Werner Braeuner:

Buchvorstellung
Karl Polanyi, The Great Transformation-
- Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen

Ersterscheinung 1944, als deutsche Übersetzung im Jahre 1978 bei Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Nr. 260

Das Suhrkamp Taschenbuch bietet im Klappentext einen ersten und allgemeinen Überblick über Autor und Werk. Dort heißt es:

Karl Polanyi wurde 1886 in Wien geboren. Nach einem Jura- und PhilosophieStudium in Budapest wurde er Redakteur in Wien, wo er sich intensiv mit volkswirtschaftlichen und wirtschaftshistorischen Themen beschäftigte. 1933 emigrierte Polanyi nach Großbritannien; dort betätigte er sich vor allem in der Arbeiterbildung. 1947 erfolgte seine Berufung als Gastprofessor an die New Yorker Columbia University. Er starb 1964 in Toronto/Kanada. Werke: Trade and Market in the Early Empires (1957); The Livelihood of Man (1977).

The Great Transformation, 1944 erschienen, geht von der These aus, daß erst die Herausbildung einer liberalen Marktwirtschaft mit ihrem "freien Spiel der Kräfte" zu jener charakteristischen "Herauslösung" und Verselbständigung der Ökonomie gegenüber der Gesellschaft geführt hat, die historisch ein Novum darstellt und die bürgerliche Gesellschaft von allen anderen Gesellschaftsformationen unterscheidet. The Great Transformation - das bezeichnet den Übergang von "integrierten" Gesellschaften, in denen die wirtschaftlichen Aktivitäten der Individuen in einen übergreifenden kulturellen Zusammenhang eingebettet waren, zur nicht integrierten Gesellschaft vom Typ der freien Marktwirtschaft. Während in nicht-marktwirtschaftlichen Gesellschaften "die Wirtschaftsordnung bloß eine Funktion der Gesellschaftsordnung", jene also von dieser abhängig ist, kehrt der Kapitalismus dieses Verhältnis um. Seine Ökonomik ist in einem spezifischen Sinne "autonom" gegenüber allen übrigen sozialen Bereichen und Bedürfnissen. In dieser Verselbständigung der Ökonomie gegenüber der Gesellschaft sieht Polanyi den Grund dafür, daß die westlichen Industriegesellschaften dabei sind, ihre eigenen sozialen Voraussetzungen, ja ihre physische Substanz zu zerstören.

Polanyi begnügt sich nicht mit der Analyse und Kritik des laissez-faireKapitalismus; im Anschluß an die Arbeiten etwa von Marcel Mauss, Malinowski und Radcliffe-Brown befaßt er sich eindringlich mit solchen Gesellschaften, in denen die ökonomischen Transaktionen Teil der "faits sociaux totaux" (Mauss) sind. Diese Gesellschaften beruhen auf Prinzipien, z. B. dem der Reziprozität und der eigenbedarflichen Haushaltung, die einen Lebenszusammenhang garantieren, der auf Erhaltung und Schutz des sozialen und ökologischen Gleichgewichts basiert. Es sind nicht zuletzt Polanyis Untersuchungen "primitiver" Wirtschafts und Gesellschaftsformen, die bedeutenden Einfluß auf spätere anthropologische und ethnologische Forschungen ausgeübt haben.
(Ende Klappentext)

Gedanken vorab

Als Annette anregte, eine Zusammenfassung von The great Transformation zu schreiben, habe ich mit gemischten Gefühlen zugesagt. Denn was als wissenschaftliche Veröffentlichung daherkommt, beschreibt zugleich eine ungemein brutale Tragödie. Keine der Art, wie sie Nietzsche in seinem berühmten Essay über diese ursprünglich altgriechische Kunstform beschreibt. War die antike Tragödie sich noch bewußt, Menschen durch Konfrontation mit Dilemmata zu überfordern - weswegen sie den dramatischen AkteurInnen auf der Bühne den Chor der Satyrn beigesellte, eine wilde Klamauktruppe, die allezeit ins Gedächtnis rief, daß die Bühne Bühne und nicht Wirklichkeit war -, so konfrontiert Karl Polanyi seine Leserlnnen ungeschützt. Nichts in seiner Darstellung könnte gegen den Schrecken immunisieren, der unweigerlich entstehen muß, wenn jemand mit so stupendem Kenntnisreichtum und klarem analytischen Blick wie er beschreibt, was das eigentlich ist, Kapitalismus - ein Irrwitz!

