Können Marxisten und Sozialisten in der BRD ankommen?

Frank Richter, Freiberg

 

10 Tage vor den Wahlen vom 22. September   2002 schickte ich folgenden Text an das Neue Deutschland (ND), erhielt aber keine Rückmeldung. Der erste Absatz soll hier stehen bleiben, obwohl er durch die Wahlen gegenstandslos wurde. Der Grundtenor des Artikels ist jedoch m. E. nicht widerlegt worden, eher im Gegenteil.

 

 

Die wiederholte Formulierung Schröders im Fernsehduell, die PDS sei nicht in der Bundesrepublik angekommen und insofern für die Sozialdemokraten weitab jeglicher Kooperations- oder gar Bündnisfähigkeit, kann als Aufforderung betrachtet werden, noch einmal über jene Formel vom Ankommen der PDS in der BRD nachzudenken.

Da sich nicht einmal die PDS hinsichtlich dieser Formel völlig im Klaren ist, wollen wir es dem Bundeskanzler nicht zu sehr ankreiden, dass er an dieser Stelle zu einer differenzierten Analyse unfähig zu sein scheint, wobei er möglicherweise nach der Bundestagswahl hinsichtlich seiner eigenen Wiederwahl zum Kanzler im Bundestag ähnliche sprachlich-begriffliche Verrenkungen wie die Anwälte Clintons in der Lewinsky-Affaire hinsichtlich einer Definition von Sex wird anstellen lassen müssen. Wir werden das beobachten.

 

Die Formel vom „Ankommen“ ist natürlich eine Metapher, d. h. ein Bild, das zu vielfältiger Ausdeutung fähig ist. Nicht jeder, der irgendwo ankommt, ist gleich zu Hause und zufrieden mit der neuen Umgebung; Ankommen ähnelt auch öfters mehr einem vorsichtigen Nähern als einer Besetzung des neuen Kampffeldes im Gleichschritt der Bataillone.

Vielleicht ist aber so viel klar: Während man ansonsten auch wieder abreisen kann, wenn einem die neue Welt nicht gefällt, so geht das nun wirklich nicht mehr. Man muß sich also überlegen, wie man – einmal angekommen – sich nun einrichten will, mit welchen Konzepten und Zielsetzungen auch immer.

 

Jenes Briesche Ankommen sollte bedeuten, dass die aus der DDR kommenden demokratischen Sozialisten die BRD nicht einfach als feindliche Umgebung aufnehmen, sondern versuchen, hier einen Platz und damit Tätigkeitsfelder zu finden, auf denen wir unsere Vorstellungen von einem demokratischen Sozialismus wenigstens partiell und schrittweise verwirklichen können. Dazu braucht man Partner, mehr oder weniger Ähnlich-Gesinnte, ansonsten deformiert man sich zur Sekte. Diese Partner muß man davon zu überzeugen suchen, dass demokratische Sozialisten aus der DDR nicht unbedingt verkappte Stalinisten oder Post-Stalinisten sein müssen, und dass diese auch eine konstruktiv-kritische Sicht auf den Marxismus besitzen können, dass sie imstande sind, das Gebilde BRD selber differenziert zu werten – also z. B. nicht alles auf das Wirken des Kapitals zurückführen oder die Möglichkeiten der politischen Demokratie hier erkennen und nicht pauschal als Ausdruck der Kapitalherrschaft verurteilen.

 

Im gleichen Atemzug sollte Ankommen aber auch ein kritisch-selbstbewußtes Antreten auf einer neuen Bühne bedeuten: Mochte das traditionelle realsozialistische Experiment auch gescheitert sein, so hatten wir doch nicht vergessen, dass es nicht nur ein Schwarzbuch des Kommunismus, sondern auch ein solches des Kapitalismus gibt, dass politische Menschenrechte leicht mißbraucht oder verfälscht werden können und dass die sich tendenziell herausbildende bürgerliche Zivilgesellschaft neue Impulse und engagierte Verfechter braucht, soll die globale Revolution nicht ins absolute Desaster führen.

 

Wir demokratische Sozialisten waren und sind selbstbewußt genug, um uns zu jenen Verfechtern zu zählen. So wie die Vereinigung beider deutscher Staaten – wäre sie nicht einfach nur ein Anschließen gewesen – eine neue Chance für ganz Deutschland hätte sein können, so ist auch die Erfahrung eines Lebens in einem sozialistischen Staat wie der DDR gerade wegen der hier ausgelebten und verarbeiteten Widersprüche eine Möglichkeit, die mittlerweile doch sehr blaß gewordene Idee eines demokratischen Sozialismus erneut zu prüfen und vielleicht doch wieder mit Leben zu erfüllen.

