Werner Braeuner:

Liebe, Verliebtheit, Sexualität -
Politische Position dieses Textes

Teil I von "Gewalt, Arbeit, Sexualität" war mit "Arbeit, Wert, Gebrauchswert" überschrieben. Mit Moishe Postone, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Michel Foucault und anderen DenkerInnen wurde ein erster, zusammenhängender Blick auf das entwickelt, was "Moderne" heißt und zeitgenössische, "abendländische", aus dem Christentum hervorgegangene Kultur bezeichnet. Mit dieser kam eine sozio-ökonomische Formation hervor, die als kapitalistische Produktionsweise, kurz: Kapitalismus, firmiert und die Menschheit gewalttätig mit Krieg, Herrschaft und Ausbeutung überzieht.
Zu sehen ist weiterhin, daß Kapitalismus - anders als gemeinhin gesagt und geglaubt wird - ein linkes Projekt ist, und zwar arbeiter- bzw. traditionsmarxistisch linkes. Der staatsbürokratische Sozialismus war Variante jenes linken Hauptprojekts. Dieser Text bildet eine Gegenposition, die als eigenständig anarchistisch bezeichnet werden kann. In der hier aufgewiesenen Linken findet er seinen schärfsten und entschiedensten Gegner. Dessen ahistorische Auffassung von "Arbeit" und "Wertgesetz" macht ihn zu einem kulturellen Alien aus einer fernen, tatsächlich unwirklichen und unwirtlich phantasmatischen Welt; hier findet ein "Clash of civilizations" statt. Auf seiten der Aliens ist die in Teil I beschriebene neuro-physiologische "Zurichtung" ideologisch "zu sich selbst gekommen": Kann diese Linke etwas als "gesellschaftlich nützlich" identifizieren, hält sie es damit für umfänglich legitimiert. Die seit den 80er Jahren zunehmend repressive, schließlich offen gesetzes- und verfassungswidrig gewordene Arbeits- und Sozialpolitik des (west-)deutschen Staates, wird von den Aliens unter verschiedenen materiellen Gesichtspunkten nachdrücklich kritisiert; von Kritik beinahe völlig ausgenommen, bleiben die Zwangspolitiken der Arbeitsämter/Arbeitsagenturen, die von Zwangs-ABM, Zwangs-Weiterbildungen bis hin zu heute offener Zwangsarbeit reichen. All dies, obwohl diese Zwangsmaßnahmen den Bruch jenes großen Konsenses bedeuten, der einen politischen und gesellschaftlichen Neuanfang nach dem Ende des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen überhaupt erst möglich gemacht hat: keine faschistischen Politiken und kein Krieg eines deutschen Staates nach innen oder außen mehr! Dementgegen bilden die DGB-Gewerkschaften, Kirchen und zahlreiche zivilgesellschaftliche linke Organisationen die festen Stützpunkte eines Netzwerkes um Arbeitsamt/Arbeitsagentur, welches diese faschistischen | sic! | Politiken forderte, förderte, rücksichtslos durchsetzte und dies weiterhin tut; dabei werden Multimilliardenbeträge umgesetzt: Zurichtungsgeschäft!
Moderne, Kapitalismus und staatsbürokratischer Sozialismus, sind nicht irgendwelche sozialen Formationen neben anderen historisch vergangenen oder noch kommenden. Die Kultur der Moderne ist einzigartig: einzigartig wahnsinnig. Anders als die Marxsche Formationslehre es sagt, steht Moderne in keiner, durch irgendeine rote Linie markierbaren geschichtlichen Folge. Allenfalls markiert sie den Gipfelpunkt eines Wahns, der sich mit Herrschaftsdenken gebiert, auf der einen, und den Tiefpunkt an Spiritualität, der sich in plateisch-christlicher Sklavenmoral entäußert, auf der korrespondierenden anderen Seite.

Bild oder Wort - oder was war im Anfang?

