Werner Braeuner:

GEWALT, ARBEIT, SEXUALITÄT -
eine kritische theorie von lieb' und trieb im kapitalismus

National, sozial, normal - der Bruch der Klammern National-/Sozialstaat und Normalarbeitsverhältnis eröffnet der kulturkritischen Debatte weiten Spielraum. Der universitäre Campus ist ihre Heimatresidenz; es wird Spiel- zu Kampfraum, wo Kulturkritik das offene Schlachtfeld der sozialen Bewegungen betritt. Hauen und Stechen, Lügen und Betrügen, Biegen, Beugen und Brechen - in solcher Arena ist alles erlaubt. Denken ohne Geländer (Hannah Arendt) ist in dieser Schlacht einzig anerkanntes Kriegshandwerk

Die Truppen derer, die nichts zu verlieren und alles zu gewinnen haben, mehren sich Tag um Tag. Nicht der Mut entscheidet den Kampf, sondern die Schärfe des Schwerts; sie allein kann Mut machen. Die Eisen sind heiß. An die Arbeit, Schmiede! Friedrich Nietzsche ein langes Fest...

In der Esse

Die Ost-West-Wochenzeitung "Freitag" führte mit Volkmar Sigusch, Sexualwissenschaftler in Frankfurt am Main, ein Gespräch, das sich in der Ausgabe 27/28 2005 protokolliert findet. Anlaß war die kürzlich erschienene Buchveröffentlichung " Neosexualitäten ", für welche Volkmar Sigusch als Autor zeichnet. Im "Freitag"-Gespräch gebrauchte dieser die Begriffe (1) "Liebe"; auch "gewachsene Liebe - jenseits der blinden Verliebtheit", welche zwar "auch Fetischcharakter" habe, da diese Liebe jedoch "das einzige sei, was sich weder herstellen noch kaufen läßt," sei dieser "in Schach gehalten"; (2) "überhöhte Sexualität", welche "vor 200 oder 300 Jahren installiert worden ist" was an die "romantische Liebe" von Goethes Werther denken läßt bzw. an vorgenannte "blinde Verliebtheit"; (3) "Sexualität". Korrespondieren diese drei Begriffe mit drei qualitativ eigenständigen oder unterschiedlichen Kontinua von Körper-Seele-Geist? Lassen sich für diese Kontinua Bedingtheiten ausmachen, historische sozio-ökonomische? Volkmar Sigusch selbst: "Gleichzeitig bin ich auch ein Anhänger der Kritik der Politischen Ökonomie und tue nicht so, als ob wir nicht mehr im Kapitalismus lebten." Warum dann nicht eine kritische Theorie von Lieb' und Trieb im Kapitalismus versuchen?!

Was war noch die Frage bitte?

Der Prof. Dr. med. Dr. habil. im "Freitag": "Wenn die Sexualität an symbolischer und realer Bedeutung verliert, tritt etwas anderes an ihre Stelle. Leute, die die ganze Woche über gut funktionieren, erleben am Wochenende dann plötzlich, daß sie ihren "Kick" bekommen, wenn sie einmal so richtig draufschlagen können. Darin sehe ich eine große Gefahr." Eingängig, weil Deja-vu: Make love, not war! Auch kommt Freuds "Alles ist sublimierte Sexualität" in den Sinn. Oder soll hier umgekehrt die Sexualität die Gewalt sublimieren? Es wird verwirrend. Was ist hier eigentlich die Frage gewesen? Eine andere Autorin, Antje Vollmer, ist dem sublimen Freudschen Fallstrick aus dem Wege gegangen. Ihr nach verhindert der Massenfußball den Ausbruch offener Gewalt. Auf diese Lösung kam sie nach einem Besuch des ekstatischorgiastischen nepalesischen Kali Dhurga-Festes, von dem sie auf den ersten Seiten von "Heißer Friede" (Köln;1996) ausführlich und eindrucksvoll berichtet. Bemühen diese beiden Autoren Wissenschaft oder Esoterik? Diese Frage wird sich beantworten lassen, nachdem der Grund einer kritischen Theorie von Lieb' und Trieb im Kapitalismus gelegt worden sein wird. Diese wird den Zusammenhang von Gewalt und Sexualität liefern, indem sie fragt, wer oder was soziale Formation konstituiert. Dann überraschend zu sehen, wie der Zusammenhang von Sexualität und Gewalt beschaffen ist, mehr noch der von Arbeit, Sexualität und Gewalt: Letztere hat die beiden ersteren erschaffen. Ein Schöpfungsakt, der sich etwa mit dem Jahr 1810 markieren läßt. Wir werden sehen...

