"Erziehung"

Wenn Erziehung tatsächlich ein "Angleichungsprozeß an den Personentypus einer Gruppe bzw. an ein Gemeinschaftsideal" (Hoffmeister 1955: 217) zu verstehen ist, sollte im Sinne einer emanzipativen Vorstellung ganz darauf verzichtet werden. Allerdings steht weiterhin vor jedem menschlichen Wesen das Problem, sich den Reichtum der menschlichen Möglichkeiten zu erschließen und sich dabei zu entfalten. Dieser Entwicklungsweg steht immer im Kontext des Verhaltens der ihn umgebenden Menschen und der gesellschaftlichen Vermittlungen.

Ontogenese als individuelle Vergesellschaftung *
Individuelle Vergesellschaftung statt Sozialisation *
Das Durchbrechen der Unmittelbarkeit *
Die Abneigung von Erwachsenen gegen Jugendliche *
Erziehung *
"Erziehung" allgemein *
"Erziehungsförmigkeit" in entfremdenden gesellschaftlichen Verhältnissen *
Erziehung zum Fortschritt? *
"Am Anfang war Erziehung" *
Was passiert mit dem "Selbst"? *
Alternativen zur "Erziehungsförmigkeit" *
Literatur *

Ontogenese als individuelle Vergesellschaftung
Individuelle Vergesellschaftung statt "Sozialisation"

Ein Kind ist von Beginn an ein gesellschaftliches Wesen – es wird nicht als nur biologischer Organismus geboren, dem dann die Gesellschaftlichkeit nach und nach erst anerzogen werden müsste (vgl. Schlemm 2001).

siehe dazu http://www.thur.de/philo/kp/naturmensch.htm

Das Menschsein ist dadurch bestimmt, dass menschliche Individuen aufgrund der Vermitteltheit ihrer Existenz in gesellschaftlichen Zusammenhängen eine spezifische Möglichkeitsbeziehung gegenüber der Welt haben, d.h., dass sie sich bewusst gegenüber ihren Lebensbedingungen verhalten können, dass jeweils individuelle Handlungsgründe "subjektiv funktionales" Handeln innerhalb der ihnen vorliegenden Prämissen bestimmen (vgl. Schlemm 2004).

siehe dazu http://www.thur.de/philo/kp/menschsein.htm

Die Handlungsfähigkeit, d.h. die Möglichkeit des Menschen, über die Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess seine eigene Existenz zu reproduzieren (Holzkamp 1985: 241), muss sich in der Ontogenese (Individualentwicklung) erst herausbilden. Das Ziel der Individualentwicklung ist die Entwicklung von Handlungsfähigkeit – es ist nie vollständig erfüllt, weil auch die gesellschaftliche Entwicklung nie abgeschlossen ist.

Trotzdem gibt es Unterschiede zwischen der Individualentwicklung von Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen. Bei Kindern und Jugendlichen geht es darum, überhaupt erst einmal vomzuerst begrenzt erfahrbaren Lebensbereich zur gesamtgesellschaftlichen Vermittlung voranzuschreiten und den jeweils konkret-historisch bestimmten Grad an möglicher Handlungsfähigkeit von Erwachsenen zu erreichen.

Die eben verwendeten Ausdrucksformen und Begriffe mögen verwirrend und vielleicht überflüssig erscheinen. Bekannter und gängiger ist der Begriff "Sozialisation". Er wird verstanden als Einordnen in die Gemeinschaften, als Verhaltensnormierung und Verhaltensanpassung (Benesch 1987: 469). Erziehung ist dann – wie wir zu Beginn erfuhren – ein Mittel dieser angestrebten Anpassung. Der "Sozialisations"-Begriff, der üblicherweise für die Hineinentwicklung des Individuums in die Gesellschaft verwendet wird, trägt erstens die Bedeutung in sich, dass der sozialisierte, bzw. der zu sozialisierende Mensch im Passiv, also als Objekt seiner Sozialisation genommen wird. Zweitens geht es auch dort, wo die Selbst-Sozialisation z.B. als "Verinnerlichung" thematisiert wird, nur darum, das Individuum an die Gesellschaft anzupassen. Die Verwendung dieses gängigen und bekannten Begriffs ist so alltäglich und gewohnt wie prinzipiell irreführend für emanzipative Konzepte.

