Philosophie in der DDR

(Frank Richter, Freiberg)
 
 
Abschnitt 5: Naturalismus und Materialismus bei Karl Marx
 
 Wie Marx zu Feuerbach stand und ob Marx überhaupt Materialist war
 

Es beginnt mit der Kritik an der Religion

Als Karl Marx im Jahre 1836 nach Berlin kam, um hier Rechtswissenschaften zu studieren, dann jedoch bald zur Philosophie überwechselte, war Hegel schon einige Jahre tot. Dessen Gedankenwelt war jedoch noch sehr lebendig, wogegen sein Nachfolger auf dem philosophischen Lehrstuhl der Universität, Friedrich Schelling, seine beste Zeit schon wieder hinter sich hatte. Marx reihte sich deshalb folgerichtig in die Schar der Junghegelianer ein, zu der auch Bruno Bauer, Max Stirner, D.F. Strauß, Ludwig Feuerbach, Ruge und vorher schon Friedrich Engels gehörten. Innerhalb der Philosophie des Vormärz zogen sie aus der Dialektik der Hegelschen Philosophie antifeudale und atheistische Schlußfolgerungen; sie verwandelten philosophische Kritik in politische und spielten insofern bei der Vorbereitung der Revolution von 1848 eine progressive Rolle.
Einen besonderen Höhepunkt stellte dabei das Erscheinen von Feuerbachs "Wesen des Christentums" im Jahre 1841 dar. Marx und Engels wurden sofort "Feuerbachianer", wie sie bekannten. Während für Hegel die Natur nur das entfremdete "Andere" gegenüber dem Geist darstellte, räumte Feuerbach der Natur, der Sinnlichkeit wieder die entscheidende Rolle für das Leben des Menschen ein. Es war dann nur konsequent, wenn er - über David Strauß weit hinausgehend, der immerhin Jesus Christus als reale geschichtliche Persönlichkeit auffaßte - in "Gott" als dem unendlichen Wesen das Wesen des Menschen erkannte. (Ob und inwieweit insbesondere Engels die Überlegungen Feuerbachs ausreichend und richtig interpretiert hat, darüber hat eine Diskussion innerhalb der marxistischen Theorie begonnen.)

Feuerbachianer kritisieren Feuerbach

Für Marx war das freilich noch längst nicht das letzte Wort, sondern immer noch viel zu sehr unkonkrete, unhistorische "Wesenserkenntnis". Es war ja überhaupt die Frage noch zu stellen und dann zu beantworten, warum Menschen ein solches höheres Wesen benötigen bzw. ob man daran etwas ändern konnte.  Bevor wir auf die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte zu sprechen kommen, in denen Marx zunächst dieses Konzept zu verwirklichen suchte, sollen die Feuerbach-Thesen (1845 von Marx geschrieben und von Engels wiederentdeckt und 1888 veröffentlicht) noch etwas genauer erörtert werden. Die Materialismus-Problematik wird in diesen Thesen mehrfach - direkt und indirekt - berührt. In der ersten These übt Marx Kritik am bisherigen Materialismus, den Feuerbachschen direkt erwähnend, dessen Hauptmangel darin bestehe, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt werde, nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher sei die tätige Seite vom Idealismus entwickelt worden. Dieser habe das aber wiederum nur in einem abstrakten Gegensatz zum Materialismus tun können, da er ja als Idealismus wiederum die wirkliche sinnliche Tätigkeit als solche gar nicht kenne.(1) Feuerbach seinerseits, der zwar sinnliche, von Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte wolle, menschliche Tätigkeit aber nicht als gegenständliche Tätigkeit begreife, muß das theoretische Verhalten als das eigentlich menschliche bestimmen.(2)
Feuerbach könne also den Idealismus so lange nicht überwinden, wie er bei dieser herkömmlichen Position stehen bleibt - wogegen Marx sie zu überwinden trachtet und deshalb in der zehnten These von einem neuen Materialismus spricht, dessen Standpunkt nicht mehr die bürgerliche Gesellschaft, sondern die menschliche Gesellschaft bzw. die gesellschaftliche Menschheit sei. Die Kritik am damaligen Materialismus ist schwerwiegend, trifft aber nicht nur die damalige materialistische Philosophie, sondern darüber hinaus auch vielfach noch den Materialismus von heute sowie den Betrieb in den Naturwissenschaften, soweit diese nicht von den erkenntnistheoretischen Problemen von Quantenmechanik und Relativitätstheorie berührt werden. Die im Denken des Alltags und der Wissenschaft vielfach ausreichende erkenntnistheoretische Auffassung, die Objekte stünden den Subjekten zunächst beziehungslos gegenüber und könnten gerade deshalb und nur deshalb wiederum objektiv und zugleich wahrheitsgetreu ("objektive Wahrheit") abgebildet werden, kann und muß philosophisch befragt werden. Für eine erkenntnistheoretische Analyse der Gesellschafts-, Geistes- und Technikwissenschaften mag das leicht zu verstehen sein; ob ein solches Vorgehen jedoch tatsächlich auch für die Naturwissenschaften und dann auch für die Erkenntnistheorie generell gelten kann, war stets umstritten, und das wird wohl auch immer so bleiben. Materialistische Philosophen hat es oft vor dieser Konsequenz geschaudert, weil das letzte Fundament der Objektivität verloren zu gehen drohte, und auch Naturwissenschaftler haben in solchen Betrachtungen vielfach keinen Sinn gesehen.