In einer Sprache der Inuit gibt es etwa zwanzig verschiedene Wörter für etwa zwanzig verschiedene Schnees bzw. Qualitäten von Schnee, doch keines für Sexualität. Vermutlich müssen auch die Wörter Verliebtheit und Liebe fehlen. Dies ist - so hier die These - nicht der Urtümlichkeit der Lebensweise der Inuit oder der bei ihnen beinahe unvorhandenen Arbeitsteilung zuzuschreiben, auch nicht der bei ihnen beinahe völligen Deckung sozialen und ökonomischen Lebenszusammenhangs, sondern allein dem Fehlen von "Mikrophysik des Körpers", von Zurichtung.
In einem unzugerichteten Lebenszusammenhang wird auch das Wort "Arbeit" fehlen müssen. Zur Illustration: In einem Mittelalter-Fantasymovie trifft sie ihren entmutigten Liebsten zufällig im nahe des Dorfes gelegenen Wald an. Nachdem sie ihn erfolgreich getröstet und wieder aufgemuntert hat, krönt sie ihr Hilfswerk mit dem Satz: "Geh' jetzt wieder ins Dorf zurück und an Deine Arbeit!" Ein Anachronismus, denn zurück im Dorf, wird jener in der Schmiede seines Vaters die verschiedensten Tätigkeiten verrichtet haben, nur eines wird er nicht getan haben: arbeiten. Analog den zwanzig Inuit-Wörtern für Schnee, wird es in der mittelalterlichen Umgangssprache eine Vielzahl von exakten Bezeichnungen für eine Vielzahl von Tätigkeiten gegeben haben, doch nicht den hochabstrakten Begriff Arbeit für diese alle. Es gab "Tagwerke"; ein Sommertagwerk umfaßte einen Kanon von Tätigkeiten, die in den Sommermonaten gewöhnlich anstanden; entsprechend in den anderen Jahreszeiten andere Tagwerke aber nicht "Arbeit". Die Breughelschen Bilder vermitteln die Buntheit solchen Tagwerks.
Die des Hieronymus Bosch hingegen atmen bereits einen ersten Geist von Zugerichtetheit und machen geschlechtliches und anderes Treiben mit ihrer drastischen bildlichen Darstellung als gesondert' Ding und als lasterhaft wahrnehmbar. "Erst das Verbot macht das Sexuelle groß," sagt Volkmar Sigusch im "Freitag"-Gespräch; anders ließe sich besser sagen, durchs Großmachen wird auf die Gesondertheit des Dings verwiesen, dies sogar imperativ und mit dem Impetus, diese neue Wahrnehmung der Gesondertheit des Sexuellen als gesellschaftlich salonfähig zu nehmen, so es aus der Ecke des Skurrilen zu holen, in die es aus Sicht noch unzugerichteter unbedingt gehört. Was damit zugleich salonfähig gemacht wird, ist Zurichtung! Das Verbot dient also dem Großmachen, wobei es ihm nicht um das Großmachen eben des Sexuellen geht; vielmehr eignet sich das Sexuelle sehr gut, um es anhand eines Verbotes großmachen zu können, weil es so sehr unschuldig und schlicht ist, zum Menschen gehört, wie das Lachen, Weinen oder Atmen- zumindest bei unzugerichteten ist das so. Und eben gegen die unbewußten Aktionen und Reaktionen des Körpers, gegen Unabgezirkeltheit, richtet sich Zurichtung. Wie anders wäre der Robot hervorzubringen?
Vollends salonfähig wird die Wahrnehmung des Sexuellen als gesondert' Ding erst, wenn Fachtermini geschaffen und diese in einen Katechismus aufgenommen worden sind. Früher der kirchliche Katechismus, heute der Duden oder die in den Medien gepflegte veröffentlichte Sprache, wiederholt die Pornographie den alten Vorgang aufs neue; da gibt es "Blow-jobs", "Cam-shots", "Double-penetration" und so weiter. Erst das Bild, dann die katechetischen Fachausdrücke - beiden voraus die Zurichtung in erster und früher Form!

Nun ist erahnbar, wieso das frühe Proletariat die repetitiven Tätigkeiten in den eben aufgekommenen kapitalistischen Fabriken als skurrile bis obszöne Zumutung empfunden hat; nicht der Schwere der körperlichen Arbeit wegen... Welcher Band- oder Industriearbeiter würde heute das Angebot einer akkordlichen Leistungsentlohnung mit den Worten ablehnen wollen "Nein, ich möchte lieber weiter auf Zeitlohn bleiben- mag mich nicht nötigen, schnell hektische Bewegungen auszuführen!" Eben das ist ja Mikrophysik des Körpers: auf das schnelle Ausführen hektischer Bewegungen abgerichtet zu sein, dies nicht mehr als skurril oder obszön zu empfinden! So würde ein Vorarbeiter heute schlicht entgegnen: "Also was!? Willste nun arbeiten oder nicht? Sekt oder Selters!"
Die Ergebnisse der Geschichtsforschung deuten auf folgenden Ablauf hin: Mikrophysik des Körpers, Zurichtung, nahm ersten Anfang in der Disziplin/ Askese der Klöster. Als erste und in großem Stil, verbanden die Zisterzienser (Klostergründung im Jahre 1098 in Frankreich) die allein religiös motivierte asketische Körperdisziplin mit arbeitlicher Tätigkeit. Postone vergißt auf die umfangreichen Wasserbauprojekte der Zisterzienser hinzuweisen, notiert ansonsten jedoch ausführlich auf Seite 317 (a.a.0.): "In den klösterlichen Orden des Westens waren im 6. Jahrhundert die Gebete von der Benediktinerregel einer zeitlichen Ordnung unterworfen und an variable Stunden gebunden worden. Diese Ordnung des Klosteralltags setzte sich zusehends durch, und im 11.,12. und 13. Jahrhundert wurde die Bedeutung zeitlicher Disziplin immer stärker betont. Besonders galt dies für den Zisterzienserorden, der ausgedehnte Landwirtschafts-, Handwerks- und Bergbauprojekte betrieb und der die zeitliche Disziplin bei der Organisation der Arbeit ebenso betonte wie bei den Gebeten, den Mahlzeiten und der Nachtruhe." Doch forderten die klösterlichen Pflichten nicht allein zeitliche, sondern insbesondere auch körperliche Disziplinierungen. Die vorfindlichen Gegebenheiten von Körper-Seele-Geist orientieren das Kontinuum auf Gemütsstimmungen und spontane Anwandlungen und Impulse zur Tätigkeit; deren Unterwerfung unter asketische Disziplinen: führt zu Zuständen des Unwohlseins des gesamten Kontinuums und macht vorrangig den Körper als etwas Fremdes erlebbar, besser: als gesondert' Ding, sträubt er sich doch gegen das ihm auferlegte Joch. Diese Fremdheit wird dem Bewußtsein mit größter Deutlichkeit vorgeführt, indem die Eigenbedürfnishaftigkeit des Körpers als "schlecht", als Ausdruck teuflischen Wirkens, qualifiziert wird. Ein solcher Körper wird vom Bewußtsein vom Kontinuum des Ichs abgespalten, in der Folge als ein disparates und mit fremdem Eigenleben ausgestattetes gesondert' Ding wahrgenommen. Nun kann das Ich den Körper zum Objekt seines Wollens machen, kann beginnen, dies Fremde nun zuzurichten - tatsächlich findet Eigenzurichtung statt. Der Komplex von mit Lust verknüpften körperlichen Regungen kann nun verdinglicht werden zu "Sexualität".

"Arbeit" und "Sexualität" sind Zwillingskinder der Zurichtung. Dieser Umstand wird heuristisch zu einem Ansatz erweitert, hier nun die Marxsche kritische Theorie kapitalistischer Produktionsweise zum Modell einer entsprechenden Theorie von Lieb' und Trieb im Kapitalismus werden zu lassen, welche "Arbeit" und "Sexualität" in Analogie bringt. Hinzu kommen die entsprechenden Analogien von (2) "Wert" - "Verliebtheit" und (3) "Gebrauchswert" - "Liebe".

