Zum sogenannten Totalitarismus-Vergleich

 

Frank Richter, Freiberg

 

Die Bemerkungen von A. Brie vom Januar 1999  in der Frankfurter Rundschau warfen Wellen, wie üblich bei diesem Thema. Neu ist aus unseren Kreisen, dass der Sozialismus totalitärer gewesen sei als der Faschismus. Aber darf man hier überhaupt vergleichen und ist der Totalitarismus-Begriff dann hierfür (u. a.) geeignet?
Die Aufgeregtheit, mit der in der Regel schon der Versuch eines solchen Vergleiches begleitet wird, kann unterschiedlich interpretiert werden: Einmal als Ausdruck der unerschütterlichen Ueberzeugung, dass selbst ein deformierter "Real-Sozialismus" etwas prinzipiell anderes als das NS-System darstellt; zum
anderen als Ausdruck illusionärer Verklärung des geschichtlichen sozialistischen Gesellschaftsversuches und der Immunisierung gegenüber grundlegender Kritik an diesem Versuch. Damit wird dann zumeist ein Vergleich generell abgelehnt: er relativiere die Verbrechen des Faschismus, indem den Sozialismus am gleichen Massstab messe. Wir kommen dann zur "Unmöglichkeit des Vergleiches von Aepfeln und Birnen".
Aber man kann natürlich Aepfel und Birnen miteinander sinnvoll vergleichen: Es handelt sich in beiden Fällen um kultivierte Früchte, also Obst, man kann vergleichen und unterscheiden in Farbe, Geschmack, Form usw. In diesem Sinne gibt es fast nichts,was sich nicht miteinander vergleichen liesse - man benötigt nur
einen solchen Oberbegriff, der sinnvolle Zuordnungen der beiden bzw. mehrerer Unterbegriffe ermöglicht.
Solche Oberbegriffe lassen sich auch für unser Thema finden. So unangenehm es einem theoretisch und auch ganz persönlich sein mag: Es handelt sich jeweils um bestimmte politische Systeme und es sind sogar solche, die beide die politische Form des "bürgerlichen" Parlamentarismus ablehnen und insofern prinzipiell nicht
zu den pluralistischen Systemen gehören, schon vom Anspruch her nicht. Inwieweit die BRD also wirklich ein pluralistisches System darstellt, ist jetzt nicht die Frage; hier gibt es aber zumindest eine entsprechende Festlegung im Grundgesetz.
Deshalb muss der in der DDR grossgewordene Sozialist einen Paradigmen-Wechsel hinsichtlich seiner Einstellung zu den bürgerlichen Menschenrechten und zur parlamentarischen Demokratie vollziehen: So unvollkommen diese politischen Mittel gegenüber den ursprünglichen kommunistischen Emanzipationsbestrebungen sein mögen, ihre Ausserkraftsetzung führt in eine Sackgasse hinein. Und selbst die kommunistischen Emanzipationsideale haben sich der Kritik stellen muessen.
Ob der Totalitarismus-Begriff hier weiterhilft? Für Hannah Arendt heisst Totalitarismus u. a. : Kampf um vollständige und alleinige (Welt-)Herrschaft und die Zerstörung aller anderen Staats- und Herrschaftsformen. (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Piper 1991,  S. 614)  Die Macht geht von einem Zentrum aus und sie versucht, letztendlich jedes einzelne Individuum in diesen Bannkreis zu ziehen. Die Motive für solche Herrschaft mögen - wie in unserem Falle - inhaltlich völlig verschieden voneinander sein, letztendlich bediente sich die jeweils herrschende Partei jedoch gleicher oder wenigstens ähnlicher Herrschaftsformen.
Gelegentlich haben wir im philosophischen Gespräch auch zu DDR-Zeiten darauf hingewiesen, dass Gegensätze ineinander umschlagen können, dass "zu weit links" dann von "rechts" nicht mehr zu unterscheiden ist u. ae. Wir wollten das aber hoechstens für den Anarchismus gelten lassen, vielleicht noch für den Stalinismus, niemals jedoch fuer den realen Sozialismus der DDR. Aber auch hier dürfte H. Arendt nicht Unrecht haben: Totalitär herrschende Parteien verlieren bald ihren revolutionären Charakter und sie beginnen gegenüber ihren ursprünglichen Zielen zu versagen. Das galt offensichtlich nicht zuletzt auch für die SED.
Ob es sinnvoll ist darüber zu diskutieren, welches System jenen Totalitätsanspruch am konsequentesten durchgesetzt hat und ob die Auflösung des realen Sozialismus von innen (ursprünglich sogar mit dem Ziel, den "realen" Sozialismus überhaupt zu einem solchen zu machen) nicht doch weit jener militärischen Zerschlagung des NS-Systems vorzuziehen war und ist - was in diesem Sinne dann doch auch füreine verbliebene Offenheit spricht, soll hier nicht weiter erörtert werden. Aber letztendlich wird hier wohl doch ein wesentlicher Unterschied sichtbar, der Bries These in Frage stellt.
Wichtig ist, dass sich Sozialisten und Kommunisten der Verantwortung für den realen Sozialismus stellen und nicht bestimmte Themen dabei ausschliessen. Dabei muss der Sozialismus als Ganzes gesehen werden; ein Benennen einzelner Errungenschaften hilft da wenig.
Zur Abrundung des Themas gehört freilich auch, dass deutlich gemacht wird, weshalb die kommunistische Idee überhaupt entstanden ist und warum die heutige kapitalistische Moderne, selbst wenn ich sie als Zivilgesellschaft o. ä. auffasse, zügig und scheinbar unaufhaltbar die Welt in den Abgrund treibt. Die Suche nach Alternativen geht also weiter; vielleicht hat sie sogar gerade erst begonnen.