Philosophie in der DDR

(Frank Richter, Freiberg)
 
 

Abschnitt 3:  Theologen wider den Materialismus
 
 
 

Natürlich könnte man eine Bestandsaufnahme zum Thema Materialismus und Idealismus auch in der Geschichte beginnen, etwa mit Thales oder Demokrit, Heraklit und Plato - oder gleich bei den philosophierenden Indern und Chinesen. Das wird aber schon in dem Moment problematisch, da gefragt wird, ob in jener frühen Zeit philosophischer Reflexion das Schema Materialismus und Idealismus überhaupt schon greift bzw. ab wann man es denn eigentlich verwenden darf. Insofern ist Geschichte eben doch auch abhängig von aktuellen theoretischen Fragestellungen, und damit bietet es sich an, eher mit letzteren zu beginnen. Eine Geschichte des Materialismus bzw. Idealismus soll es ja sowieso nicht werden. Daß die ganze Kontroverse überhaupt problematisch sein könnte, ist schon angekündigt worden. Die politische Wende in der DDR bot natürlich auch Gelegenheit, über die philosophische Arbeit in den vergangenen vierzig Jahren zu sprechen. Die ziemlich rasche Neuprofilierung der Deutschen Zeitschrift für Philosophie bot u.a. dafür ausreichend Raum und Gelegenheit, wobei Rechtfertigungen selten, Kritiken und Abrechnungen dagegen häufig vorkamen. Das war schon ganz richtig so, andersherum wäre es doch peinlich gewesen. Doch so ganz ausgewogen erschienen mir die Proportionen auch wieder nicht; so fand z.B. ein Aufsatz des Berliner Theologen Richard Schröder zum Thema „Grundfrage der Philosophie. Hinweise zur anstehenden philosophischen Vergangenheitsbewältigung in der DDR" (1) meines Wissens keine explizite Reaktion.
Zunächst sind die Grundpositionen Schröders wenigstens annähernd wiederzugeben:
1. Der Aufsatz beziehe sich durchgehend auf Arbeiten von Alfred Kosing als gültigem Vertreter der in der DDR öffentlich relevant gewordenen Fassung der Lehre von der Grundfrage der bzw. aller Philosophie.
2. Diese Lehre ist ein Hohn auf die Philosophie, zumal sie auch den Zugang zu dem, was Marx bewegt hat, gründlich verstellt.
3. Die These vom Kampf zweier Linien ist dualistisch und undialektisch und gleichzeitig eine Denkfigur, die fatal an die stalinistischen Schauprozesse erinnert.
4. Die These vom Bewußtsein als einem Produkt der Materie läßt sich nicht zwingend aus der Evolutionstheorie ableiten.
5. Beim Versuch, Materie als unabhängig vom Bewußtsein existierende Außenwelt zu bestimmen, geraten wir in ein kategoriales Chaos.
6. Die Bestimmungen des Bewußtseins als „Produkt und Eigenschaft der Materie" sind mit unserer Selbsterfahrung nicht kompatibel und insofern keine Antwort auf die Frage nach dem Bewußtsein.
7. Gehirnfunktionen können nicht mit Bewußtsein gleichgesetzt werden. Insofern bestehen die Aussagen Kosings aus disparaten Sprachelementen in sachfremdem Kontext.
8. Die ethisch-moralische Dimension des Bewußtseins entgeht Kosing vollkommen, das paßt zu der Tatsache, daß die Ethik bis heute der schwache Punkt im bisherigen Marxismus-Leninismus geblieben ist.
9. Kosings Bestimmungen des Idealismus behandeln die größten Denker des Abendlandes wie dumme Jungen; sie konstruieren ein Feindbild um der eigenen Stabilität willen.
10. Man tut Marx und Engels Unrecht, wenn  man sie zu den Vätern einer solchen Lehre erklärt. Sie reduzierten die Geschichte der Philosophie nicht auf einen Linienkampf, sie verstanden sich weder als Materialisten noch überhaupt als Philosophen und schon gar nicht als Ideologen.
11. Die entscheidende Positionsbestimmung für Marx und Engels findet sich in deren Ideologiekritik, und nicht etwa in der Frage nach der Weltschöpfung, die - was Engels selbst betont - für die vorchristliche Philosophie überhaupt kein Thema war. Für Engels ist die Grundfrage dann wiederum mit dem Ende der Philosophie selber erledigt.
