"Die nach uns kommen werden urteilen"
- über Abu Raihan Mohammed Ibn Achmed al Biruni -

In einem fast vergilbten Hefter überstand der folgende Text mehrere Wohnheimumzüge und Wohnungswechsel... Ich schrieb ihn ca. 1981, als ich begonnen hatte, Physik zu studieren. Weil sich meine Tochter plötzlich für beinah vergessene und verschüttete historische Seitenzweige zu interessieren begann, erinnerte ich mich an diese Arbeit. Sie beruht auf der Literatur, die mir damals zugänglich war und wurde angestoßen von einem zweiteiligen Film über Abu Raihan Biruni, der in der Sowjetunion anläßlich seines 1000. Geburtstagsjahres gedreht wurde:

  • Der Zögling des Emirs und
  • Der Widersacher des Sultans.

Ein Brieffreund aus der Sowjetunion besorgte mir damals das Kinoszenarium in russischer Sprache. Alle Abbildungen in dieser Datei stammen aus diesem Szenarium (Darsteller des Biruni: Pulat Saidkassymow). Heute werden diese Filme wohl nicht mehr zu sehen sein... Es war mir zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Textes nicht möglich, genau zu trennen zwischen filmischer Phantasie und realer Geschichtsschreibung - heute ist bereits über das Internet wesentlich mehr Information zugänglich.

Abu Raihan Mohammed ibn Achmed al Biruni wurde am 4.9. 973 in der Nähe von Kjat, der alten Hauptstadt von Choresm (jetzt Birunistadt in der Usbekischen SSR) geboren. Seine Herkunft ist unbekannt, es ist zu vermuten, daß er eine Kriegsweise war. Die Herkunftsbezeichnung in seinem Namen berun (pers.: außerhalb) / barran (arab.: auswärts) läßt nur auf eine Geburt außerhalb der Stadtmauern schließen, nicht auf eine Zureise von entfernteren Gebieten /1/.

Er sollte einer der größten und bedeutendsten Enzyklopädisten des mittelalterlichen Ostens werden.

Der Gelehrte Abu Mansur ibn Irak erkennt sein Talent und wird sein Lehrer. Im Alter von 17 Jahren führt Biruni astronomische Beobachtungen durch, konstruiert fünf Jahre später erste astronomische Geräte und arbeitet bald selbständig. Als Gelehrter hält er sich vorerst meist in Gorgan (Iran) und Urgentsch (am Amu-Darja) auf.


Biruni mit seinem Lehrer Ibn Irak

Zu Beginn der Herrschaft des Machmud von Ghasna entging er nur knapp dem Tode und mußte dann an dessen Hof bleiben, um Machmuds Hof als einen Sammelpunkt der Gelehrten und Künstler zu stützen. In dieser Zeit unternimmt er parallel zu Machmuds Kriegszügen Reisen zu Studienzwecken nach Indien. Auch für alle heutigen Indienhistoriker und -forscher bleiben die Werke Birunis darüber eine wertvolle und objektiv-analytische Quelle.

Über sein Leben und seine Arbeitsweise schreibt ein Zeitgenosse, Moh. Machmud al Nisaburi:

"Zum Leben genügt ihm das allernotwendigste. Biruni war materiellen Reichtümern gegenüber gleichgültig und achtete die alltäglichen Dinge gering, er gab sich vollkommen dem Wissenserwerb hin, war ständig über die Bücher gebeugt, die er zusammenstellte. Seine Hand legte die Feder nie weg, seine Augen beobachteten ständig, und sein Herz war auf das Nachdenken gerichtet..."

Das heißt aber keinesfalls, daß er über seiner Arbeit alles um sich herum vergäße. Das war in dieser Zeit der politischen Wirren (Untergang der Samaniden; Blüte und Untergang der Ghasnawiden in diesem Gebiet) auch gar nicht möglich. Es ist heute nicht mehr nachzuweisen, ob er in die politische Opposition beim Machtantritt Machmuds verwickelt war, oder ob seine Verhaftung tatsächlich nur ein Irrtum war. Auf seinen Reisen durch das Land und in Indien lernte er das Leben der unteren Schichten kennen und bemühte sich, seine Wissenschaft in ihren Dienst zu stellen (P.Bulgakow). Weitgehende Erfolge konnte er nicht erzielen, denn an einer Wissenschaft als Produktivkraft bestand kein gesellschaftliches Bedürfnis. Die arabischen Gelehrten waren stark abhängig von ihren Fürstenmäzenen und selbst Ibn Sina konnte seine wissenschaftlichen Arbeiten nur durch seine Arbeit als gefragter Arzt durchführen.


