ausgangsproblem wieder: Das Tun von Menschen begegnet uns als relativ verselbständigter "Sachzwang". Kein Tun ist voraussetzungslos. Die Voraussetzungen entstanden in früherem bzw. anderem Tun. Dieses In-Sich-Verwobensein von Tun und fertigem Ergebnis erzeugt die scheinbar unabänderliche "Logik". Aber genau dieser Zusammenhang erzeugt auch die Möglichkeit für das Neue, das Alte Umwerfende und Umgestaltende!

Für mich ist das Wichtigste an diesen Konzepten nicht nur der Nachweis, wie sich komplexe Systeme stabil erhalten. Mein Interesse gilt den eher kritischen Situationen des Neuentstehens von Eigenschaften, Qualitäten, Zusammenhängen. Dabei bricht die Zyklizität des reinen Selbsterhalts auf zur Spirale ins Offene.

Daß diese kritischen Situationen unvermeidbar sind (daß das "Ende der Geschichte" noch nicht erreicht ist), verbürgt die oben erwähnte Nichtlinearität: Jeder Existenzprozeß verändert durch Wechselwirkungen seine eigene Umwelt, die Bedingung seiner Existenz ist. Zyklische Austauschprozesse, wie sie überall stattfinden, erreichen schließlich Situationen, in denen eine Grenzüberschreitung notwendig ist. Das "Maß" (nach Hegel) ist erreicht und muß überschritten werden. Ein Tod ist unabweislich. Vieles Existierende beendet seine Existenz. 99% aller jemals auf der Erde vorkommenden Pflanzen- und Tierarten gibt es nicht mehr. Der "Rest" konnte nicht mehr in seiner alten Form (als einzellige Bakterien oder auf beliebigen späteren Etappen) bestehenbleiben, sondern mußte und konnte neue Existenz- und Zusammenhangsformen entwickeln (Schlemm 1996, S. 113ff.). Dabei jedoch - und hier ist die Hegelsche Dialektik unübertroffen - brauchen die sich weiterentwickelnden Lebensformen vieles von dem, was sich bis dahin entwickelt hatte. Es wurde "aufgehoben" - also beendet und gleichzeitig aufbewahrt (Bei Hegel heißt das etwas kompliziert "Negation der Negation", Ken Wilber beschreibt populärer die "Integration").

"So ist der Mensch die reale Möglichkeit alles dessen, was in seiner Geschichte aus ihm geworden ist und vor allem mit ungesperrtem Fortschritt noch werden kann." (Bloch)

Das neu Entstehende ist noch nicht im Vorherigen festgelegt. Deshalb ist Evolution und Entwicklung kein "Auswickeln" von etwas schon Vorhandenem. Im Vorherigen sind vielfältige Möglichkeiten angelegt, die erst zur Wirklichkeit im Moment der Entstehung vom Neuen kommen.

Jede Wirklichkeit ist "redundant", hat Kontingenzen und Möglichkeiten (nicht nur Zufälle). Diese differenzieren sich einerseits in jedem Zustand aus (und ihre Mächtigkeit nimmt tendenziell im Verlaufe der Evolution zu). Andererseits kommen einige Möglichkeiten erst so richtig zum Zuge, wenn das Maß des früheren Zustandes - des Alten - überschritten wurde. In der Biologie ist z.B. die Radiation (die Entstehung sehr vieler neuer Arten in kurzer Zeit) an solchen Stellen typisch.

Aus den Selbstorganisationskonzepten ist folgendes Bild mit einer Aufgabelung ("Bifurkation") bekannt:


Hier wurde die Anzahl möglicher Lösungen nichtlinearer Gleichungen im Verlaufe nach eines rechts wachsenden Nicht-Gleichgewichtsparameters aufgetragen. Dieser nach rechts wachsende Parameter kann auch als Zeit interpretiert werden, wenn im Laufe der Zeit durch den betrachteten Prozeß die Umgebung so verändert wird, daß ein Nichtgleichgewicht wächst. Dies ist in der Tendenz in den Entwicklungsprozessen gegeben. Da diese Rechnung nur die einfachste Gleichung repräsentiert, sieht die Realität noch viel komplizierter aus.

Das Neue ist zwar nicht vom Vorherigen absolut vorherbestimmt, aber doch in starkem Maße abhängig. Es kann nur entstehen, was nicht unmöglich ist. Das Möglichmachen von Neuem durch die entsprechende Veränderungen von Bedingungen schon im Früheren ist deshalb eine wesentliche Form praktischer Aktivität von Menschen "vor der Revolution".