 

Man kann es den in der BRD existierenden herrschenden bzw. dominierenden Parteien kaum verdenken, dass sie das nicht verstehen wollen und können. Wir in der PDS können es ja selber kaum, und unsere inneren Zwistigkeiten sind für viele Außenstehende immer wieder ein Argument, um unsere „Glaubwürdigkeit“ anzuzweifeln, wobei freilich viele von jenen uns wirklich nur dann für glaubwürdig halten würden, gäben wir unseren Anspruch als Sozialisten überhaupt und generell auf. Gleichzeitig sind sie nicht flexibel genug, um gerade in unserem inneren Disput ein Indiz für Glaubwürdigkeit zu erkennen. Denn eine Leninsche Einheitspartei neuen Typs sind wir ja nun erwiesenermaßen wirklich nicht, und das war doch die entscheidende Abgrenzung von der Sozialdemokratie, von angeblichem und wirklichem Revisionismus und Reformismus.

 

Es läuft also alles darauf hinaus: Wer aus der DDR kommend hier ankommen will, ohne sich mit Haut und Haaren den existierenden Verhältnisssen unterzuordnen, hat es schwer. Bush würde die DDR zum Reich des Bösen zählen. Hinzukommt, dass wir in der PDS gar nicht genau wissen, wo und wie wir eigentlich hierher gekommen sind. Zumindest gibt es dazu keine einheitliche Meinung. Von welchem Punkt aus haben wir die Reise überhaupt angetreten? Auch hier haben wir genug mit uns selber zu tun – kein Wunder, dass wir dabei kritisch beobachtet werden.

 

Der Kabarettist Werner Schneyder scheint nicht völlig Unrecht zu haben, wenn er im Interview mit Hans Dieter Schütt für das ND vom 22. Juli 2002 sagt: „Die PDS muss sich nach wie vor gegen ein rückwirkendes demokratisches Ausschlußverfahren wehren. Das hat allerdings Gründe, solange in dieser Partei noch die Ansicht hoffähig ist, die DDR sei vom Klassenfeind beseitigt worden und nicht zuvörderst an der Unzulänglichkeit des Systems zu Grunde gegangen. Die Kosmetik der alten Sozialismus-Vorstellungen ist Brauchtumpflege für fortgeschrittene Jahrgänge.“

 

Insofern ist es tatsächlich weder Nostalgie noch einfach rückwärtsorientiertes Denken, wenn wir uns über die DDR jetzt noch den Kopf zerbrechen und zu analysieren versuchen, was das eigentlich für eine Gesellschaft war, in der wir gelebt und für die wir gearbeitet und gekämpft haben. Wenn Harri Nick dem PDS-Vorstand am 19. Juli 2002 im ND Verteufelung der DDR und ihrer Geschichte vorwirft und wenn damit im Zusammenhang die sogenannten Entschuldigungen oder Selbstkritiken als Ausdruck eines Anbiederns bei bürgerlichen Parteien der Bundesrepublik gesehen und deshalb an der Parteibasis vielfach zurückgewiesen wurden und werden, so zeigt das, wie tief die Wurzel dieses Problems liegt.

Interessant ist schon die Argumentation Nicks, man sollte die SED bzw. DDR nicht an ihren Verhaltensweisen in Extremsituationen, sondern in „normalen Zeiten“ bewerten. Das ist eine eigentümliche Nicht-Dialektik. Als ob Extremsituationen nicht gerade (vgl. die Flutkatastrophe!) durch Versäumnisse in Normalzeiten hervorgerufen würden! Wie legt man ökologische oder hier: „politische Reserven“ an, damit ein politisches System nicht bei jedem Rempler ins Schwanken gerät?

Die von Schneyder angesprochene Alternative „vom Klassenfeind beseitigt worden oder zuvörderst an der Unzulänglichkeit des Systems gescheitert“ ist freilich zu absolut: Systeme werden immer auch von außen beeinflußt und manche latente Krise mag dadurch akut geworden sein. So auch hinsichtlich der DDR, wobei „außen“ hier auch der Klassenbruder Sowjetunion sein konnte.

 

Jene von Nick angesprochene Verteufelung ist freilich auch eine Fehldeutungen geradezu provozierende, ja schon fast böswillige Metapher. Niemand in der PDS, glaube ich sagen zu dürfen, hält die DDR in Gegenüberstellung zum Kapitalismus der BRD für die Ausgeburt des Bösen schlechthin, wofür der „Teufel“ ja stehen mag. Dennoch konnte sich der reale Sozialismus nicht als jenes absolute Gute herausbilden, als das er ursprünglich wohl immer gedacht worden ist. Als Dialektiker hätte man das wissen können: Der Weg zur Hölle ist mit den besten Vorsätzen gepflastert...

 

Aber eine Hölle war die DDR doch wohl nicht, oder? Papst Johannes Paul II. definiert 1999: „Die Hölle ist die Situation, in der sich jener wiederfinden wird, der sich freiwillig und endgültig von Gott, Quelle des Lebens und der Freude, entfernt.“

Wie weit hatten wir uns von der Idee des Sozialismus entfernt? Diese Frage wird man unterschiedlich beantworten können: Als Theoretiker, als Praktiker, auf verschiedenen Ebenen des hierarchischen Systems Sozialismus Tätige bzw. Tätiger. Die Debatte um die sogenannten Entschuldigungen oder Stellungnahmen zur SED-Gründung, zum 17. Juni und zum 13. August machen das deutlich. Das wird man auch nicht vereinheitlichen können.