Alles ist Subsumtion

Zum Verständnis dieser Analogien wird hier unten Postone angeführt werden. Es wird von "relativem Mehrwert" die Rede sein, von dem Mehrwert/Profit, den Unternehmen unter dem Druck des Wettbewerbs oder von Absatzschwierigkeiten (z.B. durch eine Produktion, der keine zahlungskräftige Nachfrage am Markt gegenübersteht, so genannte "relative Überproduktion") erzwingen, indem sie Arbeitskräfte entlassen, nachdem sie entsprechende technische Verbesserungen (Rationalisierungsinvestitionen) vorgenommen haben; die Herstellkosten der Waren sinken und diese können zu niedrigeren Preisen angeboten werden, was mehr Käufe nach sich zieht und die Konkurrenz eventuell aus dem Feld schlägt. Dies eine Profittaktik, die etwa mit dem 19. Jahrhundert begann. Sie zieht eine Erscheinung nach sich, die "Subsumtion" genannt wird. Bei Postone (a.a.O.) S. 426: "Die Produktion des relativen Mehrwerts revolutioniert durch und durch die technischen Prozesse der Arbeit und die gesellschaftlichen Gruppierungen." (MEW 23, 532f) Der Arbeitsprozeß wird also in dem Maße transformiert, wie sich die Basis des Verwertungsprozesses vom absoluten zum relativen Mehrwert verschiebt. Marx beschreibt diese Transformation als Übergang vom Stadium der "formellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital" (MEW 23, 533), in dem sich "die allgemeine Natur des Arbeitsprozesses...nicht dadurch ändert, daß der Arbeiter ihn für den Kapitalisten statt für sich selbst verrichtet" (MEW 23, 199), hin zu einem Stadium der "reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital" (MEW 23, 533), in dem sich eine "Verwandlung der Produktionsweise selbst durch die Unterordnung der Arbeit unter das Kapital" (MEW 23, 199) vollzieht. Die sich dauernd verändernde industrielle kapitalistische Produktionsweise wird also als "spezifische" benannt, bei der es zur "reellen" Subsumtion der Arbeit unter das Kapital kommt. "Formelle" Subsumtion hingegen bedeutet, daß eine vom Kapitalisten vorgefundene sozio-ökonomische Struktur von diesem unverändert genutzt wird - wie im einfachsten Falle bei der Erhebung von Steuern oder des Kirchenzehnten -, was "absoluten" Mehrwert hervorbringt, der also durch die fixen Gegebenheiten in absoluter Weise festliegend ist.
Mit der sich aus der Profittaktik der Gewinnung relativen Mehrwerts ergeben müssenden reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, folgen weitreichende Veränderungen der zunächst vorfindlich gewesenen sozialen und ökonomischen Strukturen, welche demnach jegliche Art von "Tagwerken" auflösen und in "Arbeit" verwandeln. Die produktive Tätigkeit wird dann - z.B. mit Hilfe arbeitswissenschaftlicher/ergonomischer Verfahren (REFA) - auf ihre arbeitsaffig robotische Nützlichkeit hin optimiert, ja selbst die Produktionsanlagen werden danach ausgerichtet, jede einzelne Minute menschlicher Arbeitszeit zu Arbeitsleistung zu machen. Eben dies beschreibt der Begriff "Subsumtion", übersetzt: unter sich bringen.
Wenn dies also die kapitalistische Subsumtion von Arbeit ist, welche andere Subsumtion ging dann der kapitalistischen voraus? Wenn es bei Marx heißt, der Arbeiter habe vorher "den Arbeitsprozeß für sich selbst verrichtet," übersieht solche Formulierung eine Subsumtion auch der nichtkapitalistischen Arbeit, des "Tagwerks", nämlich deren Subsumtion unter die gegebene soziale Organisation, also unter jeweilige menschliche Lebenszusammenhänge von Bauern, Handwerkern, Künstlern, Handeltreibenden, Kauf- und Kriegsleuten u.s.w. In traditionsgeleiteten Gesellschaften liegen demnach "ursprüngliche" Subsumtionen von Arbeit vor. Der oben behaupteten Analogie nach, muß dies auch für die Sexualität gelten. Deren Subsumtion geht dort zumeist auf von Mythen geschaffene Lebensethiken zurück und mündet in vom sozialen Zusammenhang definierten Institutionen; Ehestiftung durch Eltern, Clans, Dorfgemeinschaften, auch Ehelosigkeit kann ihre Formen finden.
Bei der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital bzw. unter dessen Mehrwertverlangen, wird Arbeit für einen Zweck verrichtet, der nicht mehr von den jeweiligen sozialen Zusammenhängen definiert ist, in die der Arbeitende eingebettet ist. Vielmehr erhält Arbeit ihren Zweck von außen, vom Mehrwert= verlangen, das nun jegliche andere Subsumtion auflöst. Mehr noch war die ursprüngliche Subsumtion geradezu zweckfrei, Arbeit wurde nicht für Zwecke verrichtet. Arbeit und Sexualität waren auf eine Weise subsumiert, daß sie nicht den Charakter bewußter, abgesonderter Tätigkeit erlangten. Ist Zweck der Arbeit unter der reellen Subsumtion durch das Kapital der aus ihr zu gewinnende Mehrwert, wird "Zweck" von Sexualität die Lust. Es ist eine "Lust", da nun ein abgesondert' Ding geworden, ein Lustding. Vergleichbar dem Eisen auf der Drehbank, lassen sich von nun ab Lustdinger drehen. Im Pornofilm ist dieser Dreh zur Vollendung gelangt.