An dieser Stelle werden dann die eher "grauen" Bereiche in der Bifurkationsabbildung interessant. Die kann man leicht wegdiskutieren, wenn man meint, daß die Gesellschaft nie so weit aus dem Gleichgewicht herausgeraten sollte, um in diesem Chaos zu landen.

Ich selber deute - bei aller Vorsicht - gerade in dieses turbulente, in sich geordnete (!) Chaos neue mögliche Gesellschaftszustände hinein. Man muß sich verdeutlichen, daß dieses turbulente Chaos eigentlich nichts anderes als die "Ordnung ohne Herrschaft" und das fast ewige Freiheitsideal der Menschen verkörpert. Es hat gar nichts mit einem Chaos ungeordneter, taumelnder sinnloser Bewegungen zu tun, wie es im Selbstorganisationskonzept für den Punkt des absoluten Gleichgewichts im Modellfall der "Brownschen" Teilchenbewegung enthalten ist (as25.htm).

Diese Problematik des Hineindeutens erinnert mich noch einmal an das grundsätzliche Problem, ob wir unsere menschlichen Fragestellungen überhaupt mit diesen systemtheoretisch fundierten Konzepten behandeln dürfen.

2.3. Die Menschen in Systeme einsperren?

...

Methodisch stütze ich mich dabei durchaus auf Systemtheorie(en), benutze dabei aber nicht den lediglich quantitativ gewonnenen Systembegriff sondern einen qualitativen (Schlemm 1996, S. 87 nach Hörz, vgl. assyst.htm).

Bestimmte Weltbereiche haben Systemcharakter, wenn unter System ein durch typische, wesentliche Zusammenhänge (Gesetze) qualitativ (und nicht nur quantitativ) charakterisierter Weltbereich gemeint ist. Die Argumentation muß den Qualitäten des Bereichs selbst folgen und nicht einem allgemeinen Schema.

3. Gesellschaft als Komplex selbstorganisierender Systeme

3.1. Systeme - Bereiche mit typischen wesentlichen Zusammenhängen

...

Wir müssen viele Unterscheidungen treffen, diese dann aber wieder im Zusammenwirken verstehen:

Es gibt Zusammenhänge in gesellschaftlichen Prozessen auf verschiedenen Ebenen ("vertikal"): 1. Menschen - nichtmenschliche Umwelt, 2. Gesellschaftsformationen, 3. Gemeinschaften/ Gruppen und 4. Individuen.

Eine andere Unterscheidung betrifft die verschiedenen Aspekte gesellschaftlicher Organisation ("horizontal"): a) Kultur, b) Wirtschaft, c) Politik, d) Ideologie usw.

Die Evolution durch selbstorganisierte Prozesse läuft in jeweils horizontaler und vertikaler Ko-Evolution verschiedener Bereiche ab.

Alle Prozesse beeinflussen sich gegenseitig. Diese gegenseitige Bedingtheit (und nicht die 100%ige Bestimmtheit!) wird mit dem Begriff des Determinismus erfaßt.

...

Die Frage des Determinismus wird im Falle der menschlichen Gesellschaft noch wesentlich erweitert durch die besondere Rolle der Subjektivität. Hier gewinnt die Frage nach dem Verhältnis von Offenheit und Bedingtheit neue Aspekte. Es ist jetzt wesentlich, nicht das Notwendige zu betonen und das Sein damit zu rechtfertigen, sondern die offenen Möglichkeiten zu suchen und dadurch das Neue zu befördern.

B.Brecht: "den CAESAR schreibend, das entdecke ich jetzt, darf ich keinen
augenblick glauben, daß es so kommen mußte, wie es kam... die suche nach den gründen für alles geschehene macht die geschichtsschreiber zu fatalisten."

3.2. Die Gesellschaft als Komplex ganz besonderer Bereiche

Das Tun von Menschen ist nicht durch äußere Systemgesetze bestimmt. Ihr eigenes Tun spannt ein Netz von Zusammenhängen auf, das ihre Beziehungen trägt.

Daß einige Menschen dichtere Netze knüpfen können, in denen andere eher gefesselt sind, als daß es dem Austausch dient, hat etwas mit Macht auf verschiedenen Ebenen zu tun. Die Befreiung aus fremden Netzen und die Freiheit, eigene Netze zu spannen ist ein ewiges Ziel von vielen Menschen. Worte wie "Demokratie", "Macht" und "Freiheit" sind spezielle Worte zur Kennzeichnung menschlicher Selbstorganisationsaspekte. ...