12. Noch fehlt uns die Antwort auf die Frage: Wie geriet die marxistische Philosophie in die klägliche Lage, in der wir sie nun antreffen? Die entscheidende Ursache dafür liegt aber offensichtlich in einem Wandel des Theorieverständnisses in der Geschichte des Marxismus, der von den Frühschriften über die Konzipierung eines wissenschaftlichen Sozialismus durch Engels und die Wiederaufnahme des Ideologiekonzeptes durch Lenin reicht, wobei dann Stalin in dieses Muster seine Kodifikation des dialektischen und historischen Materialismus eingefügt habe.
Insofern geriet das Programm einer „massenhaften Verbreitung der   sozialistischen Ideologie" zu einem solchen der entmündigenden Bewußtseinsverwaltung.-

So weit der Versuch, den Aufsatz Schröders zusammenzufassen und damit eine Grundlage für die Diskussion zu haben. Wenn Schröder Recht hat, dann ist wohl dieser Eindruck nicht verkehrt: Es ist so, als ob die ganze Decke einstürzt, alles zerschlagend und mit sich reißend, was vielleicht doch noch zur Erklärung und Rechtfertigung vorgebracht werden könnte. Es geht um die Rolle der DDR-Philosophie als Ganzes, und wenn die Problematik der Grundfrage der Philosophie - die ja dann vor allem die Grundfrage des dialektischen und historischen Materialismus war und ist - tatsächlich so dilettantisch traktiert worden ist wie Schröder meint, so kann hier wirklich niemand mehr helfen. Die theoretischen Mängel sind ja dann als Existenzbedingung nicht nur der DDR-Philosophie, sondern geradezu der gesamten DDR-Gesellschaft zu erklären und befanden sich damit außerhalb jeglicher Korrekturmöglichkeit. Wenn ein „Philosoph" das nicht zu erkennen vermag, dann war er eben keiner...
Nun haben sich aber auch Persönlichkeiten wie der griechische Philosoph Platon hinsichtlich der Möglichkeit geirrt, Staatswesen und Staatslenker durch Philosophie verbessern und läutern zu können - und niemand spricht deshalb Platon das Attribut des Philosophen ab. Das tut auch Karl R. Popper nicht, der die platonische Philosophie für dieses Konzept allerdings energisch kritisiert.(2) Der Versuch von DDR-Philosophen, Gleiches zu tun, und das dürfen wir ihnen wohl in der Mehrzahl unterstellen,(3) muß also differenzierter bewertet werden, als dies Schröder tut. Für Peter Ruben ist die deutsche Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg - und damit auch die Geschichte der DDR-Philosophie - die historische Folge der mörderischen Aggression, die das nationalsozialistische Deutschland gegen die Völker Europas und der Welt unternommen hat. Die DDR ist gleichzeitig als die deutsche Gestaltung einer Parteinahme aufzufassen, die wenigstens seit der Novemberrevolution von 1918 politisch präsent ist und in der die Vorstellung von einer revolutionären Lösung der sozialen Frage verwirklicht werden sollte. Diese Parteinahme sei durch den Herbst 1989 nicht als null und nichtig erklärt worden, sondern als beendet und daher als gegebene Voraussetzung weiterer Entwicklung bestimmt.(4)
Freilich muß man nun wieder fairerweise den Gedanken ins Spiel bringen, daß schon vor 1918 bzw. 1917 ein theoretischer Wandel im Marxismus eingetreten war, der natürlich auch dessen Philosophie und damit die theoretischen Reflexionen über jene anzustrebende soziale Revolution wesentlich beeinflußt hat. Hier entsteht bereits jener Zirkel von „Wahrheit und Parteilichkeit", aus dem man solange nicht herauskommen kann, wie man Entwicklung der marxistischen Philosophie ausschließlich von ihren sozialen Voraussetzungen und Wirkungen her beurteilt. Offensichtlich müssen ganz konkrete historische Situationen und die persönlichen Biographien der Betroffenen herangezogen werden, um erklären zu können, warum sich Philosophen in diese Zirkularität hineinbegeben haben bzw. sich aus ihr nicht lösen konnten oder wollten. Erst so könnte deutlich werden, wie persönliche Entscheidungsspielräume und schicksalhafte Fremdbestimmung miteinander in Wechselwirkung gerieten und ganz individuelle Persönlichkeiten heranwuchsen, die in der DDR zumeist in der SED und mit der SED philosophisch arbeiten wollten - selbst wenn sie durch diese Partei, deren maßgebende Funktionäre in den entsprechenden Situationen häufig ja selber Philosophen waren, in ihrer Arbeit, in ihrem ganzen Lebenslauf beeinflußt und z. T. massiv behindert wurden. Das ging bis zu Berufsverbot, entsprechenden „Praxiseinsätzen" und Gefängnis. Zu diesen Kategorien gehörte ich, wie die meisten meiner Kollegen, nicht. Während meines Studiums der Metallkunde an der Bergakademie Freiberg von 1956 bis 1961 traf ich zwei Entscheidungen, die mein Leben bestimmten: Ich stellte den Antrag, Kandidat der SED zu werden - was mit Karrierismus nichts zu tun hatte, denn unser Professor war alles andere als sozialismusfreundlich. Aber gerade das reizte mich, und außerdem schämte ich mich, nur „theoretisch", kontemplativ, für die Sache des Sozialismus zu sein, die ich unbedingt für gut hielt, ungeachtet aller Probleme bei ihrer Verwirklichung. Die zweite Entscheidung nun betraf die Hinwendung zur Philosophie, wozu ich an anderer Stelle schon das Notwendige gesagt habe.