TEIL I - Arbeit, Wert, Gebrauchswert
Mit Moishe Postone zu Karl Marx

Es gibt Hunde, es gibt Löwen - und unabhängig davon ein "Unbehagen in der Kultur". Ausschließlich individuell erfahrbar, führt es dennoch manche in eine politische Kritik von Lohnarbeit und Kapitalismus. Letztere Kritik am privaten Besitz der Produktionsmittel festzumachen, kennzeichnet die so genannte arbeiter- bzw. traditionsmarxistische Linke, aus der die realsozialistischen Staaten hervorgegangen sind. Wirkte jenes Unbehagen im Realsozialismus fort, wurden bzw. werden ein "Verblendungszusammenhang" oder "Entfremdung" benannt, die bis in die sozialistische Lebenswelt hineingereicht haben würden. Daß kapitalistische wie sozialistische Lohnarbeit schlicht ein und dasselbe Kommen stempeln-Gehen stempeln-Geld kriegen sind, so das Unbehagen ebenfalls dasselbe bleiben muß, erscheint jener Linken jedoch ein zu schlichter Gedanke zu sein. Mit Moishe Postone gelesen "Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft", Freiburg 2003), wird Marx so auf den Kopf gestellt. Das Unbehagen dieser Linken mußte sich bis zum Kopfschmerz steigern, weil sie das Marxsche Wertgesetz, in dessen Mittelpunkt die Arbeit steht, ahistorisch begriff bzw. begreift, nämlich als ein universelles wirkmächtig unterliegendes gesellschaftliches Konstituendum - und dies zum Trotze aller so genannt "unbewußten Praxen" einer jeweils betrachteten sozialen Formation! Daraus der Glaube, durch ihre Befreiung vom kapitalistischen Mehrwert/Profit würde Lohnarbeit zu "Arbeit" werden, quasi zu ihrer historisch invariant reinen Realform zurückfinden, als welche sie mit der "Diktatur des Proletariats" historisch erstmals wahrgenommen und verhandelt werden könne. Arbeit würde "zu sich selbst kommen", so die beinahe schöne, mindestens schwülstige Formulierung.

Mit Postones Marx wird arbeiter- bzw. traditionsmarxistisches Denken und Tun zu Esoterik (damit Marx selbst ein zwiespältiger Denker, nämlich ein zugleich wissenschaftlicher und esoterischer, was bereits Gegenstand der Marxforschung geworden ist: Woher Marxens Formationslehre?). Postone zeigt einen Marx, in dessen kritischer Theorie das Wertgesetz selbst es war, mit dessen erstmaliger historischer Konstitution sich auch "Arbeit" und die kapitalistische Produktionsweise erstmalig konstituieren konnten. Postone verweist auf die vorausgegangene Entwicklung exakter Zeitmeßapparaturen, welche das Wertgesetz technisch-kulturell operationabel machten. Mit anderen Worten machte das Wertgesetz die Arbeit erst, anstatt lediglich Kunde von ihr zu geben: vor dem Wertgesetz existierte keine Arbeit! Dies ein in der Tat anderer Marx als der arbeiter- bzw. traditionslinke. Arbeit bei ihm Konstituendum sozialer Formation allein im Kapitalismus. Zufolge kann Kapital auch ohne den privaten Besitz der Produktionsmittel existieren und die gesellschaftliche Produktionsweise bestimmen. Daher: Lohnarbeit ist immer und schlicht Lohnarbeit! Daß Arbeit außerhalb der kapitalistischen bzw. sozialistischen Produktionsweise niemals die gesellschaftlichen Formationen konstituieren konnte, findet sich insbesondere bei Karl Polanyi vielfältig anschaulich gemacht (" The Great Transformation", 1944, Frankf./M. 1978; dort vor allem im Anhang des Buchs).