Wir selbst sind es, die Zwecke, Werte und Sinn setzen. ...

Wesentlich für die menschliche Selbstorganisation sind deshalb nicht nur innerobjektive Nichtlinearitäten (Widersprüche), sondern die Zusammenhänge die beschreiben, wie sich frühere (oder andere) Tätigkeitsergebnisse als objektive Bedingungen auf jeweils subjektives Handeln einwirken. ...

Die Zukunft ist noch nicht geschrieben.
Eure Zukunft ist immer das, was ihr daraus macht.
Also gebt euch ein bißchen Mühe!
(Doc Emmet Brown in "Zurück in die Zukunft" Teil III)

3.3. Konkrete Anwendungen des Selbstorganisationskonzepts in der Gesellschaftstheorie

Als Hermann Haken in einem Interview der Internet-Zeitschrift te/epo/is gefragt wird, ob seine Synergetik ein Modell des liberalen Kapitalismus beschreibe, antwortet er recht vorsichtig-ausgewogen und verweist auf genaue Untersuchung der konkreten Systeme.

...

"Die Hoffnung auf einen Steuermann, der die dicht vernetzten ... Systeme noch überblickt und als echter Steuermann fungieren kann, ist aussichtslos." (Dürr 1988, S. 77). Damit wird die Frage aufgeworfen, ob aller Steuerung entsagt werden soll (und der Neoliberalismus freut sich darüber), oder welche neuen Anforderungen gerade an die Beeinflussung von gesellschaftlichen Prozessen stehen....

Im schlimmsten Falle wird kommt es aber auch dabei wieder zu Kurzschlüssen, zu "Sozial-Prigoginismus"...

Für mich war das Selbstorganisationskonzept seit 1987, ..., ein Ansatzpunkt für dogmatismus-stürzende Gedanken. SELBST-Organisation verwies auf die funktionelle Notwendigkeit von Demokratie. Ab 1990 hatte sich zwar das System geändert, die strukturellen Probleme sind nur quantitativ unterschiedlich. Die Wahl über ihre Lebensweise haben die Menschen auch hier nicht - sie werden "systemintegriert".

...

3.3.1 Selbstorganisationskonzepte im Soziologie und Management

Es wird erkannt, daß die bisherigen Steuerungsgedanken zu einfach, nämlich meist linear und monostabil orientiert waren. ...

Ökologie und Ökonomie als koevolvierende Nicht-Gleichgewichtsprozesse werden ausführlich untersucht in Beckenbach/Diefenbacher 1994.

Management als Komplexitätsbewältigung:

"Die Organisationsform nach Fraktalen gibt dem einzelnen Mitarbeiter dabei ein höheres Maß an Verantwortung als in den gewohnten Betriebsstrukturen; eine Maßnahme, die sich positiv auf Motivation, Leistung und Arbeitsfreude auswirkt." (Bericht in VDI-nachrichten über Gemüsefrischdienstfirma): Alle Betriebsbereiche werden Fraktal genannt: Beschaffungsfraktal, Distributionsfraktal, Dienstleistungsfraktal, Auftragsabwicklungsfraktal...).

...

"Das Vertrauen in kleine, eigenverantwortliche Einheiten ermöglicht Selbständigkeiten und Spezialisierungen, Freiraum für Unternehmertum, für eigene Ideen und innovative Versuche." (HANIEL-Werbung)

Im Sozialismus waren wir so weit noch gar nicht. Eins war aber genau so: "Arbeite mit, plane mit, regiere mit!" bezog sich als Losung auf die möglichst effektive und engagierte Umsetzung vorgegebener Ziele. Auch jetzt bleibt die Entscheidung über die Ziele der Produktion und des Wirtschaftens den Managern vorbehalten!

3.3.2 Selbstorganisationskonzepte für einen Neuaufbruch

Ich gehe erstens davon aus, daß auch die jetzige Lebens- und Wirtschaftsform, die kapitalistisch geprägt ist, nicht das "Ende der Geschichte" sein wird. Wir stecken genau in den Umbruchprozessen, die anzeigen, daß ihr "Maß" erreicht ist. Bisher konnte der Kapitalismus seinen Zusammenbruch hinauszögern, weil er - im Unterschied zur Maya-Kultur - in immer wieder neue Bereiche expandieren kann, um deren Lebenskräfte zu "verwerten". ... Die Argumente für diese Meinung kommen nun nicht einfach aus dem Selbstorganisationskonzept: "Weil es da immer Bifurkationen gibt, wird jetzt auch wieder eine kommen" , sondern aus meinen gesellschaftstheoretischen und -praktischen Erfahrungen. Sie finden nur ein grobes "Muster" im Bifurkationsbild.