Außerdem ist es schwierig, Polanyis Great Transformation gerafft vorzustellen, lebt sie doch vom kenntnisreichen Detail der englischen Arbeits- und Sozialpolitik. Dazu zahlreiche Seitenblicke auf so unterschiedliche Gebiete wie internationale (Groß-)Machtpolitiken bis hin zu sozioökonomischen Strukturen in kleineren bis kleinsten Gesellschaften. Dennoch ist sein Buch hochaktuell; mit den Vorgängen um das Speenhamland-Gesetz (1795-1834), besonders mit dem, was ab und nach 1834 geschah, erinnert er uns heutige doch fatal an "Hartz IV", nämlich an den Versuch, auch den letzten "Faulen" noch fleißigzumachen. In der gewaltsamen Durchsetzung des "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen", erkennt Karl Polanyi im Jahr 1834 den (englischen) Startschuß des modernen Industriekapitalismus und bemerkt dazu zutreffend: "Der Mechanismus des Marktes machte sich geltend und verlangte nach seiner Vervollkommnung; die menschliche Arbeitskraft mußte zur Ware gemacht werden. Der reaktionäre Paternalismus ((des Speenhamland-Systems)) hatte sich vergeblich dieser Notwendigkeit widersetzt. Den Schrecken des Speenhamland-Systems kaum entkommen, flüchteten die Menschen blindlings unter den schützenden Schirm einer utopischen Marktwirtschaft." Und: "Es kristallisierten sich gleichsam zwei Nationen heraus. Zur Verblüffung der denkenden Menschen zeigte es sich, daß unerhörter Reichtum von unerhörter Armut nicht zu trennen war. Gelehrte erklärten einhellig, man habe eine Lehre entdeckt, welche die Gesetzmäßigkeiten, die die Welt des Menschen bestimmen, außer Zweifel stellte. Im Namen dieser Gesetzmäßigkeiten wurde das Mitgefühl aus den Herzen getilgt, und eine stoische Entschlossenheit, die menschliche Solidarität im Namen des größten Glücks Air die größte Zahl aufzugeben, erhielt den Rang einer weltlichen Religion." Wir lesen hier eines der zentralen Resumes Polanyis und unwillkürlich muß sich uns heutigen mit der Parallele Speenham - Hartz, die eine Parallele Anfang - Ende ist, der Gedanke an ein ENDE des Kapitalismus aufdrängen. Nachdem er den gesamten Globus verwüstet hat, schließt sich der kapitalistische Kreis.

Kritisches zu Karl Polanyi

Trotz all seiner Kritik am Kapitalismus scheint bei Polanyi stellenweise immer wieder der Gedanke durch, Kapitalismus müsse nur weise genug sozial gemanaged werden, um am Ende vielleicht doch eine dauerhafte Gesellschaft hervorbringen zu können. Bei allem sonstigen Kenntnisreichtum fehlt ihm offenbar das Verständnis der inneren Dynamiken des kapitalistischen Verwertungsprozesses, insbesondere was das "Gesetz" vom sinkenden Profit (Marxens so genannter "tendentieller Fall der Profitrate") betrifft. Oder kritisiert er das nach dem Ende des Speenhamland-Systems erneut eingeführte radikale Arbeitshaus zwar in aller Schärfe, toleriert diese Atrozitäten jedoch, und niemals scheinen sie ihm als Beweis zu gelten, daß Kapitalismus ein Alien ist und bleiben muß. Diese Widersprüchlichkeit irritiert und erinnert an jene heutigen Linksradikalen, die zwar den Kapitalismus kritisieren, aber unter keinen Umständen etwas gegen Arbeitsamt/Arbeitsagentur sagen würden, weil sie es "gut finden, daß Menschen arbeitsfähig gehalten werden." Im besten Falle kann solche Schizophrenität als Hinweis auf die Komplexität des Themas als solches gelesen werden, denn was ist Kapitalismus, wenn nicht der permanente unsinnige Versuch der buchhalterischen Quadratur des sozialen Kreises? Te absolvo!