 

Günter Benser kritisiert am 26. April 2002 im ND die apodiktische und seiner Meinung nach zu absolute Wertung der DDR durch die Herausgeber Stefan Bollinger und Fritz Vilmar von „Die DDR war anders. Eine kritische Würdigung ihrer sozialkulturellen Einrichtungen“ (Berlin 2002), wenn diese schreiben: „Das gesamte System war nicht sozialistisch, denn Sozialismus und Diktatur schließen sich aus“. Es hat den Anschein, als würden wir hier niemals zu einer einheitlichen Auffassung gelangen können. Zu viele Argumente gibt es dafür, die DDR nach dem Schema „einerseits-andererseits“ oder   „ sowohl-als-auch“ zu bewerten.

 

Helfen könnte es hier beim Versuch, die unterschiedlichen Fakten, Faktoren, Erfahrungen und Analysen unter einen Hut zu bringen, wenn wir über eine theoretische Konstruktion verfügten, die solches denken ließe. Also: die Ausschließung von Demokratie und Sozialismus wie zugleich die historisch-konkrete Verknüpfung von Demokratie und Sozialismus; die Verbindung von Diktatur des Kapitals und bürgerlichen Menschenrechten, von Zivilisation und Unterdrückung. Ein allgemein anerkanntes Erkenntniskonzept zur Erfassung solch komplexer sozialer Zusammenhänge gibt es bisher nicht. Schon die Verwendung allgemeinerer Begriffe und ihre Hochstilisierung zu den sogenannten ISMen (Sozialismus, Kapitalismus, Materialismus, Idealismus usw.) bringt schwierige Probleme mit sich: War die DDR sozialistisch, ist die BRD kapitalistisch?

 

Kann ein System wie die DDR sozialistisch sein, wenn die Säulen unseres Hauses falsch konstruiert waren (ND 28.06., ND 9.08.), oder waren nur einige der Säulen falsch, andere dagegen richtig konstruiert worden (ND 18. Juli) oder war es so, dass die Sowjetunion uns bei grundsätzlich funktionierender Struktur ständig kontra-funktionelle Anweisungen gab oder war einfach der Imperialismus zu stark? Scheinbar ist jedes dieser Konzepte irgendwie richtig...

 

Man könnte natürlich den Spieß herumzudrehen versuchen: Weil der Kapitalismus menschheitsbedrohend und –zerstörend ist und weil der Sozialismus nur als konkret-historische Entwicklungsform überhaupt in Erscheinung treten konnte, ist die Diktatur (des Proletariats), selbst wenn sie eigentlich gar keine Diktatur des Proletariats gewesen sein sollte,  als Ausdruck des allein damals möglichen Sozialismus nicht  prinzipiell kritisierbar. Auch hatte und hat die moderne bürgerliche Gesellschaft ihre diktatorischen historischen Etappen und systemimmanenten Seiten und deshalb sollten sich die angemaßten alleinigen Verfechter bürgerlicher Demokratie doch eher etwas zurücknehmen.

 

Diese Argumentation ist m. E. jedoch dadurch entkräftet, dass es dem Sozialismus nicht gelang, aus jener Entwicklungsstufe aus eigener Kraft herauszukommen. Das wurde freilich erst 1989/1990 für uns so richtig klar. Insofern gleichen wir dem Pathologen aus dem   bekannten Ärtzewitz: der Pathologe weiß alles, aber er kommt immer zu spät. Jetzt sehen wir manches anders oder auch nur deutlicher als damals, da wir noch an die Gesundung des Patienten glaubten und auch annahmen, etwas in dieser Hinsicht tun zu können.

 

Deshalb ist es auch nicht richtig, in der Auseinandersetzung der verschiedenen Gesellschaftssysteme einfach ein historisches Patt oder irgendeine Symmetrie anzunehmen: Der historische Prozeß, sofern er anhält, scheint sich doch auf die Seite des Gesellschaftssystems zu schlagen, in dem trotz und gerade wegen aller dabei auftretenden Widersprüche die Chance und also auch Hoffnung besteht, die Freiheit der Menschen nicht auf Kosten der Gleichheit anzustreben und schrittweise zu verwirklichen. Die gegenwärtige Realität scheint das freilich nicht zu bestätigen, aber das darf und wird uns in unserem Bestreben, für eine gerechtere Gesellschaft einzutreten, nicht entmutigen. Bei der Gelegenheit werden wir auch mehr Klarheit über Kapitalismus und Sozialismus gewinnen.

 

 

 

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 © Frank Richter am 09.10.2002