Als Alternative schlägt die Kritische Psychologie den Begriff "individuelle Vergesellschaftung" (Holzkamp 1985: 175) vor und dieser bezeichnet das aktive individuelle Hineinwachsen in die Gesellschaft und die Nutzung ihrer Möglichkeiten durch Beteiligung an der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion des Lebens (Gruppe Gegenbilder 2000: 156). Die Bestimmung des Menschen zum Menschen kann nur eine Selbstbestimmung sein (vgl. Schmied-Kowarzik 1969: 29).

Das Durchbrechen der Unmittelbarkeit

Ein kleines Kind wird seine soziale und die gesellschaftliche Umwelt erst einmal als naturhaft gegeben erfahren. Die Gesellschaft gelangt in seinen Erfahrungsbereich zuerst über Gegenstände, die von anderen Menschen für andere Menschen gemacht worden sind. Ein Löffel ist von irgendwelchen Menschen gemacht worden zur Nutzung durch irgendwelche andere Menschen. Auf diese Weise kommt die Bedeutung der gesellschaftlichen Reproduktion in das Erfahrungsfeld des Kleinkindes (vgl. Holzkamp 1985: 423). Dadurch wird die unmittelbare Beziehung: >Kind – Gegenstand< aufgebrochen und eine weitere Dimension des Seins, die gesellschaftliche, wird für das Kind wahrnehmbar.

Dabei erfährt das Kind zuerst nur den kooperativen Anteil des Gesellschaftlichen (zum Unterschied zwischen Kooperation und Gesellschaft siehe Schlemm 2001, Punkt Ab)). Greifen, Manipulieren, Probieren und ähnliche Aktivitäten kennzeichnen die Aneignung der Welt durch das kleine Kind. Der erreichte Effekt des Tuns befriedigt das jeweilige Ausgangsbedürfnis unmittelbar. Die Aktivitäten haben noch nichts mit der Existenzsicherung des Kindes zu tun. Die Kinder gehen beobachtend und probierend nicht nur mit festen Gegenständen um, sondern auch mit ihrem sozialen Umfeld. Sie stellen fest, dass andere Individuen nicht nur den manipulierenden und probierenden Einflüssen des Kindes gehorchen, sondern eine gewisse Eigenständigkeit in ihrem Verhalten aufweisen. (In dieser Betrachtungsweise wird also nicht primär der bestimmende Einfluss des Anderen auf das Kind betrachtet, sondern dieser jeweils als Reaktion auf das Verhalten des Kindes diskutiert). Das Kind lernt es, in Wechselwirkung mit verschiedenen Verhaltensweisen flexibel zu agieren, es lernt unmittelbare soziale Regulation. Der erste Schritt in Richtung der Durchbrechung der Unmittelbarkeit ist dann das Begreifen der allgemeinen Bedeutung von Dingen, die von anderen für andere gemacht sind. Später, wenn sich der Erfahrungshorizont des Kindes über die Familie hinaus ausweitet, wenn es merkt, dass Erwachsene "auf Arbeit" gehen, dass in der Einkaufshalle "die ganze Gesellschaft" käuflich zur Verfügung steht, erweitert sich das Erfahrungspotential wiederum in Richtung Gesellschaftlichkeit. Die Handlungsfähigkeit der Kinder besteht dabei erst einmal nur innerhalb des Hinnehmens des jeweils Gegebenen; der Horizont der gesellschaftlichen Bedingungsveränderung (die verallgemeinerter Handlungsfähigkeit) ist dem Kind noch nicht zugänglich (vgl. Holzkamp 1985: 466). Kinder sind unmittelbar abhängig von der Unterstützung durch Erwachsene, die ihnen jederzeit entzogen werden kann (unter entfremdenden Bedingungen kann sich dies als äußerst gefährlich für die Entwicklung der Individualität erweisen, siehe Miller 1983). Nach Holzkamp kann das Kind seine Bedingungsverfügung/Lebensqualität nur dadurch erweitern, dass es >größer< wird, d.h. die Diskrepanzen zwischen dem Einfluss der Erwachsenen und dem eigenen reduziert wird (ebd.: 474; zu anderen, in entfremdeten Gesellschaftsformen wesentlich häufiger anzutreffenden Deformierungen und Behinderungen der Entwicklung siehe bei Miller 1983). Dies führt – wenn es gut geht – letztlich zur Unmittelbarkeitsüberschreitung.