Tatsächlich ist das eine komplizierte Angelegenheit; und wie kompliziert sie ist, macht Marx unfreiwillig selber deutlich, wenn er sich zur Beschreibung obigen Sachverhaltes einer Terminologie bedient, die der Beförderung der Sache nicht unbedingt dienlich ist: Er verwendet den Objektbegriff in einer solchen einschränkenden Weise, daß er nur für die Beschreibung eines anschauenden Verhältnisses des Subjekts zum Objekt geeignet erscheint; es wird nicht deutlich, daß sich ein Subjekt ein Objekt immer nur durch einen aktiven Zugriff aneignen kann. Selbst in einer anschaulich-kontemplativen Beziehung zum Objekt, z. B. im Fall einer Sternenbeobachtung oder einer Beobachtung von Tieren in der freien Wildbahn, arbeitet der Forscher mit methodologisch mehr oder weniger gesicherten Beobachtungsstandards und vorausgesetzten theoretischen Hypothesen - selbst wenn letztere im Resultat der Beobachtung nicht unbedingt bestätigt werden müssen. Marx befindet sich in dieser Frage freilich in guter Gesellschaft. Hegel nennt das theoretische Verhältnis des Subjekts zum Objekt auch betrachtendes Verhältnis.(3)

Andererseits finden wir in der Gegenwart Philosophen und Soziologen, die die Objekt-Subjekt-Philosophie durch eine System- oder Kommunikationstheorie ersetzen wollen, weil erstere weder die eigentlichen Beziehungen zwischen Objekten und Subjekten noch die Gesellschaftlichkeit des Subjekts, dessen kommunikative Strukturen, zu reflektieren imstande seien. Tatsächlich sind die traditionellen Begriffe von Objekt und Subjekt auf die Trennung von Objekt und Subjekt sowie auf die Individualität des Subjektes hin fixiert. Aber spätestens Kant relativiert den ersten Aspekt und Hegel dann den zweiten. Insofern ist es durchaus legitim, die Begriffe von Objekt und Subjekt so zu verallgemeinern, daß sie sowohl die wechselseitige Beziehung von Subjekt und Objekt als auch die komplizierte Struktur der Subjekte erfassen.(4) Die Praxis hat in beiden Aspekten ihren Platz.

Saubere Theorie und schmutzige Praxis?

