Neue Arbeit für Mühlheim

Institut für Neue Arbeit

Wege aus der Krise der Arbeit

... und anderswo

 

 

Kein Königsweg zur "Neuen Arbeit"
Michael Wiedemeyer/Thomas Gesterkamp:

  Seit Mitte der neunziger Jahre ist der amerikanische Sozialphilosoph Frithjof Bergmann Dauergast auf Tagungen zur Krise der Arbeitsgesellschaft. Rhetorisch gut verpackt, stellt er sein Konzept der Neuen Arbeit - "New Work" - vor.

Hinter dem zugkräftigen, weil positiv besetzten Begriff verbirgt sich bei näherer Betrachtung eher Wunsch als Wirklichkeit. Dieses Problem teilt Bergmann mit anderen Zukunftspropheten wie Jeremy Rifkin ("Dritter Sektor"), Ulrich Beck ("Bürgerarbeit") oder den Club of Rome-Autoren Orio Giarini und Patrick Liedtke ("Drei-Schichten-Modell"). Daß sich die traditionelle Arbeitsgesellschaft überholt hat, darüber sind sich die Wissenschaftler einig. Doch wie Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit organisiert und finanziert werden sollen, bleibt meist unklar.

Bergmann verweist bei seinen Vorträgen nicht nur auf das amerikanische Beispiel, sondern immer wieder auch auf konkrete Projekte in Deutschland, die das Konzept von New Work angeblich bereits praktizieren. Ist die Neue Arbeit mehr als nur eine Theorie, die in Zeiten allgemeiner Ratlosigkeit die Sehnsucht nach positiven Visionen befriedigt? Thomas Gesterkamp und Michael Wiedemeyer haben nachgeforscht.

Thomas Gesterkamp ist Journalist und spezialisiert auf Themen aus der Arbeitswelt. Michael Wiedemeyer ist Arbeitsmarktforscher und Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Köln.

Die Geburtsstunde von New Work schlug Anfang der achtziger Jahre im "amerikanischen Wolfsburg". In Flint bei Detroit im Staat Michigan gründete Frithjof Bergmann 1984 das erste "Center for New Work". Auslöser war eine Automatisierungswelle in den Werken von General Motors. Das GM-Management drohte bei einer bereits bestehenden Arbeitslosenquote von gut 30 Prozent in der monostrukturierten Region mit weiteren Massenentlassungen. Auf Bergmanns Vorschlag hin einigten sich Management und Gewerkschaft in einem Fertigungswerk auf ein ungewöhnliches Arbeitszeitverkürzungsmodell: Statt - wie ursprünglich geplant - die Hälfte der Arbeitskräfte zu entlassen, wurde die Arbeitszeit der Belegschaft in sechs Monate Erwerbsarbeit und sechs Monate "arbeitsfreie" Zeit halbiert. Die Arbeitszeitverkürzung erfolgte im wesentlichen ohne Lohnausgleich; auf Grundlage der halbjährigen Erwerbstätigkeit wurde ein über 12 Monate gestrecktes Grundeinkommen ausgezahlt.

Die drastische Reduzierung der Erwerbsarbeitszeit wurde nicht als defensive Reaktion verstanden, sondern im Gegenteil als eine fortschrittliche Strategie hin zu einer "völlig neuen, umfassenderen und aus Sicht der einzelnen selbstbestimmteren und sinnstiftenderen Konstruktion von Arbeit". Innerhalb des Konzepts von New Work richtete sich das Hauptaugenmerk auf die "freien" sechs Monate. Diese "gewonnene" Zeit sollten die Menschen eben nicht vor dem Videogerät verbringen, sondern orientiert an eigenen Vorstellungen und Wünschen für "neue, über die Erwerbsarbeit hinausführende Arbeit" nutzen - etwa für Bildung, den Start einer neuen beruflichen Tätigkeit, für neue Formen selbstbestimmter Eigen- und Gemeinschaftsarbeit oder Familienarbeit. Die Aufgabe des Zentrums für Neue Arbeit bestand wesentlich darin, den Menschen dazu Beratung und Hilfestellung anzubieten. Nach Angaben der Organisatoren waren an dieser ersten spektakulären Aktivität in Detroit zeitweise bis zu 5.000 Menschen beteiligt. Das Projekt wurde allerdings bereits 1986 eingestellt.