Analogische Strapazen

Dem Marxschen Wertgesetz zufolge, läßt sich Mehrwert allein aus lebendiger menschlicher Arbeit gewinnen, und da im Kapitalismus der Mehrwert Ziel und Zweck allen Produzierens ist, bedeutet dies zugleich, daß Arbeit zu diesem Ziel und Zweck werden muß. Ideal wäre, ein am Markt gut nachgefragtes Produkt herzustellen, zu dessen Fabrikation ein möglichst hoher Anteil lebendiger menschlicher Arbeit vonnöten ist. Bei personenbezogenen Dienstleistungen ist dies am ehesten der Fall, optimal hier die direkte Prostitution; dort der Anteil der fixen Kosten (Maschinen, Gebäude, Ausrüstung) - zur Not reicht ein Busch neben der Schnellstraße - im Vergleich mit denen der Arbeitskraft verschwindend niedrig. Um das Kleingewerbe Prostitution wieder unter das große Kapital zu bringen, mußte dies allerdings die fixen Aufwendungen hochfahren: Computer, Datennetze, Cybersex. Und wie der Mehrwert eine Art entkörperlichten Substrats der Arbeit ist, ist Cyberlust entkörperlichtes Substrat der "Lust", des Lustdings. Eben das meint Fiktion: erst fiktive "Dinger" schaffen, um sie anschließend sogar noch zu "vergeistigen"! Kapitalismus erschafft also körperlose Geistdinger, was seine Herkunft aus dem Christentum mit seinen Wiederauferstehungen und Himmelfahrten belegt. Wir könnten also noch eine (2a)-Analogie einführen, die von "Mehrwert" - "Lust".

Die Leerstelle der Subsumtionen

Der Text will sich nun einer seiner zentralen Aussagen nähern. Zusammenfassend haben Arbeit und Sexualität vor der Zurichtung, welche der kapitalistischen Produktionsweise notgedrungen vorausgehen mußte, zwar existiert - sicherlich! -, doch nicht als gesondert' Ding, sondern vielmehr sozialen Zusammenhängen so weit subsumiert, daß Arbeit und Sexualität keine eigenständigen Bezeichnungen verlangten. " Arbeit" im Sinne heutigen Sprachgebrauchs kam erst mit der körperlichen, neurophysiologischen Zurichtung im Rahmen reeller Subsumtion und spezifisch kapitalistischer Produktionsweise auf. Die dieser vorausgegangene unspezifische Variante (absoluter Mehrwert) hingegen, hat sich auf eine überwiegend unkörperliche, eine ideologische Zurichtung gestützt, wie sie die protestantische Predigt in optimaler Weise beistellen kann. Erst mit dem allmählichen Übergang zur spezifisch kapitalistischen Produktionsweise wurde die Zurichtung körperlicher (frühe Arbeitshäuser für die Armen und Bedürftigen) und schließlich immer mehr verwissenschaftlicht (Jeremy Benthams Panoptikumarbeiten), bis schließlich das moderne Gefängnis hervorkam. Letzteres geschah zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dazu Michel Foucault, a.a.O., S. 148: "Das Problem ist nun, daß binnen kurzer Zeit die Haft zur wesentlichen Form der Züchtigung wurde. Im Strafgesetzbuch von 1810 nimmt sie in einigen Abwandlungen zwischen der Todesstrafe und den Geldbußen fast den gesamten Bereich möglicher Bestrafungen ein." Und auf S. 150: "Diesem Traum vom Straftheater, das wesentlich auf den Geist der Straffälligen wirken sollte, folgte der große einförmige Apparat der Gefängnisgebäude, deren Netz sich über ganz Frankreich und Europa ausbreitete. Wahrscheinlich ist es aber schon zuviel, wenn man diesem Übergang zwanzig Jahre gibt. Man kann sagen, daß er sich beinahe in einem einzigen Augenblick vollzogen hat." Mit dem angegebenen Datum, 1810, ist die institutionelle verkörperlichte Zurichtung "zum Schmieden des Nerven" (Nietzsche) fertig installiert. So ist dieses Datum zugleich ein Marker für den Übergang der kapitalistischen in die spezifisch kapitalistische Produktionsweise. Ein Datum auch für die Auflösung jener Subsumtionsverhältnisse, in die Arbeit und Sexualität zuvor sozial integriert waren. Doch während die Arbeit neu, nämlich unter das Kapital reell subsumiert wurde, fehlte solche reelle Subsumtion für die Sexualität. Arbeit ersetzt nun quasi die Sexualität im Hinblick auf deren existentielle Bedeutung; ist Sexualität biologische Existenzbedingung in Absolutheit, wird Arbeit, die vorher existentiell eher bedeutungslos war, nun zur alleinigen Bedingung der physischen Existenz sozial und ökonomisch isolierter Individuen. Ein Tausch der existentiellen Bedeutungen findet statt.

Privat vagabundierende Herrscherin des Seins

Arbeit wird zur neuen Mutter des Seins. Sexualität, ihre Vorgängerin, der über Jahrzehntausende eine tiefe kultische Verehrung entgegengebracht worden war (siehe auch das Kali Dhurga-Fest), vagabundiert nun frei, kontur- und bedeutungslos, ohne innere Einbindung oder Subsumtion im Sozialen, bleibt sich selbst und einer - nun erstmals neu entstandenen - "Privatsphäre" überlassen. Subsumtionen in reale Lebensvollzüge hat sie sich fortan selbst zu erschaffen. Wie macht sie das?
Die faktische sozio-ökonomische Vereinzelung des Menschen im Kapitalismus im Blick, können Subsumtionen von Sexualität keine realen sozio-ökonomischen sein. So müssen diese Subsumtionen in Form virtueller Konstrukte gefunden werden, die genauso fiktiv sind wie "Wert" und "Gebrauchswert", letztlich auch "Arbeit". Sexualität wird sich auf der Suche nach neuer und geeigneter Subsumtion letztlich an diesen Ausgeburten von Zurichtung orientieren, sich an die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital anlehnen müssen. Sei es männliche oder weibliche Sexualität.