In der zweiten These vertieft Marx den Gedanken von der auch theoretischen Bedeutung der revolutionären, praktisch-kritischen Tätigkeit. Während im traditionellen Wissenschaftsbetrieb theoretisch "saubere" Hypothesen oder Theorien gezwungenermaßen an der "schmutzigen" Praxis überprüft werden müssen, um sie dann menschlichen Bedürfnissen zugänglich machen zu können, besitzt für Marx die Praxis von vornherein einen höheren Stellenwert als das von der Praxis losgelöste Denken. Der praktisch-kritischen Tätigkeit wird dann später auch Lenin die Priorität zusprechen, auch wenn die meisten marxistischen Erkenntnistheoretiker die zweite Feuerbachthese ganz traditionell gelesen haben. Tatsächlich haben wir ein sehr kompliziertes Problem vor uns, das bis in die letzten Jahre hinein zwischen den sog. Finalisierungstheoretikern und den kritischen Rationalisten heftig umkämpft war. Die ersteren akzeptieren, daß zumindest in bestimmten Phasen der Wissenschaftsentwicklung theoretisches Wissen direkt produktionstechnisch oder politisch angelegt sein kann, während die anderen in solcher Finalisierung immer einen Mißbrauch der Wissenschaft zu erkennen glauben. "Lyssenkoismus" erscheint hier als das politische Brandmal - in direkter Anspielung auf die mit dem Namen Lyssenkos verbundenen Versuche in der UdSSR der dreißiger bis sechziger Jahre, die Entwicklung der Genetik zu verhindern bzw. zu hemmen.
Für unser Thema ist es wichtig zu wissen, daß Lyssenko und andere ihre These, daß die Umwelt den entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der Lebewesen einschließlich des Menschen nimmt, für materialistisch hielten, die in der Genetik dominierende Position, daß zumindest eine ganz entscheidende Rolle die Erbanlagen, die Gene spielen, dagegen für idealistisch. Damit konnte dann gleichsam der Versuch unternommen werden, fachwissenschaftliche Fragen durch eine philosophische Debatte zu entscheiden. Wenn die Frage diskutiert wird, ob die Marxisten ihren Marx tatsächlich kannten und gelesen hatten, so finden wir hier ein Beispiel dafür, daß sie ihn zumindest des öfteren nicht verstanden haben: In der dritten These tadelt Marx die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung dafür, daß sie vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und daß auch der Erzieher selbst erzogen werden muß. Revolutionäre Praxis ist immer Selbstveränderung und Veränderung der Umstände in einem. Dem oftmals für eine marxistische Erkenntnis gehaltenen Satz "Die Umstände formen den Menschen" hätte Marx also nie zustimmen können, auch wenn natürlich gerade ein Materialist niemals die Rolle der Umstände, der Umwelt, des natürlichen und sozialen Milieus, der Familie für den Einzelnen vergessen wird. Begriffe von Freiheit und Verantwortung lassen sich jedoch nicht gewinnen, wenn die Bedeutung der Umstände verabsolutiert wird. Hier dürfte eine entscheidende Schwäche der politischen marxistischen Bewegung gelegen haben, für die Marx diesmal (bzw. zumindest der junge Marx) wirklich nicht verantwortlich gemacht werden kann.

Vorzüge und Mängel des Marxschen Menschenbildes

Vielmehr geht es Marx in den folgenden Thesen darum, ein solches Menschenbild zu skizzieren, das den Menschen als ein Wesen begreift, das in der Lage ist, sich selbst zu befreien. Hatte Hegel die Entwicklung des Menschen vorrangig als eine Geschichte des Geistes verstanden, in dessen Verlauf freilich der Geist, um schließlich zu sich selbst, zur Selbsterkenntnis zu gelangen, sich auf verschiedene Weise in Zwischenstadien der Entfremdung (wozu dann auch die Arbeit gehört) begeben muß, so sei Feuerbach von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdopplung der Welt in eine religiöse und eine weltliche ausgegangen.(5) Feuerbach habe es dabei versäumt, die Ursachen für diese Verdopplung in der Selbstzerrissenheit dieser weltlichen Grundlage zu entdecken und in deren Revolutionierung die Möglichkeit ihrer theoretischen und praktischen Vernichtung zu erkennen. Es reicht also nicht aus, die "irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie entdeckt" zu haben; die irdische Familie, die diese religiöse Selbstentfremdung hervorgebracht hat, muß vernichtet werden. Auch hier werden wir erneut zu erörtern haben, ob damit tatsächlich das Ende jeglicher Religion angesagt ist oder nicht.