"Jobarbeit" als notwendiges Übel

Bergmann entwickelte in den folgenden Jahren die Idee der Neuen Arbeit vor allem in theoretischer Hinsicht weiter. Die Lösung der Arbeitsmarktprobleme sieht er in der Erschließung neuer Tätigkeitsfelder jenseits der Erwerbsarbeit. Die "Jobarbeit" begreift er als notwendiges Übel, die der Sicherung der Existenzgrundlage dienen kann, aber langfristig nur noch ein Drittel der Tätigkeit ausmacht. Gleichberechtigt treten zwei neue Formen von Arbeit hinzu:

(1) Die bezahlten Callings sollen Menschen ermöglichen, das zu tun, was sie immer schon "wirklich und leidenschaftlich gerne machen wollten"; sie sollen ihre persönlichen Neigungen, Fähigkeiten, ihre Interessen und ihre Neugier erkennen und entwickeln dürfen. Gemeint sind (Weiter-)Bildungsaktivitäten ebenso wie kulturelle Tätigkeiten oder Gemeinwesenarbeit. Dafür strebt Bergmann eine adäquate Bezahlung an, entweder aus am Markt erwirtschafteten Einkommen oder alternativ über eine gesellschaftlich zu regelnde Finanzierung (Steuermittel, Stiftungsvermögen).

(2) High-Tech Self-Providing bedeutet frei übersetzt: die Selbstversorgung auf hohem technischen Niveau. Zielsetzung ist es, den Selbstversorgungsanteil der Menschen durch den Einsatz moderner Technologie erheblich zu steigern. Dadurch ließen sich Konsumausgaben einsparen, ökologisch verträglich produzieren und insgesamt der Anteil selbstbestimmter Versorgungstätigkeiten erhöhen.

Grundprinzipien der "NEUEN ARBEIT"

(1) Die Wegautomatisierung von Lohnarbeitsplätzen wird sich fortsetzen und besonders im Dienstleistungssektor weiter beschleunigen.

(2) Zur Gestaltung dieses Prozesses sollten nicht Leute entlassen, sondern Stunden in der Lohnarbeit gekürzt werden.

(3) Im Austausch für die gekürzten Lohnarbeitsstunden soll "Neue Arbeit", die besser ist als die alte "Job-Arbeit", geschaffen werden.

(4) Ein erster Teil dieser Neuen Arbeit sind die "Bezahlten Callings" (finanziert aus neuem Erwerbseinkommen oder aus Stiftungskapital).

(5) Ein zweiter Teil der Neuen Arbeit ist das "High-Tech Self-Providing" (technologisch anspruchsvolle Selbstversorgungstätigkeiten).

(6) Diese zwei Grundarten Neuer Arbeit werden aufgebaut in demselben Maße, in dem die Lohnarbeit abgebaut wird. Sie füllen den leeren Raum, der sonst durch das Schrumpfen der Lohnarbeit entstehen würde.

zusammengestellt aus verschiedenen Quellen und Vorträgen zu New Work

Selbstbestimmte Arbeit

Die Suche nach zukunftsweisenden Visionen wird in Deutschland derzeit besonders intensiv betrieben. Eine Ursache ist zweifellos der Anstieg der Massenarbeitslosigkeit. Irritierender noch drängt sich die beschleunigte Zersplitterung des Arbeitsmarktes in das Bewußtsein vieler Menschen. Die Unsicherheit bei vielen Beschäftigtengruppen wächst angesichts von Zukunftsszenarien, in denen nur noch für rund 20 Prozent Hochproduktive eine dauerhafte Vollzeitbeschäftigung garantiert erscheint. Bedrohlich wirkt der schleichende Abschied des rheinischen Kapitalismus-Modells, das über einige Jahrzehnte gerade auch für sozialen Einkommens- und Chancenausgleich gesorgt hat. Das erklärt die Sehnsucht nach einem humaneren, gerechteren Entwurf der künftigen Erwerbsgesellschaft.

Ein Vergleich des Konzepts der Neuen Arbeit mit anderen Zukunftsansätzen offenbart zwei Stärken: Frithjof Bergmann stellt den Sinn von Arbeit für die menschliche Existenz in den Vordergrund. Dabei interpretiert er das Schwinden der industriegesellschaftlichen Erwerbsarbeit als Chance, selbstbestimmte Arbeit in ihrer befreienden und erfüllenden Funktion (zurück)zugewinnen. Die Einlösung dieses Humanisierungsversprechens ist darüber hinaus eng verknüpft mit der Forderung nach Aufhebung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit im Arbeitsmarkt. Die notwendige Teilung der Jobarbeit, also die Kürzung der Arbeitszeit, soll bei jedem einzelnen Erwerbstätigen ansetzen und nicht zu Lasten großer Verlierergruppen organisiert werden. Damit unterscheidet sich Bergmann von Autoren, die einen sogenannten "Dritten Sektor" gemeinnütziger, aber geringfügig entlohnter Arbeit propagieren.