Ähnlich ist es mit der Frage, was "während" der Bifurkation und danach geschieht. Eins jedenfalls wissen wir jetzt genau: Wir können nicht voraussagen, was danach passiert, welche Möglichkeiten verschwinden, welche neue entstehen, welche sich durchsetzen. ...

Wir können nur einige Grundprinzipien diskutieren. Dabei erkennen wir auch im Bifurkationsbild zwei unterschiedliche Möglichkeiten (as25.htm):

 Es können neue "Ordner" (Haken) in Form neuer Machtzentralen entstehen oder auch ein historisch völlig neuartige Zustand: die "Ordnung ohne Herrschaft" im sog. Turbulenten Chaos


Bisherige gesellschaftliche Umwälzungen veränderten immer nur die "Ordner". Tendenziell nahmen jedoch die verschiedenen Möglichkeitsfelder immer breitere Ausmaße an. Obwohl ein Ende der Zivilisation auch nicht auszuschließen ist, ist zu vermuten, daß bei einer weiteren Entwicklung ein "Sprung" in den turbulent-chaotischen Bereich möglich (und notwendig!) wird. Ich erinnere hier an die inhaltliche Bestimmung des turbulenten Chaos: Gemeint ist nicht das undurchdringliche Wirrwarr einander gleichgültiger Atome - sondern die freie Beweglichkeit innerhalb und die Möglichkeit zum Aufbau neuer geordneter Strukturen (Turbulenzwirbel).

Jarsolav Langer schätzte in Auswertung der Konzepte des Aufstandes von 1968 in der CSSR bereits ein, daß die Bandbreite der Macht wurde immer geringer wurde und jetzt die Zeit gekommen ist, in der sie verschwindet. Seine Beschreibungen der inneren Widersprüche des Organisationsprinzips Partei fand ich immer wieder bestätigt: Eine Partei ist an den gesellschaftlichen Machtkampf gebunden, kann dem Kampfprinzip kein anderes entgegenstellen. Daher kommt der objektive Zwang zur internen Machthierarchie....

Langer sah und organisierte 1968 als Ausweg die sogenannten "Klubs alternativer Nonkonformisten" mit den Prinzipien: face-to-face-groups, gemeinsamer Konsenskern, nur informelle Hierarchien. Hierin erkannte ich beim Lesen des Buches 1990 die ersten Analogien zu dem, was ich unter Selbstorganisation neuer progressiver Strukturen erwartete....

Sogar bei den JUSOS wird auf die Selbstorganisation Bezug genommen: "Es muß die praktische Veränderbarkeit der Verhältnisse erfahrbar gemacht werden. Dieses wird letztlich nur in der Selbstorganisation der jeweils Betroffenen erreicht" (ca. 1990) Definiert wird die Selbstorganisation hier als "Selbstbestimmung der Betroffenen über ihre gesellschaftlichen Angelegenheiten".

Eher tragisch war die Geschichte der Selbstorganisations-Erfindung "Treuhand":
"Jeder Staatsbürger der DDR erhält von der Holding-Gesellschaft eine Kapitalteilhaber-Urkunde, also einen Anteil am Volkseigentum... die Treuhandgesellschaft kümmert sich darum, daß das Eigentum zu gleichen Teilen verteilt wird." (Artzt M. in einem Interview in der Jungen Welt am 20. Februar 1990, siehe auch Artzt u.a. in DZfPh 1990)....

Kleinere Schritte, die vor allem für die überschaubaren gemeinschaftlichen Bereiche praktisch wichtig sind, sind die Zukunftswerkstätten (Jungk) als Diskussions- und Organisationsform. Hier findet Selbstorganisation statt Interessen"vertretung" statt. Deshalb ist das wichtigste Ergebnis von Zukunftswerkstätten oft gar nicht ein erreichtes Ziel oder ein erfolgreiches Projekt - sondern die Selbsterfahrungen und -entwicklungen der Beteiligten.

Wichtige Schritte konkreter Selbstorganisation werden meiner Meinung nach auch in der Bewegung der Sozialen Selbsthilfe (Runge/Vilmar) realisiert. Seit Mitte der 80er Jahre sind hier ca. 600 000 Menschen in ca. 40 000 Projekten der Lebens- und Arbeitswelt, der Kultur Gesundheit und im Bereich Benachteiligter aktiv.

