Emanzipation

aus: Christoph Spehr: Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der Freien Kooperation, zugleich -preisgekrönte! - Beantwortung der von der Bundesstiftung Rosa Luxemburg gestellten Frage: "Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?", Bremen 2000

Emanzipation bedeutet, sich aus erzwungenen Kooperationen zu befreien und freie Kooperationen aufzubauen. Beides ist notwendig. Der Wegfall des Alten verbürgt nicht automatisch das Neue. Emanzipationskämpfe finden in der Situation statt, wo der Preis nicht vergleichbar ist. Sie verlaufen darüber, dass man es hart auf hart kommen lässt: Kooperationen verlässt oder Kooperationsleistungen einschränkt, obwohl der Preis dafür unter Umständen höher ist als für die Gegenseite - weil man entschlossen ist, genau diese Situation zu verändern. Linke Politik bedeutet, andere Emanzipationskämpfe zu erkennen und anzuerkennen und sich dabei gegenseitig zu unterstützen, um das Prinzip der freien Kooperation zu stärken und seinen Einfluss zu vergrößern.

Das Umgekehrte ist ebenfalls möglich. Auch aus der Situation einer freien Kooperation heraus sind Herrschaftsstrategien möglich; um so leichter, als freie Kooperation immer ein Näherungswert ist, ein dynamischer Prozess, kein für alle Zeiten konservierbares Gleichgewicht. Deshalb wird es immer Emanzipationskämpfe geben, und deshalb wird nie der Zustand erreicht, wo eine linke Politik nicht mehr nötig wäre. (S. 27)

Eine Politik der freien Kooperation kommt nicht umhin, eine Entfaltung sozialer Fähigkeiten zu betreiben, mit der sich die Individuen (und Gruppen) dabei unterstützen, die Entscheidung über sich tatsächlich in die eigene Hand zu nehmen. Aufgrund des Kahlschlags, den Herrschaft im demokratischen Zeitalter in diesem Bereich betrieben hat, sind wir ganz oft nicht fähig, unsere Kooperation selbst zu regeln - auch dies gilt wieder für alle Orte der Gesellschaft und alle ihre Kooperationen. Entfaltung sozialer Fähigkeiten ist nichts anderes als das, was subjektive Aneignung heute meinen kann: sich die gesellschaftlichen Erfahrungen und Fähigkeiten individuell und kollektiv verfügbar zu machen. (S. 28)

Schließlich umfasst eine Politik der freien Kooperation auch eine Politik der Organisierung. Organisierung bedeutet, sich mit Gleichgesinnten (oder besser gesagt: in bestimmten Punkten Ähnlichgesinnten) gemeinsam für bestimmte Ziele einzusetzen und dabei gleichzeitig bereits eine alternative Praxis zu entfalten. (S. 29)

"Kooperiert, oder laßt es bleiben" (S. 39)...

Freie Kooperation heißt, diese Logik des Sozialen auf alle Arten und Bereiche von Kooperation anzuwenden und das zu verändern, was ihr entgegensteht. Es ist eine Utopie in Echtzeit. Sie dehnt sich aus und radikalisiert sich - in dem Sinne, dass sie breiter, umfassender und gründlicher wird. Wir brauchen keine utopische Gesellschaft, um damit anfangen zu können. In einem gewissen Sinne ist es egal, wo wir anfangen. Die Frage ist nur, wie weit wir gehen. (S. 40)

Freie Kooperation zieht aus der Komplexität sozialer Systeme und der Problematik von Geltungsansprüchen bestimmte Konsequenzen. Sie beginnt nicht mit einem utopischen Ausgangsmodell, sondern nimmt die aktuelle Situation zum Ausgangspunkt, so wie sie ist. Sie spekuliert also nicht darüber, ob wir mit einem demokratisch-kapitalistischen Modell anfangen sollten oder lieber mit einem realsozialistischen bzw. das eine oder andere erst einmal "einführen" sollten. Sie fragt in der konkreten Ausgangslage: Wo liegt hier überall erzwungene Kooperation vor, durch welche Herrschaftsinstrumente wird freie Kooperation verhindert, was sind Schritte um diese Instrumente unschädlich zu machen oder zu beseitigen. Die Theorie der freien Kooperation überschätzt nicht das einzelne Instrument der Veränderung, sondern denkt in Kriterien, die sich in den fünf "Politiken" niederschlagen: was heißt hier "abwickeln"? wie kann hier eine "Politik der Beziehungen" zur Geltung gebracht werden? usw. Sie lässt Platz für Kontroversen um die Wirksamkeit dieses oder jenes Instruments und für Auseinandersetzungen um die mögliche Geschwindigkeit von Veränderung. Nur die Richtung ist klar; die Logik, der zum Durchbruch und zur Entfaltung verholfen werden soll. (S. 41)

Organisierung:

Organisierung meint nicht "formale Organisation". Es ist eine Politik, die eine Verbindung der Kräfte anstrebt bei dem Projekt, eine andere Logik des Sozialen auf den verschiedensten Feldern von Kooperation zum Tragen zu bringen; eine Logik, auf die man sich im Prozess der Organisierung ansatzweise, versuchsweise, testweise einigt, ohne die eigenen, spezifischen Ansätze darüber aufzugeben.

Organisierung bedeutet, mögliche Gemeinsamkeit in gewollte Verbundenheit zu überführen, sich als Teil eines strategischen Kontinuums zu sehen. Die Formen dieser Verbundenheit können enger oder lose sein, aber es ist mehr als ein Netzwerk, denn es ist eine orientierte Gemeinsamkeit. Sie hat Grundlagen. Sie hat ein Eintrittsticket, das mindestens aus der Überzeugung besteht - wie auch immer formuliert oder artikuliert -, dass Herrschaft existiert und dass Emanzipation nichts Lächerliches ist. (S. 70)

Organisierung kann die Regeln nicht in eigener Regie und aus eigener Kraft ändern. Sie ist wesentlich "Intervention", d.h. sie greift ein in gesellschaftliche Auseinandersetzungen, provoziert sie, regt sie an, wirft Interpretations- und Lösungsmöglichkeiten hinein.(...) Im Sinne der freien Kooperation kann sie den realen gesellschaftlichen Zusammenhang weder stellvertretend repräsentieren noch umfassend steuern. Sie setzt nicht Lösungen durch, sondern korrigiert und kompensiert den Preis, zu dem einzelne Akteure handeln und verhandeln können. (S. 72)

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- Dieser Text ist zu Gast in "Annettes Philosophenstübchen" - 2001 - http://www.thur.de/philo/emanzipation.htm -