Eine Zusammenfassung oder Buchvorstellung von The Great Transformation muß sich so auf einen Überblick über die englische Arbeits- und Sozialpolitik und besonders auf das Speenhamland-System beschränken.

Das Speenhamland-Gesetz (1795-1834)

Die Vorgeschichte des Speenhamland-Gesetzes beginnt in der frühen Tudorzeit (Tudors, engl. Dynastie von 1485-1603; ab 1603 regierte bis 1714 die Dynastie der Stuarts) und zwar mit den so genannten "Einfriedungen" offener Felder und der Umwandlung von Ackerland in Weideflächen, indem Felder und Gemeindeland von den Lords abgezäunt (für sich enteignet) und dadurch ganze Grafschaften von Entvölkerung bedroht wurden -, diese Geschichte beginnt also mit einem äußerst gewalttätig ins Werk gesetzten Akt der sozialen Entwurzelung nichtbesitzender Landbewohner. Die Einfriedungen sind zutreffend als eine Revolution der Reichen gegen die Armen bezeichnet worden. Die Armen wurden ihres Anteils am Gemeindeland beraubt, und ihre Häuser, die bis dahin und nach Gewohnheitsrecht ihr Eigentum gewesen waren, wurden niedergerissen. Auf der anderen Seite entstand Großgrundbesitz. Obwohl etliche Arme später in der mit den Einfriedungen ausgedehnten Schafweidewirtschaft und der Wollverarbeitung Arbeit fanden, blieben etliche andere auf der Strecke - dauerhaft. Es entstand damit in England erstmals der "Pauperismus", eine Kultur Verelendeter ("Pauper") also.

Elisabeth I., Königin von England von 1558-1603, schuf zwischen 1536 und 1601 ein Armenrecht, dem nach die Armen gezwungen waren, für jeden Lohn, den man ihnen anbot zu arbeiten, und nur jene, die keine Arbeit bekommen konnten, hatten ein Recht auf Unterstützung; Hilfe in Form eines Zuschusses zum Lohn wurde nicht gegeben. In der Zeit von 1590 bis 1640 wurden landesweit und umfassend Armenhäuser errichtet und die Durchsetzung der Arbeitspflicht initiiert. (Armenhäuser waren in gewissem Maße bereits A r b e i t shäuser, übrigens eine Erfindung des Tempelritterordens (1119-1312) in Frankreich; Tempelritter spielten - mehr noch nach ihrer Zerschlagung in Frankreich - eine gewichtige Rolle im politischen und geschäftlichen Leben Englands!) Das Niederlassungs- und Ausweisungsgesetz des Jahres 1662 schuf darüber hinaus eine regelrechte Gemeindeleibeigenschaft, um die "besseren" Sprengel vor dem Einströmen von Paupern zu schützen. Jedoch wurde die Durchsetzung der Arbeitspflicht auf dem Lande nach und nach wieder eingestellt, zumal der Pauperismus seine - mit den Einfriedungen anfänglich scharfe - soziale Dramatik allmählich verlor. Dies sollte sich erst zu Beginn des 18. Jhdts. plötzlich wieder ändern; denn waren die Einfriedungen der Beginn einer landwirtschaftlichen Revolution gewesen, war es nun der Beginn der industriellen Revolution, der den Pauperismus erneut und schlagartig dramatisch werden ließ.

