Rechts und Links in der PDS?
 
 

Frank Richter, Freiberg

Nachstehenden Text schickte ich einige Wochen vor dem Parteitag in Münster an das ND, wo er jedoch nicht publiziert wurde. Den persönlichen Teil habe ich eingefügt, weil ich nicht gerne so tue, als wüsste ich heute alles genau und wäre früher aber gar nicht dabeigewesen. Diesen Eindruck habe ich gelegentlich von anderen Autoren. Manche Freunde sagen mir dann, einmal muss Schluss sein mit der Aufarbeitung... Das sehe ich zur Zeit aber nicht so, zumal dann, wenn wir über die DDR reden.
 
 

Die Debatte um ein neues Programm in der PDS, die Programmthesen, das Votum, die verschiedenen Beratungen zu dem Thema, wie z. B. unlängst im Marxistischen Forum, machen deutlich, wie der Umgang mit unseren eigenen theoretischen Vorstellungen, unserem theoretischen Erbe, unserem Geschichtsbild und nicht zuletzt mit unseren perspektivischen, um nicht zu sagen: utopischen Bildern nach wie vor grosse Probleme bereitet und wie unsicher wir alle sind, wenn es um den Pluralismus innerhalb der PDS geht oder gehen soll.

Der gesellschaftspolitische Einschnitt von 1989 hatte und hat natürlich vielfältige - auch theoretische - Irritationen zur Folge. Das beginnt bei den Fragen nach den Ursachen für diesen Einschnitt, nach der Gültigkeit oder dem Ungültiggewordensein unserer theoretischen Voraussetzungen, nach den Konsequenzen für künftige theoretische Entwicklungen sowie nicht zuletzt nach aktuellen und perspektivischen praktisch-politischen Konsequenzen. Der mit dem Übergang von der SED zur PDS verbundene Abschied von der "Einheit und Reinheit" in ideologischen und politischen Angelegenheiten fällt aber immer noch schwer.

Das ist nicht verwunderlich, geht es doch um etwas ganz Neues, bisher nie Gekanntes: eine marxistische Partei, die verschiedene theoretische Strömungen in einem organisatorischen Verband nicht nur zulässt, sondern deren Widerstreit als positive, konstruktive Seite eben dieses Verbundes anerkennt und auch wirklich nutzt. Wir haben freilich bis 1989 gedacht, dass gerade die Einheit und Geschlossenheit alleiniger Garant für Erfolge sei. Verfolgen wir die aktuellen Diskussionen in unserer Partei, könnte man gelegentlich geneigt sein, die früheren Verhältnisse zurückzuwünschen, und ich habe den Eindruck, dass Vorstand und Kommunistische Plattform (um jene Strömungen hier einmal zu personalisieren) sich jeweils für den Protagonisten einer solchen Geschlossenheit halten.

Offensichtlich wissen wir nicht, wie wir mit einem theoretischen wie politischen Pluralismus überhaupt umgehen sollten. Da sich letztlich doch wieder zwei Gruppen mit jeweiligem Alleinvertretungsanspruch gegenüberstehen, drohen theoretische und politische Lähmung oder politische Spaltung, da unklar ist, wie solche Gruppen miteinander umgehen sollen, auch bzw. gerade wenn sie in der Partei nicht symmetrisch repräsentiert sind.

Dabei ist es doch eigentlich klar, dass in unsicheren Situationen immer mehrere Optionen vorhanden sind, die im Prinzip auch durch die Partei als Ganze erwogen und weiter ausgearbeitet werden könnten - verschiedene Flügel, Strömungen, Plattformen mit eigenen organisatorischen Formen wären also nicht unbedingt erforderlich. Aber wenn sie nun einmal da sind, muss man mit dieser Situation fertig werden.

Wie unsicher diese Situation ist, soll an einigen Beispielen gezeigt werden, und ich "bewundere" diejenigen, welche sich hier einbilden, andere "belehren" zu können:

1. Wenn es wirklich so sein sollte, dass der uns bisher bekannte sog. real-existierende Sozialismus in Theorie und Praxis gescheitert ist (ich sehe das jedenfalls so), dann haben wir sowohl nach dem künftigen Schicksal der den Sozialismus bisher begründenden Theorie, also dem Marxismus-Leninismus zu fragen wie auch nach dem, was sich aus unseren praktischen Erfahrungen mit diesem Sozialismus künftig wird noch nutzen lassen. Diese Fragen müssen radikal gestellt werden, nicht zuletzt darum, weil sowohl jene Theorie wichtige, bleibende Wertungen hervorgebracht hat, als auch jene Gesellschaft zeitweilig dem anderen Gesellschaftssystem gegenüber ein ernstzunehmender Gegner war und dessen Strukturmängel deutlich aufgezeigt hat. Stellen wir die Fragen nicht radikal genug, wird sich schnell in beiden Aspekten Nostalgisches bilden und solches Fragen selber in Frage stellen. Diesen Zustand haben wir schon.