Ich denke, daß Marx seine Kritik an der traditionellen bürgerlichen Anthropologie überzogen hat. Der in der sechsten These enthaltene berühmte Satz, der von Marxisten oftmals geradezu als die Definition des Menschen genommen worden ist, macht das deutlich: "Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse."(6) Marx erläutert zunächst selbst: Wenn man so wie Feuerbach an die Wesensbestimmung des Menschen herangeht, ist man gezwungen, vom geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und die Existenz eines abstrakten, isolierten menschlichen Individuums vorauszusetzen; die Gattung des Menschen ist dann nur noch als "stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit" aufzufassen. Für Marx dagegen schafft sich der Mensch seine Gattungsverhältnisse auf jeder historischen Stufe neu, und jener Begriff von Individuum, dem man nun abstrakte Eigenschaften wie Denken, Arbeiten, Religiosität u. a. zuordnet und als deren Träger betrachtet, hat theoretisch nur einen Sinn innerhalb einer Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. Die Individuen werden hier völlig austauschbar und in ihrer Qualität nivelliert, was sie ja in der kapitalistischen Gesellschaft auch weitgehend sind. Um des Lebens und Überlebens willen muß diese Gesellschaft aufgehoben werden, die Verrechenbarkeit jeglicher menschlicher Tätigkeit gegen Geld wird als immer stärkeres "Unwirklichwerden" dieser Gesellschaft erkannt. Damit ist die theoretische Voraussetzung für die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft, zumindest in dieser Hinsicht(7), gegeben.-

Bekanntlich ist diese Aufhebung von den Klassikern des Marxismus wie von deren Anhängern immer mit dem Anspruch verbunden worden, daß dann erst die eigentliche Weltgeschichte beginne und daß sie einen neuen Menschen sowohl voraussetze wie hervorbringe, der sich seiner Gesellschaftlichkeit voll bewußt wird und demzufolge seine Zukunft zu der einer gesellschaftlichen (und nicht mehr bürgerlichen) Menschheit macht. Aber hier scheint doch die Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte des Menschen verletzt worden zu sein; und wenn es eine solche Dialektik tatsächlich gibt, dann sollten auch die im Kapitalismus so deutlich hervortretenden „abstrakten" Eigenschaften des Menschen zumindest eine gewisse überzeitliche Bedeutung haben und weiterwirken. Schon ein Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird es doch wohl immer geben, wenn auf die Individualität des Menschen nicht verzichtet werden soll!? Tatsächlich gab es im Marxismus eine theoretische, und im Sozialismus dann auch eine praktische Unterschätzung der Rolle des Individuums, und insofern waren Versuche wie die von Sartre, den Marxismus mit einer Ontologie der Persönlichkeit, dem Existentialismus, zu verbinden oder der von Erich Fromm hinsichtlich der Psychoanalyse, sinnvoll. Leider wurden die hier enthaltenen Möglichkeiten zu einer theoretischen Entwicklung des Marxismus von den meisten Marxisten-Leninisten nicht erkannt, sondern abgelehnt und als revisionistisch verfolgt. Tatsächlich dürfte jedoch die von Sartre und anderen beschriebene Situation des Individuums in einer ihm feindlich gegenüberstehenden Gesellschaft nicht nur für imperialistische Gesellschaftsordnungen o.ä. charakteristisch sein.

Wie marxistisch war der junge Marx?