Bis ins dritte Jahrzehnt des 18. Jhdts. hatte die Gesetzgebung sich kaum mehr mit dem Pauperismus befassen müssen. Doch ab 1722 wurde in einzelnen Gemeinden plötzlich mit der Einrichtung von (nun) A r b e i t shäusern begonnen, die sich von den örtlichen Armenhäusern unterschieden; die Arbeitshäuser hatten allein der Prüfung der Bedürftigkeit der Unterstützungsempfänger zu dienen. Mit dem Gilbert-Gesetz von 1782 sollten schließlich Lohnzuschüsse gewährt werden, um die Kosten der Gemeinden für Zahlungen an Arbeitsfähige zu verringern. Dies alles durchaus noch im Sinne des Elisabethanischen (protestantischen) Armenrechts und dem in ihm verankerten Arbeitszwang: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Doch im Jahre 1795 kam es mit dem Speenhamland-Gesetz zu einem scharfen Systemwechsel, der das Elisabethanische Prinzip aufhob, indem nun - unabhängig vom Nachweis der Bedürftigkeit - Armenunterstützung und Lohnausgleichszuschüsse f ü r a 1 1 e vorgesehen waren. Praktisch war dies ein Existenzgeld. Die eben zuvor erst mühsam wieder erarbeitete Unterscheidung zwischen Arbeitshaus und Armenhaus wurde bedeutungslos: Das Arbeitshaus verschmolz mit dem Armenhaus, und das Armenhaus selbst begann mehr und mehr zu verschwinden.

Polanyi erklärt den Systemwechsel nicht mit einem zunächst denkbaren Scheitern der Politik des Arbeitshauses, von dem er sagt, dieses habe niemals in seiner Geschichte Profit abgeworfen, weswegen es um so mehr eine (finanzielle) Belastung der Gemeinden war, als Arbeit und Beschäftigung dort gefehlt haben mögen. Nach Polanyi war das Speenhamland-Gesetz aus der Konkurrenz von städtischer Industrie und Landwirtschaft um Arbeitskräfte hervorgegangen und nutzte den agrarischen Produzenten. Diese wollten die Arbeitskräfte, die sie saisonal und in großer Zahl benötigten, am Ort halten, indem sie ihnen Unterstützung und Lohnzuschüsse gewährten, zumal gleichzeitig (1795) die zuvor ohnehin aufgeweichte Gemeindeleibeigenschaft abgeschafft wurde, was die Abwanderung ländlicher Arbeitskraft in die Industriestadt erleichterte. Damals schwankte die Auslastung der Fabriken mit den Aufs und Abs des internationalen Handels sehr, die Fabriken "atmeten" ihre Arbeitskräfte ständig ein und aus, was wesentliche Ursache der drastischen neuen Pauperisierung war: Die "Ausgeatmeten" strömten als Pauper in ihre ländlichen Herkunftsgemeinden zurück. Diese Handelskonjunkturen stimmten nicht mit den agrarischen Arbeitsspitzen überein.

Die Wirkungen des Speenhamland-Gesetzes waren verheerend: Wegen der Lohnzuschüsse sanken die Löhne unter das Existenzminimum, die Pauperisierung wurde allgemein. Auch, weil sich der verhaßten Arbeit in den Fabriken nun durch Entgegennahme von Armenunterstützung entkommen ließ, damit aber eine tiefe Abhängigkeit von gemeindepaternaler Leistung entstand, was psychologisch zu Passivität, Ergebenheit und Demoralisierung führte. Um 1830 etwa wurden die Kinder der Pauper, so wie später erst afrikanische Sklaven und noch später KZ-Häftlinge, als "Stücke" tituliert - so sehr war alles bekannt Menschliche aus den Paupern gewichen; die soziale und kulturelle Entwurzelung wurde erst mit dem Speenhamland-Gesetz total.