2. Selbst wenn jener Sozialismus gescheitert ist, bedeutet das freilich nicht, dass der Marxismus damit insgesamt widerlegt wurde. Die Bindung von Theorie und politischer Praxis ist nicht so eng, wie sich das KPdSU, SED und andere kommunistische Parteien vorgestellt haben. Es kann sich um eine fehlerhafte Anwendung der Theorie gehandelt haben bzw. in der Theorie sind nur bestimmte Annahmen widerlegt worden, nicht aber alle. Darum aber muss die Diskussion gehen, z.B. um Kategorien wie Sozialismus, Kapitalismus, Arbeiterklasse, Ausbeutung, Arbeit, Revolution-Reform. Dabei sind Überlegungen und Begriffe aus dem nicht-marxistischen Bereich der Geisteswissenschaften zu beachten und zu prüfen: Moderne, Postmoderne, Zivilgesellschaft, parlamentarische Demokratie, Globalisierung, Wettbewerb, Gleichheit/Fairness, Menschenrechte u.v.a.m. Die Verwendungsweise solcher Begriffe wie Sozialismus und Kapitalismus ist sorgfältig zu prüfen, ohne sie einfach fallenzulassen und durch "modernere" Begriffe ersetzen zu wollen. Auf die Problematik der Verwendung solcher Ismen habe ich schon einmal hingewiesen (ND vom 29./30.11.1997): Entsprechen solche Begriffe der Wirklichkeit, so heben sie zwar bestimmte wesentliche Seiten aus dem entsprechenden Wirklichkeitsbereich hervor, sie erfassen jedoch keineswegs alle Erscheinungen in diesem Bereich. Eine "antikapitalistische" Stossrichtung in einem Parteiprogramm sollte deshalb sorgfältig prüfen, ob damit nicht auch Seiten der entsprechenden Gesellschaftsordnung angegriffen werden, die das nicht verdienen oder die vor dem Zugriff des Kapitals geschützt und weiterentwickelt werden müssen und können.

3. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass der real existierende Sozialismus keineswegs "nur Sozialismus" war, wenn ich das einmal so lax sagen darf. Gleichheitsbestreben darf in einem demokratischen Sozialismus nicht in Abbau von Freiheit münden. Ob hier der Totalitarismusvorwurf auch an den realen Sozialismus "lauert"? Totalitäre Herrschaft ist für mich vollständige, eben totale Konzentration von Machtausübung auf eine Zentrale, inhaltlich gerichtet auf Ausschaltung jeglicher Alternative und abweichender Gruppierung. Mögen die Ceausescu und Kim Il Sung nicht auf eine Stufe mit Ulbricht und Honecker zu stellen sein - die Differenz ist nur graduell. Das soll wiederum nicht heissen, dass nun eine jede Aktion und Aktivität in diesen Staaten, speziell auch in der DDR, jenem Anspruch auf Herrschaft untergeordnet war und untergeordnet werden konnte. Aber es war jene Herrschaft doch das strukturbestimmende Prinzip. Das Argument, eine solche Darstellung von Herrschaft in den sozialistischen Ländern fordere eine mögliche Gleichstellung von Sozialismus und Faschismus geradezu heraus, ist nicht schlüssig: zum einen würde dafür auch der Diktatur-Begriff ausreichen, zum anderen muss die Differenzierung über die eigentlichen und ursprünglichen jeweiligen Gesellschaftsziele erfolgen. Und dann zeigt sich, dass die Realisierung grundlegender sozialistischer Aufgabenstellungen immer noch auf der Tagesordnung steht.

4. Das hat Konseqünzen auch für unser Geschichtsbild, z.B. zur Wertung von Oktoberrevolution oder auch der DDR. Auch hier sind wir mit der kritischen Aufarbeitung noch längst nicht am Ende. Wenn in den Programmthesen wie im Votum einheitlich gesagt wird, der Sozialismus sei weder 1917 noch 1945 bereits zum Scheitern verurteilt gewesen, so erscheint das als eine "schiefe" Rechtfertigung von Millionen von Biographien von Kommunisten und Sozialisten. Wir wissen heute freilich mehr als unsere Vorkämpfer 1917 und 1945, selbst wenn einige von ihnen damals schon ahnten oder wussten, was wir gerade erst heute begriffen haben (und die ihr Wissen damals zumeist teuer bezahlen mussten...). Man sollte es dennoch keinem zum Vorwurf machen, wenn er zu diesen historischen Wendepunkten die Chance für einen grundlegenden Wandel der Weltgeschichte in Richtung Sozialismus erblickte und sein Leben diesem Ziel unterordnete. Kapitalismus, Imperialismus, Zarenreich und Faschismus hatten genügend Elend über die Welt gebracht, so dass es unbedingt gerechtfertigt war, diese Welt aus den Angeln heben zu wollen. Aus heutiger Sicht hatten diese Versuche jedoch entscheidende Geburtsfehler bzw. Strukturdefizite: Gleichheit und Beseitigung von Ausbeutung und Unterdrückung u.v.a.m. schienen nur unter Ausschaltung bestimmter Menschenrechte möglich zu sein. Sicherung von Arbeit, Wohnung, Bildung geschah auf Kosten von Freiheit, Effektivität, Produktivität, ja auch Humanität. Historisch zu Rechtfertigendes fand keine adäquaten politischen, ökonomischen und ideologischen Realisierungsbedingungen.