Unverblümtes

"Echter Profi: acht Stunden feucht!" So ein Akteur aus der Pornobranche im Rückblick und anerkennend über eine frühe deutsche Pornoqueen der 70er/80er Jahre. Hier orientiert Sexualität sich direkt am Normalarbeitsverhältnis der so genannten Taylorschen Periode der Industriearbeit; welche vom Achtstundentag gekennzeichnet ist. Wie die Arbeit bei ihren "Helden", Stakanovich & Co., ist solche Sexualität reiner Fetisch, eine Art Droge. Die Erschöpfungszustände übermäßiger Verausgabung von Arbeitskraft oder Geschlechtskraft führen zur Ausschüttung körpereigener Morphine und in einen tranceartigen Zustand. Arbeitliches Pendant zum acht Stunden lang feuchten Profi am Pornoset wäre: "Geil, heute drei Pensen geschafft!" (Entlohnung nach Pensum ist eine Form akkordlicher Leistungsentlohnung; ein Pensum ist Knappe, zwei ist Meister, drei sind Queen oder King!)
Wer - nun wieder mit Blick auf die Sexualität - weder zu achtstündigen artistischen Leistungen noch zu glatter und ungebrochener Orientierung am Taylorschen Arbeitsverhältnis willig oder fähig ist, muß sich nach subtileren Formen der Subsumtion von Sexualität begeben. Je nach sozialem Status, Umsicht oder Souveränität, kommt es auf dieser Ebene zu unterschiedlichen Lösungen des Subsumtionsproblems. Freuds "Alles ist Sexualität" findet hier einfache Erklärung.

Messen, zählen, rechnen, wiegen

Heraklischer Schweiß, bartholinische Feuchtigkeit und prostateisches Liquid sind dinglich gegenständlich und materiell konkret; wenig Spielraum, sie kreativ sublimierend zu behandeln, naheliegender, sie den Prozeduren des Messens, Zählens, Rechnens und Wiegens zu unterwerfen;, Sich an ihrer Reichlichkeit berauschen oder ihnen auf kindlich frühe Weise Mana-Qualitäten zueignen. Das läßt sich allenfalls - wie bei der Bafomet-Kultfigur, aus deren satyrischem Penis Licht strömt - in erster Näherung entkörperlichen und vergeistigen. Geschäft asketisch zugerichteter Gemüter; einem den Zisterziensern nahestehenden Orden, den Tempelrittern, die als Militärs an sich selbst asketisch frühe Zurichtung betrieben haben müssen, wird eine klandestine Verehrung des Bafomet nachgesagt. Solcherartiges Subsumtionstun wird heutzutage meist bei denen gefunden, die durch Schule, Betrieb und Armee auf unverblümtere Art zugerichtet worden sind und die deshalb aus den unteren bis mittleren Rängen des Proletariats herkommen. Die Subsumtion beleiht weniger "Arbeit" als vielmehr "Arbeitskraft" und reproduziert beinahe Techniken zurichtender Disziplinierung. Beten, fasten, singen, knien wären die überkommenen Versuche sexueller Subsumtion eines noch religiös geprägten Proletariats und markieren das Bemühen um Vergeistigung des Geschlechtlichen in Form von ideeller Liebe zu den Kultgestalten Jesus und Maria. Sie sind heute nicht mehr anzutreffen. Hierzu später mehr.

Die Standardsubsumtion

"Überhöhte Sexualität", "blinde Verliebtheit" (Volkmar Sigusch) sind Ausdruck gängigsten Subsumptionsversuchs von Sexualität im Kapitalismus. Er orientiert sich am kapitalistischen "Wert". Dieser beruht zwar auf Arbeit bzw. auf deren Vollzug durch die Arbeitskraft, doch anders als Maschinenöl oder Körpersekrete ist er völlig geruchlos, immateriell, ja vergeistigt und verschiebt Wirklichkeit in einen fiktiven Raum der Möglichkeiten von Sexualität so, wie der Wert den Möglichkeitsraum von Konsumtion abbildet, welche aber dem Verzicht unterliegt. Realisierung hieße Verlust von Mehrwert bzw. Lust. Wert, Geld, stinkt nicht, die Bits und Bytes elektronischen Zahlungsverkehrs noch viel weniger. Der Gestank von Zurichtung und Enteignung der sozialen Bezüge haftet nicht an.
Mit Goethes "Werther" wurde beschrieben, was neu in der Luft lag; kapitalistisches Geld gab es bereits lange, und das "Wert"-Papier hatte sich zu verbreiten angefangen. Ahmt das Unglück des Werthers, sein Sichverzehren um den zurückzustellenden Vollzug, doch jenes des Börsianers nach. Mehr noch entlarvt sich die Herkunft des Wertes aus der - für den Bourgeois unberührbaren - Arbeit, gewinnt der romantisch überhitzte Eros des Werther seinen Überdruck doch aus der Betrachtung einer - vom Plot her, weil Gattin eines anderen, unberührbaren - fleißigen und arbeitsamen Mutter einer großen Kinderschar, womit das Proletariat repräsentiert ist. Es ist die altbekannte Liebe des Herrn zu seinem fleißigen Knecht, die dem Plot Pate steht.
Ein zwar originär bourgeoises Subsumtionsmodell, doch gerade deshalb für Angehörige des Mittelstandes und der aufstiegswilligen oberen Ränge des Proletariats (Facharbeiterschaft) um so attraktiver, weist dessen Annahme doch brave Konkordanz mit und aktive Akklamation von bürgerlicher Lebensweise aus: So jemand fühlt sich nicht ausgebeutet. Zugerichtet und sozial enteignet zu sein, würde er empört von sich weisen. So jemand ist "drin". Verliebtheitskasper, hat er eine "Traumfrau", wohingegen der Bourgeois Wertkasper ist und ein "Traumpapier" verehrt.