Berücksichtigen wir die allgemeine politische Situation damals, welche zum einen immer noch durch die Orientierungen des XX. Parteitages der KPdSU auf Beseitigung von Dogmatismus und Personenkult propagandistisch, praktisch aber schon längst wieder im Nachgang zu den Ereignissen in Ungarn (alles im gleichen Jahr 1956) auf politische, nun schon wieder dogmatische Zuspitzung auch innerhalb der Partei hin bestimmt war, so wird verständlich, warum Herbert Hörz sich nicht als politischer Philosoph, sondern als Wissenschaftsphilosoph verstehen wollte, als er nach der Wende Stellung zu seiner Rolle in der DDR bezog.(5) Das ist falsch und richtig zugleich, wobei es mir hier nicht um die Person von Herbert Hörz geht, sondern um die Frage, ob es so etwas wie „Nischenphilosophie" überhaupt geben kann und ob politische Verantwortungslosigkeit nicht gerade darin bestehen konnte, sich in eine Nische zurückzuziehen und - ich sage es einmal vulgär - die Drecksarbeit andere machen zu lassen. Nun galten Philosophen aus der Sicht vieler Parteifunktionäre sowieso nicht unbedingt als die verläßlichsten politischen Kader, hier schienen immer Gefahren für die ideologische Einheit und Reinheit in der SED zu bestehen. Schon der kleinste Ansatz zu mehr Selbständigkeit und Meinungsstreit wurde mit Mißtrauen beobachtet und dann bekämpft. Arbeitete man dann später an einer, zumal noch relativ kleinen Sektion Marxismus-Leninismus, in der die Philosophen kaum unter sich, sondern fast immer im Gespräch mit den anderen „Bestandteilen" waren, so konnte von „Nische" kaum geredet werden, obwohl eine gewisse Sonderstellung immer geblieben ist.
Innerhalb dieses Bedingungsgefüges gab es dann tatsächlich gewisse Spielräume, bis hin zu der Grenzsituation, diese Profession tatsächlich aufzugeben. Für wen das nicht in Frage kam, der mußte einen anderen Weg finden. Natürlich spielten in dieser Ebene dann auch Karriereabsichten und Sozialprestige eine Rolle, aber auch Beziehungen, die zu Naturwissenschaftlern und Ingenieuren entstanden waren. Diese hatten uns zu akzeptieren gelernt, nachdem sie dieser neuen Gilde von Philosophen anfangs durchaus zurückhaltend und mißtrauisch begegnet waren. Weiterbildungen, z. B. in Gestalt der sog. marxistisch-leninistischen Abendschule („MLA"), aber auch weiterführende Lehrveranstaltungen für die höheren Studienjahre, wir nannten das auch ML-de luxe, fanden überwiegend positive Resonanz, weil die Teilnehmer das Bemühen um neue Ansätze und Problemlösungsstrategien sahen und akzeptierten. Freilich wurde es in den letzten Jahren der DDR, zumal nach der restriktiven Reaktion der Führung der SED auf Gorbatschow, immer schwieriger, philosophische Ansprüche und bestehende Realität miteinander zu vermitteln.
Vielleicht so viel aus meiner Sicht zur politischen Situation von DDR-Philosophen; was sich darüber hinaus in den Führungsetagen abgespielt hat, muß zu schildern denen überlassen bleiben, die dort tätig waren. So viel ist jedenfalls klar: Es gab an Hochschulen die Möglichkeit, eine solche Atmosphäre zu schaffen, in der um theoretische Probleme gestritten werden konnte - wenn es uns schon nicht gelang, sie in einem für die Gesellschaft relevanten Sinne zu lösen.