Mit Postone & Marx zu Michel Foucault

Marxens Wertgesetz manifestiert sich sehr schlicht in Form gängiger betriebswirtschaftlicher Rechnungsführung und begründet mit dieser einen buchhalterischen Algorithmus. Nimmt die Zahl derer zu, die diesem Algorithmus folgen, entstehen immer mehr kapitalistische Betriebe und so schließlich die kapitalistische Produktionsweise mit ihren von Karl Marx beschriebenen Gesetzmäßigkeiten: Arbeit, (Mehr-)Wert bzw. Profit, Gebrauchswert, Ware, tendenzieller Fall der Profitrate, überflüssige Arbeit u.s.w. Der französische Denker Michel Foucault (1926-1984) beschrieb die nach dem Wertgesetz zweite grundlegende Voraussetzung für das kapitalistische Produzieren. Die nun, neben der technisch-kulturellen Voraussetzung, andere, nämlich die physiologisch-kulturelle Voraussetzung für das Operationabelwerden des Wertgesetzes nannte er "Mikrophysik des Körpers". Damit schließt er an Nietzsche an, für den die Institutionen moderner Gesellschaft ein "Hammer" waren - zum "Schmieden des Nerven"; eine regelrechte und umfangreiche Dressur des Menschen mit Hilfe von - wie heute gesagt werden müßte - Pawlowschem Konditionieren. Nietzsche schrieb die Entwicklung der abendländischen Kultur von der Antike bis zur Moderne nicht dem Wirken allgemeiner historischer Gesetzmäßigkeiten zu - wie etwa einer sozialen Formationslehre allgemeingültiger Art -, sondern dem religiös-kulturellen Supremat des Christentums, dessen entschiedenster Gegner er war: Christentum sei "Nützlichkeitsreligion" oder "Gesindelreligion par excellence", dabei: "Gesindel ist Nützlichkeitsdenken". Wobei diese Nützlichkeit mit der des allbekannten "homo oeconomicus" nicht hinreichend beschrieben wäre; Nietzsches "Gesindel" geht weiter, bis zur Selbstaufgabe, zur Selbstverachtung, ja bis zur Lust an der Selbstschädigung bzw. -zerstörung, was letzteres er als "Dekadenz" titulierte.

Dekadenz betrachtete Nietzsche nicht etwa als spektakuläres Ausnahmeereignis; sie bestimme den gesamten Alltag, Denken, Fühlen, Handeln und Wollen des modernen Menschen. Habe sie sich im frühen Christentum und bei dessen Vorläufern - hier nannte er zuvorderst Sokrates und Platon - in der Philosophie und im Denken einzelner Personen geäußert, habe sie in der Moderne jeden einzelnen erfaßt. Ihr philosophisch-ideologisch-religiöser Kern liege in "Sklavenmoral", die Durchschlagskraft, welche sie in der Moderne gewonnen habe, entstamme allerdings nicht ihrer ideologischen sondern ihrer physiologisch-neurologischen Durchsetzung; Dressur, das Schmieden des Nerven ist ein körperlicher Akt. Als solcher ein Akt, der weit tiefgreifender in das menschliche Gemüt eindringe, als die fanatischste protestantische Predigt es vermöge. Die Lust, sich selbst oder andere zu schädigen oder zu zerstören, Verwirrtheitsreaktion zerrütteten Gemüts.