Pökelfrau

Solchen luftigen Fiktionen stellt "klassenbewußtes" Proletariat (konkret: Sozialdemokratie und DGB mitsamt ihren linken Kleinsatelliten) sein bieder-braves Phantasma vom "gesellschaftlich nützlichen" (Variante: "ökologisch nützlichen") "Gebrauchswert" gegenüber. Wird so jemand nach "Zurichtung" gefragt, hat er noch nie davon gehört? Anstatt kritisch, "schwarmgeisterisch" zu denken, will er lieber die Erde salzen. Das liegt ihm mehr als luftakrobatische "Wert"-Akte. In der Tiefenpsychologie steht "Erde" für "Frau". Hier nun die andere Seite des Verzichts auf die vollziehende Konsumtion, welche einen ländlich-bäuerlichen Aspekt aufweist: Gesalzene Erde ist eingepökelte Frau. Das riecht zudem nach Dauerhaltbarkeit und Nachhaltigkeit (die Zweikinderfamilie) und ist allemal "gesellschaftlich nützlich". Frau als Dauergebrauchswert. Gewachsener Schinken, gewachsene Liebe? Immerhin weist dies Subsumtionsmodell Beständigkeit auf und ermöglicht längerfristige Partnerbeziehung. Das Modell bröckelt parallel zum Niedergang des Normalarbeitsverhältnisses, was erneut als Hinweis zu nehmen ist, daß es sich tatsächlich eng an eine aktuelle Form kapitalistischer Arbeit anlehnt.

Piratinnen

Nachdem Wert- und Gebrauchswertkasper portraitiert sind, nun die Frage nach den Frauen. Vorweg: Sie tun das, was gefallener alter Subsumtionsadel als gefallener Adel tun muß - unter die Piraten gehen. Denn Wert- und Gebrauchswertsubsumtionsmodelle für Sexualität sind durchweg männlicher Konnotation. Sie greifen auf Instrumentalisierungen von Frau so zurück, wie das Kapital auf wertschaffende Arbeiter zurückgreift, auf den männlichen Arbeiter, wohlgemerkt.
War die Hysterie vor 100 Jahren eine Erkrankung, deren Merkmale Starre, Apathie und Geistlosigkeit waren, läßt sie sich als Protest von Frauen gegen ihre Einpökelung auf der einen und ihre Übervergeistigung auf der anderen Seite verstehen. Zwar waren überwiegend Frauen der bürgerlichen Oberschicht betroffen, doch waren diese durchaus häufig Opfer der Pökelei, denn das Bürgertum war damals eher bodenständig und wertkonservativ; die katastrophischen politischen und ökonomischen Krisen standen ihm erst noch bevor, weswegen es sich als gesellschaftlich nützliche Kraft lesen konnte. Als der in großbürgerlichen Kreisen vielerseits angenommene Freud veröffentlichte, Hysterie sei sublimierte "weibliche Sexualität", verschwand diese Krankheit in kurzer Zeit und lebt heute allein noch in den Annalen der Medizingeschichte fort. Hatte der patriarchale Freud den Widerstand dieser Frauen gegen die männlich-patriarchalen kapitalistischen Subsumtionsmodelle von Sexualität also erfolgreich gebrochen?

Kapitalistische Kultur hat offenbar wenig Repertoire an Subsumtionsmodellen, die für die Sexualität von Frauen annehmbar sind. Tiefenpsychologisch betrachtet ist Kapitalismus rein männliches Geschäft: Vergeistigung des Materiellen, Übertrag von schweißiger Arbeit in die aseptische Wertform des Kapitals, in Zahlen und Papier. Das Wort "materiell" trägt Mutter, Frau mit sich. Extremistisch patriarchal, kann die aus Zurichtung hervorgehende Fiktionsebene kapitalistischer Arbeit, kapitalistischen Werts und Gebrauchswerts, Frauen Subsumtionsmodelle kaum anbieten. Nur wo das Subsumtionsmodell die äußerlichen Formen drastisch zugerichteter proletarischer Arbeit unmittelbar beleiht, fehlen solche Geschlechterunterschiede. Die an Größe festgemachten Manaqualitäten von Penissen, Brüsten und Gesäßen lassen sich in der exakt selben Währung messen: in Zentimetern; die Leistung läßt sich wie Akkordpensen zählen, in Stunden, Minuten und Stück. Offenbar allerdings, daß solche Subsumtion Beständigkeit von Paarbeziehung nicht bieten kann.
Ohne Subsumtionsmodelle, werden Frauen überwiegend Subsumtionspiratinnen werden, welche je nach sich bietender Gelegenheit Subsumtionsbeute machen. Die vielleicht vornehmste Art, sich der kapitalistischen Verdinglichung des Körperlichen in Form von "Sexualität" zu entziehen. So liegt das Fragwürdige in Volkmar Siguschs "gewachsener Liebe" wohl darin, überhaupt zu versuchen zu titulieren. Das muß - wir haben Kapitalismus! - entweder Verballhornung oder Strapaze werden. Die Gefahr dabei, die spezifisch kapitalistischen Subsumtionsmodelle zu übersehen und unversehens in deren Gravitationsfelder zu geraten - hier der "Gebrauchswert". Plumper Versuch dieser Falle, Arbeit zu adeln, indem sie mit Dauerhaftigkeit bewehrt wird. Das endet schlicht: Wieviele Stunden reichen für wieviele Tage/Wochen/Monate? Im Hintergrund lacht es albern!