Hier sind wir offensichtlich an einem Punkt angelangt, wo Marx selber für bestimmte theoretische Schwächen und dann für anschließende fatale praktische Fehler verantwortlich zu machen ist. Freilich wäre die ganze Sache nicht so schlimm geworden, hätten die Nachfolger von Marx und Engels den Mut besessen, die Theorie weiterzuentwickeln bzw. dort, wo sie überhaupt erst und nur in Thesenform vorlag, nun wenigstens mit ihrer Ausarbeitung zu beginnen. Daß sie dies nicht taten, lag natürlich an vielen Faktoren; u. a. auch an einem Verständnis von theoretischer Entwicklung, das es ihnen praktisch unmöglich machte, eine Schrift wie die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844 nicht nur zeitlich, sondern auch ideengeschichtlich und systematisch richtig und produktiv einzuordnen.

In der marxistischen Philosophiegeschichtsschreibung dominierte, auf die persönliche Entwicklung von Karl Marx bezogen, immer das folgende Schema: Er studierte die Philosophie Hegels, stand dann dem progressiven Flügel der Junghegelianer nahe, kritisierte diese aber sofort in dem Maße, wie sie in ihrem Protest in eine Sackgasse gerieten; er arbeitete sich schrittweise vom Standpunkt des revolutionären Demokraten zu dem des Kommunisten empor, wobei die sogenannten Frühschriften diesen Übergang auch philosophisch dokumentieren; mit der "Deutschen Ideologie" und dem "Kommunistischen Manifest" ist die neue Stufe erreicht, auf der dann die weitere Ausarbeitung des Konzeptes für die Bereiche der Ökonomie ("Das Kapital"), der Politik (z. B. in Gestalt des "18. Brumaire...") sowie der Naturwissenschaften durch Engels ("Dialektik der Natur", "Anti-Dühring") erfolgen konnte.
Es galt als gängige Einschätzung, daß die früheren Arbeiten zeigen würden, daß Marx, trotz aller Vorbehalte, die er dem anthropologischen Materialismus Feuerbachs entgegenbrachte, diesen noch nicht völlig überwunden hatte.(8)
Natürlich ging es dabei im wesentlichen um das Problem der Entfremdung und die Tatsache, daß Marx damals eben noch nicht "eindeutig" und durchgängig von kapitalistischer Ausbeutung sprach. Das ist also jener Rest von Anthropologie.. Dann mußten Marxisten feststellen, daß auch in der Sowjetunion die Entfremdung, hier deutlich auch als Entwürdigung des Menschen auftretend, so einfach nicht aufzuheben war. Das legte also die Hypothese nahe, daß jener Rest von Anthropologie in den Marxismus hineingehörte und damit gerade der junge Marx den eigentlichen Marx besser verkörperte als ausschließlich der ältere und alte.
Diese Diskussion ist bis heute nicht ausgestanden - vielleicht sogar gut so! Zum einen finden wir hier beim jungen Marx nämlich eine Offenheit hinsichtlich des Materialismusbegriffes, die helfen könnte, erstarrte Positionen zu überwinden. Während Hegel immerhin die Arbeit als Ursprung des Menschen, freilich nur hinsichtlich seiner Bewußtseinstätigkeit anerkannte, liefert Feuerbach die Grundlage für eine naturalistische Kritik des Hegelschen Idealismus. Dieses Konzept nennt Marx einen "durchgeführten Naturalismus oder Humanismus", der "sich sowohl von dem Idealismus, als dem Materialismus unterscheidet und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist"(9).