5. Ich weiss nicht, ob es damals eine reale Alternative zu dem von Lenin eingeschlagenen Weg gab - ich glaube es nicht. Auch sehe ich keine echte Möglichkeit im Nachhinein, wie etwa die Jahre 1945, 1953, 1956, 1968 und dann die Zeit der Perestroika zu entscheidenden Kurskorrekturen hätten genutzt werden sollen - durch wen und durch welche Mittel bei den gegebenen innersozialistischen und innerparteilichen Machtverhältnissen?! Ich gestehe offen, dass ich zu den Anhängern und Verfechtern von Gorbatschows Perestroika-Versuch gehörte und in einem Neuen Denken die einzige Chance sah, den Sozialismus noch einmal zum Leben zu erwecken. Auch das war eine Täuschung, weil auch dieser Versuch viel zu spät kam. Auch heute noch akzeptiere ich die Berechtigung eines solchen Versuches, freilich nicht die Art und Weise, wie Gorbatschow dann dieses Experiment beendete...Aber es bleibt die Frage: Wäre es richtig gewesen, jene Reduzierung von Sozialismus auf einen Teil der Menschenrechte noch möglichst lange, vielleicht sogar für immer erhalten zu wollen - zumal es ja auch auf jenem Sektor nicht mehr so richtig weiterging?

6. Auch als Philosoph war ich und bin ich bis heute "gelernter DDR-Bürger". Sicher gehörte ich nicht zu den dogmatischsten Vertretern meiner Zunft, aber meinen Anteil an der Art und Weise, wie die SED den Sozialismus gestalten wollte, habe ich gehabt. In die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie der DDR habe ich bestimmte Keime pluralistischen Denkens hineinbringen wollen - die Bedingungen dafür waren nicht gut und die Zeit war zu kurz. Aber es war doch

eine interessante, lebenswerte Zeit, zumal für uns ja die Zukunft immer noch offen zu sein schien. Insofern kommt auch für mich eine völlige Umwertung meiner Biographie nicht in Frage. Weder bin ich ein DDR-Nostalgiker, noch schäme ich mich meiner Vergangenheit. Philosophen hatten es in der DDR manchmal leichter, manchmal schwerer als andere Gesellschaftswissenschafler. Die meisten Beulen stammten deshalb auch nicht vom Gegner, sondern von den eigenen Genossen.. In der Wendezeit fiel es mir nicht wie Schuppen von den Augen, denn einiges hatte man gesehen, und es gab auch die eine oder andere Möglichkeit, das zu artikulieren; aber man musste sich schon fragen, warum man so oft mitgemacht und nicht härter für die eigene Meinung gekämpft hatte. Für mich gibt es heute auch im Traum weder ein Zurück, noch möchte ich ein Zurück. Was bleibt, ist die Teilnahme an einem historischen Versuch und das Bewusstsein, dass dieser Versuch zwar beendet ist, einige seiner Ziele jedoch aktueller denn je sind.

7. Wie wollen wir diese verwirklichen? Können wir sie in das gegenwärtig herrschende Gesellschaftsmodell einbringen, um auf diese Weise die hier und heute existierenden verheerenden "Teufelskreise" auszuhebeln oder wollen wir gleich auf eine neue, nun aber besser gelungene sozialistische Gesellschaftsordnung abzielen? Wollen und können wir in jener Gesellschaft ankommen, oder müssen wir sie bekämpfen? Können und müssen wir Abstriche an sozialistischen und kommunistischen Zielstellungen zulassen, um das Kapitalprinzip zurückzudrängen und seine Dominanz zu überwinden und damit wenigstens das Überleben der Menschheit sichern? Kann man das Projekt Sozialismus als ein gleitendes Projekt verstehen, wo sich auch Zielstellungen und Methoden selber entwickeln, je nach erreichtem Entwicklungsstand? Muss man also jede Entscheidung in theoretischen und politischen Fragen unbedingt schon heute fordern? Kann man ein Programm schreiben, das verschiedene Auffassungen zu verschiedenen Wegen sozialistischer Theorie und Politik enthält - und dies nicht als ein Manko, sondern als einen Fortschritt auffasst? Wie kommen wir zu einem abgewogenen Verhältnis von Utopie, konkreter Theorie, Programm, Strategie und Taktik?

Ich gehe davon aus, dass es immer noch genügend Gemeinsamkeiten und Berührungsflächen zwischen den verschiedenen linken Gruppen innerhalb wie ausserhalb von Parteien wie der PDS gibt, denen eine solche "dialektische" Sicht auf die gegenwärtige Situation letztendlich doch lieber ist, als heute schon unbedingt Recht behalten zu wollen. Wenn das so ist, dann ist die Ausarbeitung eines neün Parteiprogramms sinnvoll. Ich meine, dass heute sowohl die Autoren der Thesen wie die des Votums Fragen aufwerfen, die bisher niemand beantworten kann. Also sollte man solche Antwortversuche nicht programmatisch festschreiben.

geschrieben im Februar 2000