Infusionen und Einläufe

Kapitalismus und seine Fiktionen lassen sich nicht mittels Schönredens austricksen; ihr zähes Leben endet erst, wenn sie an der Wirklichkeit zerschellt sein werden. Dieser Text will Sterbehilfe geben.
Die Grundzüge einer kritischen Theorie von Lieb' und Trieb im Kapitalismus liegen nun vor. Aus ihnen "Neosexualitäten" zu begreifen, dürfte gelingen, wenn der Marxsche Begriff der "überflüssigen Arbeit" hinzugenommen wird. Da geht es zunächst um "Arbeit erfinden " (Titel eines Projekts Kölner Sozialbehörden aus der zweiten Hälfte der 90er Jahre), um den Zwang zur Konsumtion von Dienstleistungen, der von wiederum gezwungenen Dienstleistern hergestellt wird - aufs Sexuelle übertragen, eine Art von Analkreisverkehr. Doch geht es bei dieser Gruppensexaktivität im Kreisringelpietz gebückt stehender sadomasochistischer Praktikanten nicht um Lust sondern um dessen Pendant, den Mehrwert (siehe Analogie 2a!). Das kapitalistische Verwertungsverhältnis, dessen Wesen ein Sklavenverhältnis ohne Herrn ist, soll durch Disziplinierung gegen seine mit dem tendenziellen Fall der Profitrate unvermeidliche Erosion verteidigt werden: Der bettlägerige Patient namens Fiktionen liegt nun auf der Intensivstation und erhält dort lebensverlängernde Infusionen. Zurichtung, Quelle der kapitalistischen Fiktionen, war/ist ein gesellschaftliches Tun. Umgekehrt schwindet Zurichtung mit der Krise der Verwertung unmittelbarer menschlicher Arbeit und verschwindet die Gesellschaftlichkeit des Zurichtungstuns. Die Fiktionen verlieren ihren Charakter "natürlicher" A priori-Gegebenheit. Dieser Verlust an Gesellschaftlichkeit sucht Ersatz in individuellem Größenwahn. Das ehemalige deutsche Führervolk wird zu einem Volk von Führern. Zu einer Neuauflage des Führerstaats kommt es allein deshalb nicht, weil dieser historisch und politisch dauerhaft diskreditiert ist: Der alte Wahn der Zugerichteten muß neue Blüten treiben. Das Führerprinzip des "Ich will" diffundiert von dem einen Individuum zum Individuum. Die mit dem gebrauchswertlich orientierten Begriff der "gesellschaftlich nützlichen" Arbeit gegebene individuelle Suche nach überindividuellem "Sinn" einer Arbeit wird von einem nun anderen Hype überboten; die Sinnsuche im gesellschaftlichen Außen immer schwieriger geworden, wird sie vom neuen Hype ersetzt: "Arbeit soll sein, weil ich bin!"

Hardcore

Hier der heiße Brei, um den die Katze namens öffentlich vorgetragener linker und linksradikaler Kapitalismuskritik allezeit ängstlich und allezeit stumm herumschleicht: Denn ist Arbeit nicht invariantes Agens eines historischen Prozesses, wird sie also nicht so wie bei der arbeiter- und traditionsmarxistischen Linken zum Gegenstand einer mit Hilfe platter dialektischer Liturgie zusammengeschusterten Apotheose, bleibt sie das, was Postones Marx an ihr erkannte: historisches Novum. Ein solches läßt sich theologisch unbefangen untersuchen; unmittelbar wird aus dem Wertgesetz und mit diesem geborene "Arbeit" als krasseste aller historischen Formen von Herrschaft von Menschen über Menschen sichtbar, nämlich als die von Sklaven Über Sklaven. Präzise: Die einzige existierende Form von Arbeit ist eben diese "Arbeit"! Nacktes Zwangs- und Gewaltverhältnis, wird mit Auslöschung bedroht, wer aus dem Kreis der anal verkehrenden austritt.

Hart links

Der nun allhin sichtbar in tiefer Krise der Verwertung von Arbeit stehende Kapitalismus kann den Gewaltcharakter des durch "Arbeit"/Arbeit formierten menschlichen Beziehungsverhältnisses nicht mehr verbergen; an einigen Stellen tritt dieser Gewaltcharakter schrankenlos offen zutage, in der aktuellen Arbeits-, Sozial-, Innen- und Justizpolitik. Überall da, wo vom Beziehungsverhältnis infolge des Fehlens von Arbeit nur noch harter Kern übrigbleibt, stehen Disziplinierung, Nötigung, Bedrohung und Zwang allein auf weitem Feld. Die im Taylorsch-Keynesch-Fordistischen Kapitalismus hervorstechende Sinnsuche, mit welcher - beinahe ausschließlich von Angehörigen der Linken! - Anspruch auf ein Stück vom Kuchen der überflüssigen Arbeit quasi theologisch zu legitimieren versucht wurde, ist vom individual-narzißtischen Größenwahn des "Arbeit soll ein, weil ich bin!" überboten worden.

En passant

Wo Arbeit sich auf ihren harten Kern reduziert, sie Individuen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten bestimmte Bewegungen ausführen lassen will - manches Mal reicht allein schon physische Präsenz! - und dies alles in ungeschönter Willkür und unter Drohung des Entzugs der Existenzmittel, übersetzt sich die hier entwickelte Analogie schlicht zu: "Gewaltkonnotierte Sexualität soll sein, weil ich bin!" Damit ist die sich verbreitende Attraktion sadomasochistischer Sexualität aus der hier entwickelten These en passant abgeleitet. Sie stellt einen geradezu klassischen Versuch von Subsumtion von Sexualität im Kapitalismus dar: am aktuell majoritären Arbeitsverhältnis orientiert.

Sexualität oder Arbeit?