Mit Hinblick auf prinzipielle Alternativen arbeitet die Jugendumweltbewegung unter dem Motto: "Anders leben, anders arbeiten". Alternativbetriebe, Ökodörfer, Kommunen, Gemeinschaftswohnprojekte, verschiedene Vereine arbeiten in diesem Sinn. Modell für stabile Lebens- und Wirtschaftsformen sind die Kibbuzim (Vilmar). All diesen Projekten ist bis jetzt kein durchschlagender Erfolg beschieden. Das heißt eigentlich nur, daß sie sich ausreichend von den derzeit herrschenden Erfolgskritierien und -ursachen (Macht, Profit, Ausbeutung von Menschen und Natur) distanzieren konnten. Unter anderen Kriterien betrachtet (Wohlfühlen, Ökologie...) sieht die Bilanz sicher schon ganz anders aus.

Wenn ich jetzt endlich mit einigen Begriffen wie Kommunen und Alternativbetrieben konkret geworden bin, kommt natürlich sofort die Gegenfrage: Willst Du denn zurück ins kleinräumige, handwerkliche, gemeinschaftlich-kuschelige Mittelalter?

Abgesehen von dem menschlichen Bedürfnis nach erlebnishafter, also nicht zentralisierter Sozialität (die als Argument für eine entsprechende Lebens- und Wirtschaftsgestaltung schon ausreichen müßte) gibt es auch andere Tendenzen, die sich dem Trend der Zentralisierung bereits wieder entziehen:

  • Eine dezentrale Energieversorgung auf solarer Basis ist technisch und ökonomisch effizienter, sicherer und ökologisch verträglicher als zentrale Kohle/Öl/Atomenergieversorgung.
  • Die Produktion tendiert zu Gruppenproduktion, Dezentralisierung, Flexibilisierung. Es ist nicht mehr nur die Massenproduktion wirtschaftlich effektiv. Es findet ein Wechsel vom tayloristischen Fordismus zum "lean production"- Toyotismus statt (bei aller Kritik, die ich daran habe...).
  • Eine notwendige ökologisch und human angepaßte Allianz-Technologie ist prinzipiell nicht zentralistisch (Die Landwirtschaftsweisheiten in Indien sind z.B. nicht in Zentralinstituten verwaltbar, sondern nur innerhalb der bäuerlichen Tradition zu erhalten und zu entwickeln).
  • Auch die Entsorgung ist dezentral/regional effektiver . Eine Tendenz zu Regionalisierung der Wirtschaftskreisläufe ist deshalb vorhanden!
  • Die "Globalisierung" bedeutet auch ein Abkoppeln großer Gebiete von den "Errungenschaften" der kapitalistischen "Entwicklung". Das Versprechen auf die Kompensation der Zerstörungen durch die kapitalistische Wirtschaftsweise durch Wohlstand ist nicht mehr realisierbar. Dies eröffnet neue Chancen für Neu-Aufbrüche wie z.B. in der Kommune Nueva Esperanza in El Salvador (Darüber wurde in der Zeitschrift "Graswurzelrevolution" vom Mai 1992 berichtet. Das Lesen dieser Zeitschrift ist übrigens laut Einstellungsfragebogen des Freistaates Thüringen bedenklich!).

Viele der hier nur angedeuteten Tendenzen werden von der Medienwelt fast völlig verschwiegen. Nur wenige alternative Medien berichten darüber, in der Bibliothek für Zukunftsfragen hat Robert Jungk selbst einen Sammelpunkt für solche hoffnungsvollen Nachrichten eingerichtet. Dieses Buch würde überquellen, wenn ich nur das aufschriebe, was sich in meinem kleinen Archiv angesammelt hat.

Obwohl man sich von der Geschichte als stetem Fortschritt verabschieden muß - kommt man ohne die Fortschrittsidee nicht aus - schreibt Isabelle Stengers (1991):

"Wir können zwar nicht erwarten, auf Nummer Sicher zu spielen.
Aber wenn wir
gar nicht spielen, wird das auch einen Unterschied machen.
Wie Geschichte gemacht wird, hängt von den Menschen ab
und wie sie sich organisieren."