Die deutsche Praxis

New Work ist ein ungeschützter Begriff. Jede Beschäftigungsinitiative, jedes Unternehmen, jede Institution kann von sich behaupten, sie praktiziere die Neue Arbeit. Entsprechend inflationär taucht das Wort in Verlautbarungen und öffentlichen Debatten auf. Häufig sind ganz verschiedene Konzepte gemeint, die lediglich gemeinsam haben, daß sie in der ein oder anderen Form Beschäftigungsprobleme lösen wollen. Frithjof Bergmann selbst verstärkt diese Konfusion: Nachfragen nach praktischen Ansätzen in Deutschland beantwortet er häufig ausweichend oder begnügt sich mit drei, vier hingeworfenen Städte- oder Firmennamen.

Erste Station Mühlhausen. Die Stadt in Thüringen ist ein von Bergmann häufig zitiertes Beispiel. Doch die "Mühlhauser Initiative", ein eingetragener Verein, der eine "Kooperation mit New Work-Modellen in Michigan/USA" aufbauen wollte, wurde im letzten Jahr aufgelöst. Die Gruppe, die unter anderem didaktische Konzepte zur Berufsvorbereitung für Schüler und Schulabgänger entwickelt hat, war 1992 hoffnungsvoll gestartet. Relativ schnell kam ein Jugendaustausch mit dem US-Bundesstaat Michigan zustande. "Wir hatten durchaus Erfolge", erinnert sich der ehemalige Geschäftsführer Günter Thoma. Letztlich sei das Projekt an "finanziellen Problemen" gescheitert. Thoma baut mittlerweile beim Bochumer Mineralölkonzern Aral eine Stiftung auf, die arbeitslosen Jugendlichen beim Einstieg in den Beruf helfen soll. "Wenn Sie mit dieser Zielgruppe arbeiten, wird es immer wieder bröckeln", so erklärt er sich den Mißerfolg in Mühlhausen. Wer New Work-Konzepte umsetzen wolle, brauche einen langen Atem: "Wenn man das alles krönende Projekt in diesem Bereich sucht, wird man grenzenlos enttäuscht."

"Meine Ungeduld ist riesig", gibt Babette Scurell zu, die in der Stiftung Bauhaus Dessau für Neue Arbeit zuständig ist. Das Bauhaus hat sich den Prinzipien nachhaltiger Regionalentwicklung und ökonomischer Selbsthilfe verschrieben. Auf die eher dürftigen praktischen Erfahrungen im Bereich New Work angesprochen, bemüht sie das Bild vom "halb leeren oder halb vollen Glas Wasser". Die Dessauer Koordinatorin will vorhandene Ansätze in der Region verknüpfen. Scurell verweist auf das "Kreativ-Zentrum Wolfen" sowie den "Initiativkreis Expo 2000" für Sachsen-Anhalt. Daß Bergmanns Ideen in den neuen Ländern besonderen Anklang finden, führt sie nicht nur auf die hohe Arbeitslosigkeit zurück. Die Mentalität der Ostdeutschen passe zum Konzept: "Nachbarschaftshilfe, informeller Sektor und Elemente von Subsistenzwirtschaft hatten schon in der DDR einen hohen Stellenwert."

"Den Königsweg zur Neuen Arbeit gibt es nicht", betont auch Scurell. Langfristig sei bedeutsam, ob die Thesen Bergmanns in den Betrieben umgesetzt würden. "Das traditionelle gewerkschaftliche Denken kreist um die Beschäftigten und nicht um die Arbeitslosen." New Work-Ansätze in den Unternehmen könnten einen Machtgewinn für die Interessenvertreter bedeuten: "Die Betriebsräte müßten das mit der Geschäftsleitung aushandeln, nicht die Gewerkschaft."

Enthusiasmus und Ernüchterung

Bislang sind solche Überlegungen weitgehend theoretischer Natur. Denn ganz wenige Firmenchefs experimentieren mit der Neuen Arbeit. Ein von Bergmann und anderen angeführter Musterbetrieb ist das thüringische Elektronikunternehmen ISATECH, in dem allerdings nur zehn Leute tätig sind. "Die Kernidee unseres Projektes ist die Beschäftigung einer größeren Zahl von Mitarbeitern durch grundlegende Umgestaltung der Arbeitsorganisation", erläutert Diplom-Ingenieur und Geschäftsführer Reinhard Boltin. Er spricht von "zwei sich ergänzenden Arbeitsformen innerhalb ein und derselben Unternehmensstruktur". Worin die Neue Arbeit bei ISATECH in der Praxis besteht, ist einem immerhin elf Seiten starken "Ergebnisbericht" allerdings nicht zu entnehmen.