Die Geburt des Gefängnisses

Dies die Position, von der aus Michel Foucault die Geschichte der zentralsten aller sozialen Dressureinrichtungen nachzeichnete, des modernen Gefängnisses. Dessen Verfahrensweisen hatten zahlreiche Anleihen bei dem ihm vorausgegangenen Arbeitshaus genommen und wurden mit dem Gefängnis nun verwissenschaftlicht, differenziert und effektiviert. In "Überwachen und strafen - Die Geburt des Gefängnisses" (Frankf./M. 1976) macht er "Mikrophysik des Körpers" als plump ins Werk gesetzte aber tiefreichend subtile Zurichtung des Menschen zum dressierten Lohnarbeitsaffen anschaulich. Damit einher dringt der Stachel untertänigen Gehorsams (siehe Hannah Arendts Arbeiten über die "autoritäre Persönlichkeit") tief ins Fleisch.
Ohne dies ausdrücklich zu sagen und wohl auch ohne dies im Sinne gehabt zu haben, hatte Michel Foucault die bereits erwähnte physiologisch-kulturelle Voraussetzung für das Operationabelwerden des Marxschen Wertgesetzes beschrieben. Nietzsches "Hammer zum Schmieden des Nerven" war mit Foucault Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung geworden. Gehen wir nun mit Postone und Marx zu Michel Foucault, entlarvt sich das Gefängnis mehr noch als eine Art von Eicheinrichtung von Arbeitskraft: Hier werden die Mindestkosten von Arbeitskraft nicht zuvorderst gemessen, vielmehr wird Arbeitskraft als etwas Gleichartiges und Meßbares hergestellt. Durch Dressur, die sich der Mittel des Überwachens und Strafens bedient. Zuerst desozialisiert das Gefängnis, macht sozial nackt und reduziert den Menschen auf seine nackte Physis, welche sodann eingerichtet, regelrecht programmiert wird - auf Erbringung einfacher Arbeitsleistung. Danach erst lassen sich die Kosten von Arbeitskraft als ihre Basis- oder Grundkosten bestimmen. Diese liefern den Nullwert auf den Skalen arbeitsfunktionsbedingter Lohnspreizung. Ohne solche Eichung der Lohnskala würde der kapitalistischen oder sozialistischen Produktionsweise jegliche buchhalterische Operationalität fehlen. Dermaßen banal "Arbeit" bzw. "Arbeitskraft", die Heiligtümer arbeiter- oder traditionsmarxistischer Linken! Esoterische Schaumschlägerei! Die Herkunft des "Unbehagens" in den modernen Lohnarbeitskulturen wird klar: Sie ist Ergebnis äußerst gewalttätiger sozialer Entwurzelung Von Menschen; Lohn- und Zwangsarbeit, Existenz und Gewalt bilden Zwillingsparadigmen. Je weiter oben auf der Lohnskala, um so entfernter Zwang und Gewalt, die als "Unbehagen" durchs ahnende Gemüt geistern, und mit gutem Grund ist von "Entfremdung" die Rede: Den auf die eine oder andere Art in gewachsenen sozialen Zusammenhängen eingebunden gewesenen Menschen, hat soziale Entwurzelung eben diesen Zusammenhängen fremd gemacht.
Wem die hier auf Nietzsche und Foucault gründende Lesart moderner Institution als von diesen zu dürftig belegt erscheinen möchte, sei auf die bahnbrechenden Arbeiten der französischen Soziologin Anne Querrien verwiesen. Ihre Untersuchung der Geschichte der französischen Grundschule findet sich in: " Recherches " N° 23 - Juin 1976, Revue du Cerfi, Titel der Ausgabe: "l'ensaignement - 1'ecole primaire", darin enthalten: "Anne Querrien - Travaux elementaires sur 1'ecole primaire", Fontenay-sous-Bois 1976.

Reale Fiktionen und fiktive Realien

Die kapitalistische Produktionsweise ist durch zwei Dispositive gegeben: das technisch-kulturelle Dispositiv ist der auf exakter Zeitmessung beruhende buchhalterische Algorithmus, welcher das Wertgesetz formiert; das physiologisch-kulturelle Dispositiv findet sich als Zurichtung des Menschen zum dressierten Lohnarbeitsaffen, welche "Arbeit" bzw. "Arbeitskraft" formiert. Auch das Wertgesetz gehört in Anführungszeichen gesetzt: "Wertgesetz"! Denn obwohl reale, bleiben sie doch Fiktionen. Ohne Fiktion real sind allein die Dispositive, aus denen diese realen Fiktionen hervorkommen. Entsprechend können die Realien (die wirklichen Dinge), die mit Hilfe der beiden Dispositive der modernen Kultur hervorgebracht werden, nur fiktive sein: Ware, Wert, Mehrwert, Gebrauchswert. Die Realität dahinter ist die ausuferndste Sklaverei, welche die Menschheit seit der Zeit ihres Bestehens gekannt hat: nicht allein der Körper, sondern auch Seele und Geist sind affiziert; so sehr, daß Selbstversklavung zu sittlichem Wert und zivilisatorischer Moral avancierten. Der Ruf nach "Arbeit" ist der nach Sklaverei!