Obwohl dies sicher nicht in der Absicht und im Interesse der Erfinder dieses Gesetzes gelegen hatte - schließlich sank mit der Pauperisierung die Arbeitsproduktivität dramatisch -, waren mit der sozio-kulturellen Entwurzelungskatastrophe aber vielmehr erst die Voraussetzungen gegeben, die menschliche Arbeitskraft vollends zu einer unumschränkt disponiblen Ware zu machen. Nun erst konnte - so Polanyi - Industriekapitalismus wirklich beginnen. Dessen Geburtstermin legt Polanyi so auf das Jahr 1834, in dem das SpeenhamlandGesetz aufgehoben und überall im Lande wieder Arbeitshäuser errichtet wurden, deren unvorstellbar radikalen Verfahrensweisen bei der Prüfung der Arbeitswilligkeit der Unterstützungsempfänger erstmals nacktem und brutalem Terror gleichkamen; Industriekapitalismus begann mit der Zurichtung des Menschen zum dressierten Arbeitsaffen. Wer Hunger, Krankheit, Tod oder deren "Alternative", dem Arbeitshaus, entfliehen wollte, mußte jeglichen Rest althergebrachter sozialer Identität abwerfen und zum begeisterten Befürworter seiner Vernutzung als sozialer Kaspar Hauser werden. Es enthüllt sich das Geheimnis der geradezu religiös anmutenden proletarischen Arbeitsideologie so als das Ergebnis eines äußerst gewalttätigen Aktes (Pawlowscher) Konditionierung in den Arbeitshäusern. (Die Pawlowsche Konditionierung nutzt die bei allen Säugetieren - so auch beim Menschen - vorfindlichen neurologischen Gegebenheiten des Körpers und seiner funktionalen Reiz-ReaktionsSchemata, um "Denken" oder Verhalten zu steuern, um also zu dressieren; am effektivsten der Einsatz von Schmerz und negativen Reizen.) Karl Polanyi faßt zusammen: "Wenn im Rahmen des Speenhamland-Systems für die Menschen auf eine Art und Weise gesorgt wurde, die man Tieren nicht zumuten möchte, so wurde nun erwartet, daß sie für sich selbst sorgen sollten, wobei alle Chancen gegen sie waren." An anderer Stelle: "Viele der Ärmsten wurden mit der Abschaffung der öffentlichen Unterstützung tatsächlich sich selbst überlassen, und unter jenen, die am bittersten zu leiden hatten, waren die "ehrbaren Armen", die zu stolz waren, ins Arbeitshaus zu gehen, das als Ort der Schande empfunden wurde. In der modernen Geschichte hat es wohl kaum einen grausameren Akt der Gesellschaftsreform gegeben. Er vernichtete zahllose Existenzen, obwohl er vorgab, nur ein Kriterium zum Erkennen echter Mittellosigkeit in Form des Arbeitshauses zu liefern. Die psychologische Folter wurde von milden Philantropen nüchtern befürwortet und reibungslos in die Praxis umgesetzt, um damit die Räder des Arbeitskräftemechanismus zu ölen." Und: "Zur Zeit der Aufhebung des Speenhamland-Gesetzes ähnelten die riesigen Massen der werktätigen Bevölkerung eher den Gespenstern eines Alptraums als menschlichen Wesen. Aber wenn die Werktätigen physisch entmenscht waren, dann waren die besitzenden Klassen moralisch verkommen." Letzteres - man denke an die Einfriedungen - in christlichen Gesellschaften durchgängige Erscheinung, am deutlichsten seit der Reformation. Der Herrschaft protestantisch nüchterner Ratio und "Vernunft" fehlte von Beginn an die soziokulturelle Einhegung, weswegen sie sich zum Wahn des Alles-machen-könnens-und-beherrschen-könnens steigern mußte. Objekt dieses Wahns war nun der Mensch selbst geworden, eine "Arbeitskraft", eine Ware. Daher der "Zufluchtsort, der bewußt zu einem Ort des Schreckens ausgestaltet wurde. Das Arbeitshaus wurde mit einem Stigma versehen; der Aufenthalt darin wurde zu einer psychologischen und moralischen Tortur entwickelt." Protestantismus as it can!