"Bergmann hat bei uns drei Vorträge gehalten, doch über das Erzählen ist er nicht hinausgekommen", kritisiert Sieghard Bender ernüchtert. Der erste Bevollmächtigte der IG Metall-Verwaltungsstelle Chemnitz ärgert sich, daß der US-Wissenschaftler "wie ein Guru" herumgereicht werde: "Wir machen das jetzt selber." Die "Neue Arbeit Chemnitz" berät zum Beispiel arbeitslose Ingenieure, die sich selbständig machen wollen. Ein hilfreiches Angebot, doch mit dem umfassenden Ansatz Bergmanns hat das nur am Rande zu tun. "Die sozialphilosophische Theorie ist brauchbar, die Anwendung noch äußerst vage", wirbt Leo Jansen, Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Hauses in Herzogenrath bei Aachen, für eine realistische Einschätzung.

Die Münchner Schweißfurth-Stiftung finanziert Bergmann zur Zeit einen längeren Deutschland-Aufenthalt. Ähnlich wie das "Zentrum für Neue Arbeit" in Frankfurt versteht sich die Stiftung als Informationspool. Die konkrete Umsetzung, so ist zu erfahren, finde "vor Ort" statt. Allerlei Beschäftigungsinitiativen und alternativökonomische Projekte schmücken sich mit dem modischen Label New Work. In München erprobt das "Haus der Eigenarbeit" die Subsistenzwirtschaft, die "Sozialistische Selbsthilfe" in Köln-Mülheim hat ein "Institut für Theorie und Praxis der Neuen Arbeit" gegründet, auch der Verein "EigenArt" im thüringischen Ammern beruft sich auf Bergmanns Konzept. Der US-Professor reist derweil durch die Republik und verbreitet Enthusiasmus. Doch der Beweis, daß New Work mehr ist als eine schöne Theorie, steht noch aus.

Träges Fahrwasser

Warum passiert in der Praxis so wenig? Zum einen, weil sich die Unternehmen kaum für die Neue Arbeit interessieren. Aber auch unter Gewerkschaftern und Betriebsräten wächst die Offenheit für neue Konzepte häufig erst dann, wenn Entlassungen unmittelbar bevorstehen und strategische Spielräume bereits verloren sind. Zum anderen landen die guten Ideen allzu schnell im trägen Fahrwasser althergebrachter deutscher Arbeitsmarktpolitik. Deren Instrumente sind auf kurzfristige Effekte ausgelegt und werden damit den Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt nicht gerecht. "Unsere Klientel braucht ganz viel Zeit und langfristige Unterstützung", betont Uwe Gluntz, Geschäftsführer der Atlantis gGmbH für Umwelttechnik und Berufsperspektiven in Berlin. "Das Gold in den Köpfen, von dem Herr Bergmann spricht, ist ungeheuer stark verschüttet", wirbt Gluntz für eine realistische Einschätzung

Ein weiterer Grund für die fehlende Akzeptanz der Neuen Arbeit ist der Widerstand der "Beschäftigtenaristokratie". Gemeint sind Mitarbeiter,die zwar gelegentlich unter ihrem besonders zeitaufwendigen Job leiden, aber dennoch glauben, sich in ihrem Beruf selbstverwirklichen zu können. Sie realisieren ihr "Calling" sozusagen bereits im Rahmen der bestehenden Strukturen. Nicht selten findet sich gerade bei Angehörigen dieser Gruppe ein theoretisches Interesse für alternative Zukunftsentwürfe. Gleichwohl ist die Motivation gering, sich zur Avantgarde einer weniger belastenden "Neuen Arbeit" zu machen.

Daß "New Work" noch nirgendwo richtig funktioniert, kann man dem theoretischen Vordenker Frithjof Bergmann nicht vorwerfen - wenn er sich denn, wie seine Kollegen Beck oder Rifkin, auf diese Rolle beschränken würde. Doch ein Teil seiner Anziehungskraft besteht gerade darin, daß er ein angeblich erprobtes Konzept vorstellt und damit das tiefe Bedürfnis nach konkreten Schritten zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit befriedigt. Als praktisch orientierter Zukunftsentwurf bleibt New Work ein uneingelöstes Versprechen.

"Ein einzelnes Projekt wird nicht die Welt verbessern"
Zum Interview mit Frithjof Bergmann

("Frankfurter Rundschau" vom 21.10.98)

e-Mail-Kontakt

Home-Page