Karl Marx ging dem mit seiner Untersuchung der hier benannten fiktiven Realien auf den Grund. Er legte die Konstruktion insbesondere der Wertfiktion offen und zeigte, daß sie auf der Zerstörung sozialer Zusammenhänge fußt, von der bürgerlichen Revolution euphemistisch als "Emanzipation" tituliert. "Wert" konnte so als lediglich Fiktion von Reichtum sichtbar werden. Das Bemühen um seine Herstellung bedingt vielmehr große materielle Armut, kulturelle Ärmlichkeit und geistige Uniformität - tote Seelen. Die arbeiter- bzw. traditionsmarxistische Linke mit dem von ihr historisch invariant, ahistorisch gedachten Wertgesetz, konnte die vollauf fiktive Natur des Werts kapitalistisch produzierten Warendings nicht erkennen, sah so auch nicht, daß "Gebrauchswert" als definitorischer Antagonismus von Fiktionsding ebenfalls Phantasma sein müsse. Ohne das Wertgesetz und vor allem seine Dispositive angreifen zu wollen, mußte ihr die Befreiung des kapitalistisch produzierten Warendings von der Last seines ihm vom Kapitalisten abgezwackten Mehrwerts als Befreiung von der ihm anhaftenden Warenhaftigkeit erscheinen und dieses dann mehrwertfrei produzierte Ding als Träger reinen "Gebrauchswerts". Damit erschien/erscheint ihr auch Lohnarbeit aufgelöst. Weit entfernt, Zurichtung als wesentlichsten kapitalistischen Eingriff in menschliches Leben überhaupt nur registrieren zu wollen, wurde ihr "Vermittlung" zur praktisch zu lösenden Frage des Sozialismus: Wie Produktion und Konsumtion von Gebrauchswerten aufeinander abstimmen, wie diese beiden "vermitteln"?

Die Verwaltung von etwas, das es nur als Wunsch und Vorstellung gibt, wird klugerweise einer Bürokratie übertragen. So entstand sozialistische Planwirtschaft, die brauchbare Dinge produzierte, doch selten das, was gebraucht wurde. Im Kapitalismus ist es entsprechend: Die Attraktivität von Waren wächst mit ihrer Unbrauchbarkeit, denn je unbrauchbarer, um so geeigneter als Träger von Illusion: Gekauft wird nicht ein Automobil, sondern Freude am Fahren! Der niedersächsische SPD-Chef Sigmar Gabriel toppte dies in einem kürzlichen Zeitungsinterview mit der Oldenburger Nordwestzeitung: Bauarbeiter sollen Straßen bauen, damit sie mit ihren Automobilen auch zu weiter entfernt gelegenen Straßenbaustellen fahren könnten; das ermögliche mehr Arbeit! Denn "ein Arbeiter ohne Arbeit ist wie ein Auto ohne Räder!" So eine niedersächsische Ministerin namens Trauernicht vor einem riesigen Transparent mit solcher Aufschrift. Was wäre Politik ohne Tik? Was soll das sein, Gebrauchswert? Das verstehen nur Dumme, nachdem sie richtig blöde geworden sind. Beide, "Wert" und "Gebrauchswert", sind Fiktionen. Sie als Reales anzunehmen, gelingt nur Zugerichteten. Es geht um Zurichtung, nicht um Vermittlung. So greift die Kapitalismuskritik der arbeiter- bzw. traditionsmarxistischen Linken deutlich zu kurz: It's the zurichtung, stupid!