Das könnte ich nun ausführlich an dem Fall erläutern, wie zu dem von R. Schröder angesprochenen Problem der Grundfrage der Philosophie durchaus versucht werden konnte, über bestimmte Positionen von A. Kosing und anderen hinauszukommen, ja selbst an dem sakrosankten Leninschen Materiebegriff Veränderungen vornehmen zu wollen. Insofern ist die Beschränkung Schröders auf die Person und Position Kosings bedauerlich, weil sie die Tatsache zudeckt, daß es doch auch in der DDR ein philosophisches Leben gegeben hat, das sich auf die von Schröder zunächst richtig gezeigten Begrenzungen dann doch nicht reduzieren läßt. Ob sich die DDR-Philosophen statt dessen über 40 Jahre lang hätten in die innere oder äußere Emigration begeben sollen, müssen wohl eines Tages diejenigen beantworten, die unsere Gesprächspartner waren.
Meine erste, als solche bewußt empfundene philosophische Erfahrung war, daß die modernen Wissenschaften Schwierigkeiten mit dem philosophischen Materialismus haben und umgekehrt. Ich bedauerte diesen Zustand und wollte gleichzeitig die Ursachen dafür kennenlernen. Am Lehrstuhl für philosophische Probleme der modernen Naturwissenschaften in Berlin fand ich dafür viele Partner und Gleichgesinnte, wenngleich die Zahl derjenigen weitaus kleiner war, die die Ursachen für die Komplikationen zumindest auch im jeweiligen Zustand des Materialismus sehen wollten. Wenn Physiker wie Einstein oder Heisenberg den Materialismus für überholt und dann wie der letztere lieber bei Platon Ausschau hielten, ob sich dort eine Philosophie findet, die zur Welt der Elementarteilchen besser paßt, so gab es natürlich immer die Möglichkeit, auf folgende Weise zu argumentieren: Sie kennen offensichtlich nicht den besseren, den dialektischen Materialismus, sondern nur den schlechteren, den mechanischen oder metaphysischen, wie wir mit Engels sagten. Wenn sie den ersteren aber nicht kannten, obwohl sie doch die Gelegenheit dazu hätten (sie brauchten ja nur Engels oder Lenin zu lesen), dann konnten es nur politische Gründe sein, daß sie es nicht taten. Damit war es keine Frage des Materialismus mehr, sondern eine politische, und es kam darauf an, die Wissenschaftler von der Richtigkeit und Gültigkeit des marxistischen Materialismus zu überzeugen. Insofern es so war, hat Schröder mit seiner Feststellung recht. Aber, wie gesagt, es war nicht nur so. Im Bereich des Lehrstuhls wurde zum Determinismuskonzept gearbeitet, zum Widerspiegelungsbegriff (da z.B. eine Analyse der mathematischen Denkweise sehr schnell einen mechanizistischen, naiven Abbildbegriff widerlegt), zur Entwicklungsproblematik in der Biologie und Genetik und vieles andere mehr. Hermann Ley, Herbert Hörz oder auch Rolf Löther, Hubert Laitko und später Karl-Friedrich Wessel sollen hier genannt werden, um die sich mehrere Generationen von Absolventen des Lehrstuhls scharten. Die Zahl der Publikationen zu den genannten und anderen Themen ist Legion, und die von dieser Schule in vielen Jahren organisierten Konferenzen, verstreut über die ganze Republik, haben das geistige Leben an den Hochschulen schon nicht unbeträchtlich mitbestimmt. Das wird man nicht wegdiskutieren können, auch wenn eine genauere Analyse Defizite deutlich macht, die offensichtlich politischen Bedingungen geschuldet sind, und wo vorauseilender Gehorsam und die berühmt-berüchtigte Schere im Kopf vielleicht doch Denkbares und Mögliches verhinderten. Eine umfassende Analyse und Kritik der politischen und antiwissenschaftlichen Wirkungen des sowjetischen Biologen T. Lyssenko - also des Versuches, wissenschaftliche Sachfragen politisch zu „entscheiden" (was ja nur in der Liquidierung der Forschungsrichtung, wenn nicht sogar des Forschers selber bestehen kann) - hat es in der DDR durch Philosophen m. W. bis zur Wende nicht gegeben, wenn ich davon absehe, daß H. Hörz zur Kennzeichnung politisch deformierter Wissenschaft den Begriff „Lyssenkoismus" verwendet.(6) Im Wörterbuch „Philosophie und Naturwissenschaften" (Dietz Verlag Berlin, 2.Aufl.) gibt es kein Stichwort „Lyssenkoismus". Deutlicher haben sich da die Biologen selber geäußert.(7) Die spätere Bildung eines separaten Lehrstuhls für philosophische Probleme der Gesellschaftswissenschaften trug - trotz anfänglicher mehr oder weniger ernstgemeinter gegenteiliger Versuche - dazu bei, das Gebiet Philosophie/Natur- und Technikwissenschaften aus allgemeineren philosophischen Erörterungen herauszuhalten. Herbert Hörz nannte den an der Akademie der Wissenschaften gebildeten Bereich „Philosophie/Wissenschaften", obwohl die wesentlich von ihm geschriebene „Philosophische Entwicklungstheorie" (8) dann doch wieder weitgehend auf die Naturwissenschaften bezogen war. Andererseits ergaben sich dadurch auch wieder Freiräume, und es konnten wenigstens auf diesem Gebiet neue Überlegungen, etwa zum Gesetzesverständnis, angestellt werden.