Die Existenz einer vom Menschen unabhängigen Außenwelt ist also ohne Zweifel ein Moment jenes Humanismus, aber ganz sicher nicht seine Kernthese oder "Grundfrage". Schon gar nicht kommt für Marx ein Materialismus in Frage, der das menschliche Bewußtsein auf physikalische Gehirnstrukturen zurückführt. Hier sind die sozialen Beziehungen zu analysieren, deren Widerspiegelung im umfassendsten Sinne des Wortes dann das Bewußtsein ist: Es ist das bewußt gewordene Sein, wobei es sich dabei nicht unbedingt und immer um eine wahre Abbildung handeln muß. Auch die Denkstrukturen und -modelle selber hängen von den Realitäten ab, die freilich auch wieder vom Menschen selber beeinflußt bzw. sogar geschaffen werden. Eine einfache Frage nach dem Primat von Materie oder Bewußtsein verbietet sich da eigentlich von selbst. Selbst hinsichtlich der Naturobjekte, denen man ja am ehesten noch eine absolute Unabhängigkeit vom menschlichen Bewußtsein zusprechen könnte, sind nur dann erfaßbar, wenn der Mensch zu ihnen eine Beziehung aufbaut - über hypothetische Annahmen, experimentelle Anordnungen, theoretische Modelle.
Das Wichtigste ist jedoch der historische Materialismus, der die ökonomischen Beziehungen als die "entscheidenden" herausarbeitet (was dann wieder ein Problem für sich ist..). Wir sehen, wie der später von Engels und Lenin ausführlich behandelte Gegensatz von Materialismus und Idealismus sowie die u. a. von Zimmerli empfohlene Aufgabe dieses Themas bei Marx eine Behandlung findet, die geeignet ist, die Frage erneut gründlich zu überdenken und dabei vorschnelle Antworten zu vermeiden. Freilich reicht die einfache, früher oftmals übliche Behauptung, es existiere hier eine "komplizierte dialektische Beziehung", auch nicht aus.

Literatur:

1) Das ist wohl eine fahrlässige Unterschätzung des Idealismus mit einigen unangenehmen Folgen, nicht zuletzt der eines hier bereits beginnenden Alleinvertretungsanspruches
2) Karl Marx: Thesen über Feuerbach. In: Marx-Engels-Werke Bd.3, Dietz Verlag Berlin 1969, S.5
3) G.W.F.Hegel: Wissenschaft der Logik. 3.Buch: "In der theoretischen Idee steht der subjektive Begriff als das Allgemeine, an und für sich Bestimmungslose, der objektiven Welt entgegen, aus der er sich den bestimmten Inhalt und die Erfüllung nimmt. In der praktischen Idee aber steht er als Wirkliches dem Wirklichen gegenüber.. Die Objektivität hat das Subjekt hier sich selbst vindiziert;..die vorhin objektive Welt ist dagegen nur noch ein Gesetztes..Diese in dem Begriffe enthaltene Bestimmtheit ist das Gute.. Diese Idee ist höher als die Idee des betrachteten Erkennens, denn sie hat nicht nur die Würde des Allgemeinen, sondern auch des schlechthin Wirklichen." Reclam Verlag Leipzig, S.341/342. Hätte hier Hegel besser vom "betrachtenden Erkennen" sprechen sollen?!
4) Hier kann nur angemerkt werden, daß auch Philosophen wie Habermas erneut die Unbrauchbarkeit dieser Begriffe konstatieren, wenn heute philosophiert werden soll
5) K. Marx: Thesen über Feuerbach. A.a.O. S.6
6) ebenda
7) Sicher hat Marx in der bürgerlichen Gesellschaft noch mehr   gesehen als nur das dominierende Kapitalverhältnis. Insofern ist es durchaus sinnvoll, über den Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft, Kapitalismus und "Moderne" nachzudenken und auf diese Weise zu differenzierteren Einschätzungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu gelangen. Vgl. dazu u.a. Hans-Peter Krüger: Zur Differenz zwischen kapitalistischer und moderner Gesellschaft. In: Deutsche Z. f. Philosophie, 1990, H.3, S.202
8) Karl Marx und Friedrich Engels: Ergänzungsband 1.Teil, Dietz Verlag Berlin 1968, Vorwort der Herausgeber am Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, S.XX
9) Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844). In: Karl Marx/Friedrich Engels Werke, Ergänzungsband 1, a.a.O., S.577 


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