Literatur:

Artzt, M., Gebhardt, G., Schönfelder, R., Wolf, J., Blüher, H., Lehmann, H., Zukunft durch Selbstorganisation. Erneuerung der DDR: Aus der Erstarrung verwalteter Objekte im Subjektmonopolismus zur Selbstorganisation in Subjektpluralität (Thesen), Deutsche Zeitschrift für Philosophie 4/1990
Beckenbach F., Diefenbacher, H. (Hrsg.), Entropie und Selbstorganisation. Perspektiven einer ökologischen Ökonomie, Marburg 1994
Beck, U., Von der Risiko- zur Möglichkeitsgesellschaft. Das ungekürzte Gespräch mit Ulrich Beck, in: Te/epo/is (unter http://www.heise.de/tp/) vom 14.1.1997
Bühl, W.L., Die dunkle Seite der Soziologie, Soziale Welt 39(1988)1
Capra, F., Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, München 1988
Dürr, H.-P., Das Netz des Physikers, München Wien 1988
Ebeling, W., Feistel, R.: Physik der Selbstorganisation und Evolution, Berlin 1986
Forte, F., Vom Wettbewerb zur Kooperation - ein neuer Ansatz für die Weltwirtschaft. In: Dürr, Zimmerli (hrsg.), Geist und Natur. Über den Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung, München Wien 1991
Jelden, E., Datenbombe Internet - oder: Wer teilt die Datenfluten?, in: Te/epo/is (unter http://www.heise.de/tp/) vom 23.1.1997
Haken, H., Konkurrenz und Versklavung, Florian Rötzer im Gespräch mit Hermann Haken, in: Te/epo/is, im Internet unter http://www.heise.de/tp/ vom 14.2.1997
Hörz, H., Mensch und Wissenschaft, DZfPh 7/67
Hörz, H.: Die Rolle statistischer Gesetze in den Gesellschaftswissenschaften und ihre Bedeutung für die Prognose, DZfPh 3/68
Hörz, Wessel (Ltr. Autorenkoll.), Philosophie und Naturwissenschaften, Berlin (DDR) 1988
Hörz, H., Selbstorganisation sozialer Systeme. Ein Verhaltensmodell zum Freiheitsgewinn, Münster 1993
Jantsch, E., Selbstorganisation im Kosmos, München 1988
Jungk, R., Projekt Ermutigung, Berlin 1988
Kanitscheider, B., Chaos und Komplexität, UNIVERSITAS 7/1991
Land, R. Evolution und Entfremdung..., INITIAL 6/1990
Kreibich, R., Elemente eines neuen Fortschrittsmusters, Wissenschaft und Fortschritt 41(1991)3
Landfried, C., Politikorientierte Folgenforschung. Zur Übetragung der Chaostheorie auf die Sozialwissenschaften. Speyer 1993
Langer, J., Grenzen der Herrschaft, Opladen 1988
Luhmann, N., Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 1984
Mandel, E., Trotzkis Theorie über das Verhältnis von Selbstorganisation der Klasse und Vorhutpartei, in: utopie kreativ 3/1990
Müller, K., "Katastrophen", "Chaos" und "Selbstorganisation". Methodologie und sozialwissenschaftliche Heuristik der jüngeren Systemtheorie, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 22(1992)3
Prigigine, I., Stengers, I., Dialog mit der Natur, Frankfurt a. Main, Olten, Wien 1987
Probst, G.J.B.: Selbstorganisation. Ordnungsprozesse in sozialen Systemen aus ganzheitlicher Sicht, Berlin, Hamburg 1987
Rojas, R.: Chaos als neues naturwissenschaftliches Paradigma. Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Heft 88, 22. Jg. Nr. 3
Runge, B., Vilmar, F., Die Bedeutung Sozialer Selbsthilfe für die neuen Bundesländer, 1991
Schlemm, A., Daß nichts bleibt, wie es ist... - Philosophie der selbstorganisierten Entwicklung- , Band I: Kosmos und Leben, Münster 1996
....htm aus: Schlemm, A.: Annettes Philosophenstübchen, im Internet unter der URL: http://www.thur.de/philo/ (die zitierten Dateien, z.B. asso.htm werden aufgerufen als: http://www.thur.de/philo/asso.htm)
Stengers, I., Chaos existiert. Aber Chaos ist nicht alles. Freitag, 23.7.1993, Nr. 35, S. 14
Tainter, J.A., The collapse of Complex societies, Cambridge 1988
Vilmar, F., Kommune aufbauen - vom Kibbuz lernen, in: CONTRASTE Februar 1991



siehe auch:

oder siehe untenSystemtheorie  AutopoieseSelbstorganisationEntwicklungsprinzipienGesellschaftstheorienAttraktoren und ChaosChaosZukunft zum Selbermachen






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