Die umfassendste Blockierung gab es jedoch zur Materialismus-Theorie selber. Natürlich zählen Fragen des Determinismus oder der Entwicklungstheorie im weiteren Sinne zum philosophischen Materialismus; die von R. Schröder angesprochenen Fragen blieben jedoch zumeist außen vor. Dabei hätte es ja durchaus die Möglichkeit gegeben, aus philosophischen Reflexionen zur Kosmologie, zur Gehirnphysiologie oder zur Evolution im Anorganischen wie Organischen Konsequenzen für die materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie zu ziehen. Das geschah entweder gar nicht oder wenn doch, dann eher restriktiv: Die Entwicklung „realistischer" Konzepte wurde immer als ein Angriff auf den Materialismus gewertet.(9) Der u.a. von Schröder zum Gegenstand seiner Polemik mit Kosing genommene Aufsatz in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie aus dem Jahre 1969 war jedoch schon einmal - und zwar im Jahre 1972 - erörtert und kritisiert worden.(10) Es ging mir dabei im wesentlichen um folgende Punkte:
1. Um dem philosophischen Materialismus das Image des naiven Alltags- und Wissenschaftsrealismus zu nehmen, muß der Kontext genau beachtet werden, in dem der Materiebegriff verwendet wird. Ein einfaches Austauschen des Materie- und des Gegenstandsbegriffs führt sonst zu Konstruktionen wie „subjektunabhängige Gegenstände der Erkenntnis". Der immer erforderliche Zugriff des Subjekts auf seine Gegenstände wird dabei nicht deutlich, und es wird an einem Erkenntnisbegriff festgehalten, den schon Marx in seiner ersten These über Feuerbach kritisierte. In diesem Zusammenhang ist dann tatsächlich präzise zwischen Materialismus und Realismus zu unterscheiden wie auch zwischen den Beziehungen Materie/Bewußtsein und Objekt/Subjekt.
2. Wenn - wie Kosing es tat - die Grundfrage der Philosophie als Ausdruck des theoretischen Verhältnisses von Materie und Bewußtsein verstanden wird, dann ist unklar, wieso innerhalb dieser Frage auch das sogenannte strukturelle wie das genetische Primat der Materie gegenüber dem Bewußtsein ihre Behandlung finden können. Ob und wie die Materie das Bewußtsein „genetisch", also über die Evolution hervorgebracht hat, und wie Materie und Bewußtsein im Kopf des Menschen, also im Gehirn zusammenhängen, muß dann Gegenstand eines philosophischen Materialismus sein, der weit über die Grundfrage der Philosophie hinausgeht.
3. Auch die Debatte um den und mit dem sog. objektiven Idealismus ist mit der materialistischen Beantwortung der Grundfrage noch nicht entschieden, insofern ist die Grundfrage „nur" der theoretische Kern des Materialismus und nicht die ganze Theorie selber.
4. Da im Marxismus unter „Materie" nicht nur Vorgänge, Strukturen und Dinge in der Natur, sondern auch entsprechende gesellschaftliche Prozesse usw. verstanden werden, können die bei Kosing vorkommenden „ontologischen" Bestimmmungen keinesfalls auf das Verhältnis von Materie und Bewußtsein generell zutreffen, selbst wenn man sie für die Beziehung von Natur und Bewußtsein akzeptiert.