Biruni mit Ibn Sina

Auch der Wissenschaftler Ulug-Begh wird Jahrhunderte später der Machtpolitik unterliegen. Die Gelehrten bemühten sich jedoch nach besten Kräften, mit ihrem Talent der Wissenschaft zu dienen. Al Bagdadi berichte, daß noch in seiner Sterbestunde Biruni sich nicht von seiner Arbeit lösen konnte:
"Ist es nicht besser, ich verlasse die Welt und kenne das Problem, als daß ich die Welt verlasse ohne das Problem zu kennen?" (1, S. 315)

Biruni starb im Jahre 1048. In der Stiftungsbibliothek der Moschee von Merv soll ein Verzeichnis seiner Werke auf 60 engbeschriebenen Blättern aufbewahrt sein /1/. In der Sowjetunion erschien anläßlich seines 1000. Geburtstages eine Neuausgabe seiner wichtigsten Schriften.

Als teilweise herausragender aber doch typischer Gelehrter seiner Zeit beschäftigte sich Biruni mit allen Wissensgebieten seiner Zeit. Er "war nicht nur Astronom und Mathematiker: seine Arbeiten auf dem Gebiet der Physik und Geographie, zur Geschichte und zur Chronologie, zur Mineralogie und Pharmakologie, seine philosophischen Auseinandersetzungen mit Ibn Sina sind ein unschätzbarer Beitrag für alle diese Wissenschaften /2/.

Die Mathematik war selbstverständlich Grundlage aller wissenschaftlichen Arbeit. Biruni arbeitet auch auf diesem Gebiet schöpferisch und schrieb im Jahre 1027 die Abhandlung "Zur Berechnung von Sehnen im Kreis", in der er die geometrische Trigonometrie beschrieb. Im Jahre 1037 erscheitn dann sein großer "Masud kanon" über Astronomie, Mathematik und andere Wissenschaften. Al-Nisaburi sagtt von ihm: "Er hatte in den mathematischen Wissenschaften einen Vorsprung, dessen Staub nicht die schnell Rennenden durchdrangen". Das wird, wie üblich, leicht übertrieben sein, besagt aber einiges über die Anerkennung Birunis.

Geographie wurde sicher nicht nur als Spezialgebiet der Astronomie verstanden, wie das Bernal schreibt /3/, denn für die Araber als Handels- und Kriegsvolk bestand ein sehr dringendes Bedürfnis nach festen Handelsstraßen und Landesfestlegungen. Von Biruni sind als größte Leistungen dazu die Fertigung eines Globusses schon im Jahre 995 und eine sehr genaue Messung des Äquatorumfangs mit Hilfe indischer Gelehrter bekannt. Dies bedingt eine umfangreiche Praxis in der geographischen Arbeit (Orts- und Entfernungsberechnungen."

Auch als Mineraloge und Geologe forschte Biruni erfolgreich. Nach Brentjes stellt seine Arbeit den Höhepunkt der islamischen Geologie dar /4, S. 63/.

Wahrscheinlich nahm die Astronomie schon in der Ausbildung der jungen Gelehrten eine zentrale Stellung ein. Bei Biruni blieb das Interesse dafür auch sein ganzes Leben lang erhalten. Es ist möglich, daß Biruni den Gedanken einer sich um die Sonne bewegenden Erde alter griechischer Literatur entnommen hat (Philolaos). Explizit verarbeitet er diesen Gedanken nicht. Auch die frage der Erdrotation bleibt unentschieden. Er überliefert eine Geschichte, daß Abu Said al-Sigzi ein Astrolab konstruierte, welches auf der Idee einer rotierenden Erde beruht. Genause - nur erzählend - wird die buddhistische Lehre einer fallenden und rotierenden Erde berichtet, ohne sie zu widerlegen. Weiterhin erwähnt er den indischen Gelehrten Aryabhata (500 u.Z.), der sich mit einer Lehre mit rotierender Erde nicht halten konnte.
In seinem Werk "Schlüssel der Astronomie" bringt Biruni nun Gegengründe, die interessanterweise nicht astronomisch sind und auch nicht aus religiösen Bindungen resultieren. Es geht ihm einfach darum, daß man dann eine Beschleunigung zusätzlich zu einer Geschwindigkeitsmessung feststellen müsse. Biruni ging jedoch so weit, daß er die Geschichte des Amu-Darja mit der Erdrotation in Verbindung brachte (nach H.Kühne in /5/). Auch in /6/ wird eine Anerkennung der Rotation der Erde und ihrer Bewegung im All festgestellt.

G. Strohmaier schließt daraus auf einen "besonnenen kritischen Geist... aber wenig entschiedenem Vorgehen" /7/.Ich bin der Meinung, daß man weiter als Biruni zu dieser Zeit nicht gehen konnte. Das astronomische Weltbild war im Islam zu wenig entwickelt, um Ausgangspunkt einer möglichst objektiven Diskussion sein zu können. Schon das Anliegen Birunis, der auf den experimentellen Nachweis hinwies, war seiner Zeit sehr weit voraus. Erst durch und nach Galilei wurde die physikalische Methode in dieser Richtung weiter entwickelt. Es gab in der islamisch-arabischen Gesellschaft keine objektiven Voraussetzungen, die ein "entschiedenes Vorgehen" tragen und zum Erfolg hätte führen können.