Die Annahme von Volker Sigusch, "symbolischer oder realer Bedeutungsverlust von Sexualität" könne eventuell Gewalt produzieren, ist hernach zutreffend, falls in seinem Satz "Sexualität" durch "Arbeit" ersetzt wird. Der symbolische oder reale Bedeutungsverlust von Arbeit produziert also Gewalt. Nicht auf verschlungenen Wegen findet sich dieser Zusammenhang von Arbeit und Gewalt, sondern auf dem allereinfachst denkbaren: Arbeit kann immer nur kapitalistische oder sozialistische "Arbeit" sein und stellt per se ein Gewaltverhältnis dar. "Realer oder symbolischer Bedeutungsverlust" von Arbeit übersetzt sich alsdann zu Arbeitsplatzverlust und Verlust von Sinngebung in Form von verlustiger Anhänglichkeit an die ja gerade eben die Gewalt verschleiernden Fiktionen, die aus der Arbeit hervorkommen. Vielmehr also führt Verlust eines in der(im Taylorsch-Keynesch-Fordistischen Kapitalismus gegebenen gesellschaftlichen Sinnhaftigkeit von Arbeit formierten Arbeitsplatzes zu gewaltförmiger Sexualität, nicht aber zu Gewalt. Welche Sexualität könnte auch jemand haben, der sich bei Arbeitsagentur/Jobcenter brav seinen Eineuro-Sklaveneinlauf abholen geht bzw. gehen muß? Wer sind dann wohl die "die ganze Woche über gut funktionieren"? Es sind alle, die auf dem Felde der überflüssigen Arbeit den Zurichtungsringelpietz tanzen.
Überflüssige Zurichtungsarbeit und gewaltförmige Sexualität werden sich allerdings gern in eine Art ich gegenseitig verstärkende Rückkopplungsverhältnis begeben wollen - dies bietet sich an. Sexuallust als Mehrwertersatz bzw. Ersatz für den fehlenden gesellschaftlichen "Sinn" von Arbeit, der sich an der"gesellschaftlich nützlichen "Gebrauchswertfiktion festgemacht hatte. Dies wird in der einen oder anderen Weise für alle in einer Krise der Arbeit stehenden kapitalistischen Gesellschaften der Fall sein müssen. Auf das nationalsozialistische Sittengemälde ist hingewiesen worden.
Unter solchen Verhältnissen wird sexuelle Abstinenz (Asexualität) eine Gewaltbereitschaft sogar mindern müssen, indem die Rückkopplung sozialer und sexueller Gewalt ausbleiben muß. Sexuelle Abstinenz wird so Teil antikapitalistischen Widerstands, vielleicht sein vornehmster Teil! Der "symbolische oder reale Bedeutungsverlust von Sexualität" wäre demnach gewaltpräventiv. Denn, wohlgemerkt: Wir haben Kapitalismus! Und zwar einen in der Krise der Arbeit und Verwertung stehenden, also nach Gewalt gierenden.

Äpfel und Birnen

Abschließend ein Blick auf Antje Vollmers Reportage vom Kali Dhurga-Fest. Ein Fest der "Masse", Gewalt und Sexualität tanzen einen tagelangen ekstatischorgiastischen Reigen. Festzuhalten, daß sich die Gewalt gegen Tiere richtet, kultische Opferungen, ein Tieropfer-Blutfest. In traditionsgeleiteten sozialen Zusammenhängen wie dem nepalesischen, gibt es keine "Masse", die sich mit jener gefürchteten modernen vergleichen ließe - und die dem massenhaften Menschenmord huldigt. Die moderne Masse konstituiert sich vielmehr erst durch die soziale Vereinzeltheit ihrer Teile. Wobei es auch hier eine Ausnahme geben mag, wenn an die kultischen Massenmenschenopfer bei den Azteken gedacht wird. (Die aztekische Kultur war äußerst bellizistisch!) Dort traf es immerhin erklärte gegnerische Kombattanten, es handelte sich also nicht um Ausbrüche blinder oder fanatischer, bürgerkriegsartiger Gewalt. Aus der kulturhistorisch orientierten archetypischen Psychologie (hier zu nennen Erich Neumann) sind Tieropfer-Blutfeste als Fruchtbarkeitsfeste ursprünglicher traditionsgeleiteter spiritueller und nichtmonotheistischer Kulturen bekannt. Daß sich dort fruchtbarkeitskultisehe Gewalt mit Sexualität verbinden muß, ist ohne weiteres eingängig. Gewalt und Sexualität stellen dort nicht zwei Gewichte in den zwei Schalen einer Waage dar, deren eine sich neigen müßte, wenn die andere sich hebt, mehr noch geht es dort nicht vorrangig um Gewalt, sondern es ist Tierblut, was hier kultisch aufgeladen ist. Mit solchem Fest wird der Spirit Fruchtbarkeit gefeiert bzw. erneuert, welcher - wie bei allen spirituellen Kulturen - den Widerspruch individueller und sozialer Existenz löst, indem er mit dem Ritus einer Initiation eine "neue Person" schafft, welche diesem Widerspruch nicht allein gewachsen, sondern ihm durchaus überlegen ist und ihn auflöst. Diese "neue Person" ist Geistkind des Spirit. Moderne Überheblichkeit mag darüber lachen, doch ist das spirituelle Identitätskonzept dem kapitalistisch-modernen unendlich weit überlegen. Im Vergleich mit diesem "primitiven" spirituellen Tun, sind die "großen Religionen" kulturell zahnlose Chimären. Die Vorstellung, Massenfußball sei mit solcher Spiritualität vergleichbar, ist allenfalls niedlich zu nennen.
Was Antje Vollmer in erklärter, Volkmar Sigusch in anzunehmender Weise umtreibt, ist Bannung von Gewalt. Mit Blick auf Kapitalismus, ist diese mehr als zu recht zu fürchten. Zu verstehen ist, daß sich in einer Kultur nicht bannen läßt, was ihr Wesen ausmacht. Furchtbar ist nicht die Gewalt, sondern Kapitalismus. Die blinde Gewalt einzelner ist in ihm lediglich schwaches Aufleuchten jener strukturellen, die ihn ausmacht.

Oldenburg, 23.07.2005

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