5. Letztendlich habe ich damals den Versuch unternommen, die auch von Schröder angemerkte Problematik der Relation des „außerhalb" in der Bestimmung des Materiebegriffs durch Lenin und damit also des Verhältnisses von Materie und Bewußtsein zu erörtern, indem ich vorschlug, sie aus der Definition herauszunehmen. Zwischen Materie und Bewußtsein kann es keine räumlichen Beziehungen geben.-
Ich freue mich heute noch darüber, den Artikel geschrieben zu haben, obwohl ich beim nochmaligen Lesen, vor allem im Anfangsteil, Passagen finde, die sehr kritisch sehen muß: Ich will dort die Beschlüsse des VIII. Parteitages der SED mit durchsetzen helfen und will die Auseinandersetzung mit der imperialistischen Ideologie fördern. Von Toleranz und Dialog ist nicht die Rede - mit einer Ausnahme, wo es um die Diskussion zwischen Wissenschaftlern und Philosophen geht. Man kann aber auch die andere Seite sehen wollen: Der Parteitag hatte die Entwicklung des wissenschaftlichen Meinungsstreites gefordert, und als eine der Ursachen für Probleme im Dialog mit den Wissenschaftlern verwies ich auf ungelöste theoretische Probleme im System des philosophischen Materialismus.
Es ist m.E. für mich wie für andere auch heute sicher wenig sinnvoll, nachträglich die freilich denkbare Position zu konstruieren, daß ich mir - zumal nach den Ereignissen in der CSSR 1968 - damals darüber im Klaren hätte sein müssen, daß es mit dem Meinungsstreit nichts werden konnte, weil die SED daran gar kein Interesse haben durfte. Ich hatte die Absicht, die versprochene Möglichkeit des Meinungsstreites einzufordern und merkte natürlich an der ersten Reaktion der Redaktion der Zeitschrift, wie eng die Bandagen immer noch waren. Aber der Artikel erschien dann doch, wenngleich er auch keine öffentliche Diskussion auslöste. Der nicht gerade überzeugende Ausgang der Diskussion um die Rolle des Praxisbegriffes in der marxistischen Philosophie wenige Jahre zuvor in der gleichen Zeitschrift ließ die Verantwortlichen wohl davon Abstand nehmen. Zum einen bedauerte ich das, war andererseits aber auch opportunistisch genug, darüber nicht in Verzweiflung zu geraten. Die Diskussion wäre für mich wahrscheinlich schlimm ausgegangen.
R. Schröder hat also mehr Recht als Unrecht, wenn wir es uns recht überlegen. Aber er hat eben nicht nur Recht.

Literatur:

1) Richard Schröder: Grundfrage der Philosophie. Zur anstehenden philosophischen Vergangenheitsbewältigung in der DDR. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 38 (1990), H.11, S.1064
2) Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I. Der Zauber Platons. Francke Tübingen 1957
3) vgl. dazu: Peter Ruben: Die DDR und ihre Philosophen. Über Voraussetzungen einer Urteilsbildung. In: Dt. Z. f. Philosophie 39 (1991), H. 1, S.52
4) ebenda S. 51
5) Herbert Hörz: Wissenschaftsphilosophie in der DDR. Versuch einer kritischen Betrachtung. In: Dt. Z. f . Philosophie 39 (1991), H.1, S.66
6) Herbert Hörz: Wissenschaft als Prozeß. Berlin 1988, S. 47
7) z.B. Elisabeth Günther: Die materielle Grundlage der Vererbung. In: Mikrokosmos - Makrokosmos. Akademie Verlag Berlin. Bd. 2, 1967, S.373. Auch E. Geissler wäre hier zu nennen.
8) Herbert Hörz und Karl-Friedrich Wessel: Philosophische Entwicklungstheorie. Akademie Verlag Berlin 1983
9) so z.B. bei dem ansonsten wirklich nicht ängstlichen K. F. Wessel, der ein naives Materialismuskonzept gegen den "hypothetischen Realismus" Bernd Vollmers verteidigt, s. dazu: H. Hörz und K.F. Wessel: Philosophische Entwicklungstheorie, a.a.O.
10) Frank Richter: Zum Verhältnis von Grundfrage der Philosophie und Objekt-Subjekt-Dialektik. In: Dt.Z.f.Philosophie 20 (1972), S.1012


1996/1997