Es ist schwer, bei Wissenschaftlern dieser Zeit eine Einteilung nach ihrer Stellung zur Grundfrage der Philosophie vorzunehmen. Biruni soll philosophisch idealistisch gewirkt haben, in der Naturwissenschaft jedoch materialistische Positionen vertreten haben und sich damit teilweise gegen die Theologie des Islam ausgesprochen zu haben.
Als Grundansichten kann man folgende nennen:

  • Die Wahrheit ist von der Natur abhängig
  • Geistige Fähigkeiten sind Eigenschaften der Körper
  • Das Seiende verändert sich
  • Materie selbst schafft und leitet alle Vorgänge
    Schöpfer ist die Materie selbst
  • Die Natur ist der Maßstab alles Seienden.

Leider ist nach diesen Hinweisen in /8, S. 222/ nicht zu erkennen, wie klar diese Positionen bei ihm hervortraten und welche Wirkungen sie eventuell auf die Zeitgenossen hatten. Seine Verhaftung beruhte auch auf der Anklage der Ungläubigkeit, was aber damals vielen politischen Gegnern nur unterstellt wurde. Ich bin aber der Meinung, daß man hier wirklich Gnade vor (islamischen) Recht gehen ließ. Sein philosophischer Idealismus kommt dann wohl nur in Auftrags- oder Frühwerken zum Ausdruck.

Nach einigem Schwanken erklärt er auch die Astrologie für wissenschaftsfeindlich, was fast einer Absage an die gesamte Wissenschaftspolitik- und praxis seiner Zeit gleichkommt.
Im Briefwechsel mit Ibn Sina taucht sogar die Idee der Vielzahl der Welten auf. Wer wendet sich gegen die Lehre des Aristoteles von den natürlichen Örtern, zu welchen die Körper streben sollen und erklärt diese Bewegung aus Anziehungskräften /9/. Sein Briefwechsel mit Ibn Sina sit sehr bedeutungsvoll für die Entwicklung des dialektischen Denkens.

Biruni geht auch ganz parteilich an die Werke indischer Philosophen heran, wenn er erkennt, daß deren Frömmigkeit in ihren Werken nur aus taktischen Erwägungen folgt. Er wird da auch eigene Erfahrungen haben. Andererseits waren die Verhältnisse sicher nicht so einfach, daß "für ihn... nur die physikalischen Argumente entscheidend" waren, und sich "somit die Frage erledigt, ob er daneben noch auf den Islam... Rücksicht nehmen wollte." /7/
Der Islam als Religion ließ viel Raum für die Entwicklung der Wissenschaft: "Um eine Interpretation der materiellen Welt stritt man nur, doch starb man nicht, ... solange die Einheit und Einzigartigkeit Gottes nicht angetastet wurde" /10/. Es muß aber beachtet werden, daß der Islam als Religion für die jeweiligen Herrscher ein ideologisches Mittel war, und ein Vorwurf der Ketzerei in diesem Zusammenhang nicht ungefährlich.

Nicht erwähnt wurde Birunis Beschäftigung mit der aristotelischen Logik, seine Beiträge zur Dichtkunst und vieles andere. In Anbetracht seiner hervorragenden und oft weit vorauseilenden Ergebnisse ist es wohl nicht übertrieben festzustellen:
"Das Jubiläum des Geburtstages von Abu Raihan Biruni war ein Festtag für die gesamte progressive Menschheit." /2/

Literatur:
/1/ Mitteilungen zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften 1912, Nr. 48, S. 313-319
/2/ Mathematische Schülerzeitschrift "alpha", Oktober 1976
/3/ Bernal: Die Wissenschaft in der Geschichte
/4/ Brentjes, B., Ibn Sina, Teubner 1979
/5/ Hörz. H., Röseberg, U., Die materialistische Dialektik in der physikalischen und biologischen Erkenntnis, Berlin 1981
/6/ Bubleinikow: Viertausend Jahre Kampf um das Weltbild, Leipzig/Jena 1975
/7/ Strohmaier, G., Nicolaus Copernicus, Berlin 1973
/8/ Geschichte der Philosophie, Band 1
/9/ Bulgakow, P., Abbasow, Sch., Abu Raihan Biruni, Kinoszenarium, Moskau 1976 (russ.)
/10/ Brentjes, B., Unter Halbmond und Stern, Berlin 1981

Anhang: Eine Aufgabe aus Birunis Buch "Zur Berechnung von Sehnen im Kreis":

Wenn vom Punkt B eines Kreises zwei Sehnen BA und BC gezeichnet werden und vom Punkt D, dem Mittelpunkt des Kreisbogens AC, das Lot DE auf die größere Sehne AB gefällt wird, dann teilt der Punkt E den Polygonzug ABC in zwei gleiche Teile, d.h. AE=EB+BC.

 

Es ist bekannt daß CD=DA, DE senkrecht AB.
Es ist zu beweisen, daß AE=EB+BC.


 
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.

Also bitte Adresse und Alter mitschreiben.

Zur Biruni-Webseite von Tanja (mit weiteren Links)
 
siehe auch eine Radiosendung am 4.9. 2003:
http://www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-kalenderblatt/2385.html
 
[Homepage] [Gliederung]

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