Der Ort, an dem die Liebe des Proletariats zur Arbeit begann, das Arbeitshaus, ist nicht mehr. Mit der Zeit wird Dressur Neurose, welche sich mit noch mehr Zeit auflösen könnte. So muß die Dressur von Zeit zu Zeit erneuert werden: in Kriegen, Krisenzeiten und Zusammenbrüchen - so auch augenblicklich wieder mit blick auf Hartz IV. Was Polanyi 1944 über die Periode nach 1834 zu Papier gebracht hat, muß uns im Jahre 2005 seltsam bekannt vorkommen: "Das neue Armenrechtsgesetz (1834) bedeutete die Abschaffung der allgemeinen Kategorie der "Armen", der "ehrbaren Armen" oder "arbeitenden Armen" - Begriffe, über die schon Burke hergezogen war. Die vormaligen "Armen" wurden nun eingeteilt in die physisch hilflosen Pauper, deren Platz das Arbeitshaus war, und in unabhängige Arbeitskräfte, die ihren Unterhalt durch Lohnarbeit verdienten.

Dies schuf jedoch eine völlig neue Kategorie von Armen, nämlich die Arbeitslosen, die damit die gesellschaftliche Bühne betraten. Während der Pauper aus humanitären Gründen Unterstützung erhalten mußte, sollten die Arbeitslosen im Interesse der Industrie keine Unterstützung erhalten. Daß der Arbeitslose an seinem Schicksal keine Schuld trug, spielte dabei keine Rolle. Es ging nicht darum, ob er Arbeit hätte finden können oder nicht, wenn er es wirklich versucht hätte, sondern darum, daß, wenn er nicht vom Verhungern bedroht war und nur das verhaßte Arbeitshaus als Alternative vor sich sah, das Lohnsystem zusammenbrechen und damit die Gesellschaft in Elend und Chaos stürzen würde. Das bedeutete, daß die Bestrafung der Schuldlosen durchaus anerkannt wurde. Die grausame Perversion bestand ja gerade darin, daß die Arbeiter zugegebenermaßen zu dem Zweck emanzipiert wurden, damit die Drohung mit dem Hunger wirksam werden könnte. ((...)) Um hinter den Überzähligen, die im Rahmen des Arbeitsmarkts eingesperrt waren, die Türen abzuriegeln, wurde der Regierung eine selbstverleugnende Order auferlegt, die in der Praxis bedeutete, daß - nach den Worten von Harriet Martineau - die Unterstützung für die unschuldigen Opfer von seiten des Staates einer "Verletzung der Rechte des Volkes" gleichkäme." Diese Sicht von Frau Martineau hat sich mittlerweile fest in den common sense sozialdemokratischer Parteien und Gewerkschaften eingegraben. Proletariat hat gelernt, sich den Finger selbst reinzuschieben; auch Polanyi berichtet von einer "fügsamen Generation" nach den Hungerjahren von 1840-46 in England. In Deutschland gab es diese Jahre von 1945-48. Bei Lichte betrachtet, hat sich gar ein ganzer Berufsstand fürs Fingerreinschieben herausgebildet, die "AgentInnen"; sogar eine ganze "Industrie" hat sich ums Fingerreinschieben gebildet, die so genannte und milliardenschwere "Arbeitslosenindustrie" unter Federführung sozialdemokratischer Gewerkschaften!

Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen 1834 und 2005, der den Aberwitz von Hartz IV beleuchtet: Stand Kapitalismus damals am Anfang und konnte berechtigte Hoffnungen auf ein besseres Danach nähren, steht er heute am Ende. Ein kapitalistisches Danach wird es nach Hartz IV nicht mehr geben; Armut, Elend, Tuberkulose (jeder dritte Mensch auf dem Planeten ist infiziert!), Epidemien, Kriege und Umweltzerstörung verwüsten den Erdkreis. Zur Zeit der Geburt des Industriekapitalismus war da noch ein weitgehend intakter Planet, "intakte" Menschen bildeten eine reichliche Ressource für kapitalistische Ausbeutung und Vernutzung. Selbst und sogar 1944, als Karl Polanyi schrieb, war das noch so. Am Ende seines Buches entwickelt er einen uns heute krude erscheinen müssenden Ausblick auf eine zivilisiertere kapitalistische Zukunft; offenbar hat er die kulturelle Verheerung durch die Dressur zum Arbeitsaffen übersehen: Wie sollten Verblödete etwas Schlaues anfangen können? Die "moralische Verkommenheit" der Herrschenden, die er mit Blick auf das Datum 1834 beklagt, hat schon lange die (sozialdemokratischen) Beherrschten erfaßt (und nicht nur die sozialdemokratischen)! Schon Nietzsche wußte, daß Blödheit und Herrschaft in fester Ehe leben.

Die Gültigkeit der Marxschen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Gesetzmäßigkeiten zieht Polanyi denn auch in Zweifel, ohne sich der Mühe zu unterziehen zu begründen. Polanyi setzt alles auf eine Karte, auf die sozial integrativen Gegenkräfte zum "Es werde Markt!". Diese könnten die verheerenden Wirkungen der kapitalistischen Produktionsweise genügend abschwächen. Als Beweis soll ihm das Beispiel Österreichs nach dem I. Weltkrieg dienen (in seinem Anhang unter "Speenhamland und Wien"). Daß gewisse Dinge unter gewissen Umständen - hohe Arbeitslosenunterstützung und starke Gewerkschaften - eine gewisse zeit lang funktionieren können, ist aber doch wohl leider nur die Ausnahme, welche die Regel des Nichtfunktionierens bestätigt. Kapitalismus lebt immer auf Kosten von irgendwas, was früher oder später als Boomerang zurückkommen muß; auf Boom folgt Boomerang.

In der Person Karl Polanyis finden beeindruckender Kenntnisreichtum und stupende Hellsichtigkeit auf der einen und verbissene Illusionsbildung auf der anderen Seite zusammen. Um so interessanter, wenn dies als Lehrstück für Sozialdemokratie gelesen wird -, als Ideogramm von Peter Glotz z.B.! Oder vielleicht als Lehrstück dazu, daß Dressur auch bei den Schlaueren bis ganz Schlauen ihre Spur hinterläßt, nämlich als offensichtlich echte und tief empfundene protestantisch-sekulare Religiösität. Genau so muß es bereits in Jeremy Bentham ausgesehen haben, den Polanyi vielfach beachtet: tiefes inneres Selbstzerwürfnis, Selbsthaß - die typisch protestantische Projektion auf dem Gebiet des Geistes und der Wissenschaft. Da ein schwacher Punkt: Den Utilitaristen Bentham, dessen Durchgeknalltheit ihm durchaus nicht entgeht, lobt er an anderer Stelle über den Klee. Noch größeres Lob findet Robert Owen, Urvater von Tauschringen/-börsen und der Kooperativenwirtschaft. Über Bentham: "Im Gegenteil berachtete der utilitaristische Liberale die Regierung als das wichtigste Agens zur Erreichung von Glück. In bezug auf die materielle Wohlfahrt, meinte Bentham, sei der Einfluß der Gesetzgebung "ein Nichts" im Vergleich mit dem unabsichtlichen Beitrag des "Polizeiministers". (...) Benthams Liberalismus bedeutete die Ersetzung der Tätigkeit des Parlaments durch die Tätigkeit von Verwaltungsorganen." Auch den hoch gelobten Owen watscht er an anderer Stelle ab: "Der Owenismus war eine Religion der Arbeit, deren Träger die Arbeiterklasse war." Und auch sonst klingt es zwischen den Zeilen in bezug auf Owen wie der Bericht von dem Psychopathen, dessen einzig vorstellbare Karriere ist, zum Psychiater zu werden, um dann auch seine Mitmenschen zur eigenen Pathologie hin bekehren zu können; was im übrigen dann auch für die Owenistische "Arbeiterklasse" gelten muß. Polanyi sieht Owens Modellkooperative, New Lanark, an der Bentham maßgeblich geschäftlich beteiligt war, nüchtern: niedrige Löhne und hohe Arbeitsproduktivität durch geschicktes sozialpsychologisches Management; New Lanark war profitabel! Ein nach Schwefel riechender Pakt, den Polanyi zum Zwecke der Rettung seiner Illusion mit diesen beiden Schlaumeiern einzugehen gewillt zu sein scheint. Dabei weiß er, mit wem er es da zu tun hat; ganz im Geiste des Michel Foucault (siehe: Überwachen und Strafen) verweist er auf die panoptischen Parallelitäten von Benthams Industriehäusern - die er an anderer Stelle als "reinen Alptraum" bezeichnet - und Owens "Parallelogrammen" (architektonisches Strukturprinzip von Owens Kooperativen).