Sexuelle Befreiung

Kürzer noch griff die mit den weltweiten Revolten Ende der 60er Jahre neu aufkommende "Neue Linke", welche sich auf die Überwindung des Zurichtungssymptoms "Entfremdung" kaprizierte. Mit dem Doktern am Symptom entspann sich eine beinahe uferlose Debatte, die den.(Zurichtungs-) Wald vor lauter (Entfremdungs-)Bäumen nicht sah und nun meinte, an alle Gewächse greifen und sie mitleidslos umherschleifen zu sollen. In solch wucherndem Ambiente gedieh die aberwitzige Idee, Kapitalismus und seinen sozialistischen kleinen Bruder, mithin Krieg, Herrschaft und Ausbeutung durch sexuelle Befreiung zu überwinden - make love, not war!
Interessanterweise kritisiert Volkmar Sigusch jenen Aberwitz der "Achtundsechziger ", bemüht andererseits selbst einen Zusammenhang von Gewalt und Sexualität. Offensichtlich unterscheidet er die systemische Gewalt des Kapitalismus von der in diesem System zugerichteten, "die ganze Woche über gut funktionierenden" Menschen. Letztere könnten ohne Sexualität angeblich gewalttätig werden, auf die Gewalt des Systems aber könne nicht eingewirkt werden. Das Gegenteil ist belegbar: Sexualität steigert die Gewalttätigkeit des Systems! Zumindestens wenn es sich dabei um die Sexualität von Zugerichteten handelt. Dazu ein Blick auf die mindestens latente, nicht selten offene, immer jedoch massive Gewaltbereitschaft der im Nationalsozialismus die ganze Woche über gut funktionierenden Menschen, einer überwältigenden Mehrheit von schätzungsweise 95%. Sowohl Massensport als auch Sexualität blühten in diesem, von der Betrachtung des Alltagslebens und der Alltagspolitik her bieder sozialdemokratisch erscheinen müssenden Beamtenstaat. Die verächtliche Rede vom Bette als der "Oper des kleinen Mannes" geht auf jene Zeit zurück und portraitiert ihr sittliches Gebaren.
Prüderie war im Nationalsozialismus genauso Fassade wie seine ans Ausland adressierten Friedensbekundungen. Volkmar Sigusch übersieht die entsprechende Geschichtsforschung und deren Befunde: Sexualität und Gewalt haben im Nationalsozialismus positiv korreliert. Dies erweist sich aktuell neu, denn sind es nicht insbesondere "Altachtundsechziger" - Exponenten einer Generation sexueller Befreiung - welche als Regierung der BRD eine äußerst gewalttätige Arbeits-, Sozial-, Innen- und Justizpolitik ins Werk setzen? Einem solch kritischen Blick stellt sich die historische "sexuelle Befreiung" als extremistisch patriarchaler Hype dar, der den ödipalen Anspruch auf schrankenlose Bemächtigung des weiblichen Geschlechts erhebt und die Reserve der Frau durchbrechen wollte, selbst über ihre reproduktive Investition zu entscheiden. Das "Mein Bauch gehört mir!" der politischen Frauenbewegung richtete sich demnach sowohl gegen die Protagonisten der Unterdrückung weiblicher Sexualität als auch gegen ihre vermeintlichen Befreier. Die kapitalistische Produktionsweise läßt sich systemisch nicht von der ihr unauflöslich zugehörigen Erscheinung des "tendenziellen Falls der Profitrate" trennen und muß so notwendig zur Gewalt neigen. Ausgeübt werden kann diese Gewalt jedoch nur von einzelnen Menschen, deren Gewaltschranke dazu zuvor geschwächt worden sein muß. Eben dies erreicht "sexuelle Befreiung" - früher und heute. Die hier noch ausstehende Erklärung wird der Teil II dieses Textes liefern.

Linkes Projekt

Wird die zentrale Bedeutung der Arbeit im nationalsozialistischen und nun wieder im explizit sozialdemokratischen Staat betrachtet, dann scheint Arbeit dort jeweils "zu sich selbst gekommen" in dem Sinne, als sie einen totalitären Herrschaftsanspruch erhebt. Wohingegen eine "Christdemokratie" ideologische Bauchschmerzen haben wird, sich jedoch wie die Grünen den kapitalistischen Zwängen ganz unterwerfen müssen wird und - sozialdemokratisch werden muß. Denn aus dem Marxschen Wertgesetz ist zu wissen, daß die kapitalistische Wertfiktion allein aus Arbeit zu gewinnen ist. Wie auch immer Arbeit ideologisch emporgehoben wird - sei es als historisch invariantes Konstituendum sozialer Formation oder als moralischer Wert an sich - erweitert sich die arbeiter- und traditionsmarxistische Linke de facto um die Sozialdemokratie-Kapitalismus ist das eigentliche "linke Projekt", in dessen Projektstab ebenso der Nationalsozialismus zu zählen ist - war er doch eine rassistisch unterlegte Sozialdemokratie. Sind der kapitalistischen und sozialistischen Produktionsweise die jeweiligen politischen Kleider abgestreift, steht die Kultur der Moderne nackt vor ihren Betrachtern: Seht da, ein Ungeheuer!


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- Diese Seite ist zu Gast in "Annettes Philosophenstübchen" 2005/06 - http://www.thur.de/philo/gast/werner/gewalt.htm -