Owens verworrenen Antichristianismus behandelt er verständnislos verständnisvoll, ja mit Recht wird er sich gewundert haben, alle diese doch so verschieden scheinenden Herren am Ende in der selben Hölle anzutreffen! Denn tatsächlich hat diese Hölle einen christlichen Ursprung, was erst verstanden werden kann, wenn ihr eigentliches Wesen verstanden wird: die Hölle der Zurichtung! Die Geschichtsforschung nach Polanyis Lebzeiten erbrachte etwa folgenden Befund: Der französische Abt Bernhard von Clairvaux und "seine" beiden Orden, die Zisterzienser nebst deren von Bernhard tuteliertem militärischen Arm, den Tempelrittern, experimentierten als erste mit den Zutaten des kapitalistischen Rezepts bzw. entwickelten sie diese Zutaten erst: Disziplinierende Zurichtung des Menschen zum dressierten Arbeitsaffen, betriebliche Buchführung, Fernhandel und ein internationales Bank- und Kreditwesen wurden inniglich verflochten und sollten einem Machtzuwachs durch Entkörperlichung und Vergeistigung dienen; mit anderen Worten, hatte sich diese Truppe als erste das leere psychotische "MEHR" des Kapitalismus auf die Fahnen geschrieben. Die Bewohner dieser Hölle machten ihr Patientenkollektiv kulturbeherrschend. Wird das verstanden, löst sich das Rätsel der Verschiedenartigkeit der einzelnen kleinen Teufel schnell. Ihr einziges gemeinsames invariantes Merkmal ist, daß sie die Zurichtung in den Rang einer religiösen Handlung, von "Sitte" und "Pflicht" heben wollen; darin sind sie sich alle gleich.

All diese Kritik jedoch kann Polanyis "The Great Transformation" nur noch lesenswerter machen. Mit Blick auf Hartz IV und das Jahr 2005 gibt es wahrscheinlich kein besseres "altes" Buch! Daher soll zum Ende der Vorstellung Karl Polanyi selbst zu Wort kommen:

Der Wirtschaftsliberalismus war in dem Irrtum befangen, daß seine Praktiken und Methoden die natürliche Konsequenz eines allgemeinen Gesetzes des Fortschritts seien. Um sie diesem Muster anzupassen, wurden die dem selbstregulierenden Markt zugrundeliegenden Prinzipien auf die gesamte Geschichte der menschlichen Zivilisation rückprojiziert. Infolgedessen wurden das wahre Wesen und die Ursprünge des Handels, der Märkte, des städtischen Lebens und der Nationalstaaten fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.

Und an anderer Stelle:

Indessen sind Arbeit, Boden und Geld ganz offensichtlich keine Waren...

05.03.2005 Werner Braeuner

P.S.: Das Copyright an diesem Text wurde vom Autor bedingungslos freigegeben. Ein jeder kann diesen Text für jeden beliebigen Zweck frei verwenden.


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