Unter repressiven Bedingungen liegt es für das Kind auch nahe, den Bedrohungen nicht durch eine Erweiterung seiner Teilhabe an den kooperativen und später den gesellschaftlichen Prozessen zu begegnen, sondern sich mit den "herrschenden" Erwachsenen zu arrangieren (ebd.: 476). Es kommt zu wechselseitigen Instrumentalisierungsversuchen des Sich-voneinander-abhängig-Machens. Letztlich entwickeln sich jedoch in jeder Generation die Heranwachsenden zu Erwachsenen mit ihrer je spezifischen Handlungsfähigkeit (wie begrenzt auch immer). Deshalb muß es "trotz der damit angedeuteten Entwicklungsbehinderungen und -formierungen [...] im gegenwärtig diskutierten Zug der Ontogenese im Ganzen gesehen >durchschnittlich< zu einer Erweiterung der kooperativen Verfügungs- und Einflußmöglichkeiten samt der dazu erforderten Haltungen und Fähigkeiten des Kindes [...] kommen." (ebd.: 477).

Die Überwindung der Unmittelbarkeit ist dann in Aussicht, wenn verstanden wird, dass die Gründe für die Überlegenheit bzw. Machtausübung der Erwachsenen außerhalb der häuslichen Lebensgemeinschaft liegen, dass sie mit der gesellschaftlichen Welt zu tun haben. Diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verweisen die Heranwachsenden auf die prinzipielle Möglichkeit, später auch ohne ein "Dazwischenschalten" der Erwachsenen die gesellschaftlichen Verfügungs- und Befriedigungsmöglichkeiten für sich nutzen zu können (ebd.: 486). Die gesellschaftliche Umwelt in ihrer Vermitteltheit ist in sich problematisch, sie bietet – wie beschränkt auch immer – verschiedene Handlungsmöglichkeiten (bedingt durch die gegebenen Prämissen), denen gegenüber sich die/der Heranwachsende bewusst verhält. Die Prämissen und die Bedingtheit können nicht hinwegphantasiert werden: "Der Mensch vermag sich zwar in seinem Handeln selbst zu bestimmen, denn darin besteht sein Menschsein, aber er steht in seinem Handeln in einer in Existenz und Sinn vorgegebenen Welt und Geschichte. Er ist Mensch durch sich selbst, d.h. durch sein selbstbestimmtes Handeln, aber er ist mit der Möglichkeit und Not seiner selbstbestimmenden Freiheit nicht durch sich selbst in Welt und Geschichte hineingestellt." (Schmied-Kowarzik 1969: 41).

Aus diesen Wechselwirkungen heraus entsteht das "Ich"-Bewusstsein, als Ergebnis der je individuell getroffenen (vergangenen, gegenwärtigen und der antizipierten Möglichkeiten für zukünftige) Entscheidungen und der entwickelten Handlungsgründe gegenüber den Prämissen. Auch hier haben wir wieder die beiden (idealtypischen) Alternativen: der Einschränkung des eigenen Tuns innerhalb des gegebenen Rahmens und des Versuchs der Überwindung der Beschränkungen, die beide für das Individuum jeweils subjektiv funktional (also nicht von außen zu bewerten bzw. zu beurteilen) sind.

Viele Faktoren in der entfremdeten bürgerlich-kapitalistischen Welt legen ein Verbleiben in restriktiven Formen der Handlungsfähigkeit nahe. Gesellschaftliche Vermitteltheit wird oft nicht begriffen, sondern weiterhin als "naturhaft gegeben" erfahren. Dies führt zu Personifizierungen von Abhängigkeiten (Holzkamp 1985: 493). Auch die verschiedenen Erziehungsinstitutionen verstärken durch ihre Methoden derartige Mystifikationen und verbauen den Weg zum Durchschauen der gesellschaftlichen Vermitteltheit der Abhängigkeiten. Die Entwicklung der "zweiten Möglichkeit" erfordert demgegenüber zusätzliche Anstrengungen, das Aufbauen eigener Bündnisse und zusätzlich auch die notfalls nach-entwickelnde Arbeit am eigenen Selbst (siehe den Abschnitt: "Was passiert mit dem "Selbst"?").

Die Abneigung von Erwachsenen gegen Jugendliche

Wie oben schon erwähnt, können sich Menschen ihr ganzes Leben lang weiter entwickeln und auch lernen. Das bekannte Sprichwort "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" verweist aber auf einen weit verbreiteten Mythos. Dieser Mythos nimmt an, dass der Mensch nach seiner Jugendphase quasi "fertig" ausentwickelt, d.h. ausreichend angepasst ist. Das Erwachsensein ist demnach direkt davon gekennzeichnet, dass man sich "die Rosinen aus dem Kopf geschlagen" hat, dass man sich mit dem beschränkt-Möglichen abgefunden hat, "realistisch" geworden ist. Angesichts der eigentlich vorliegenden lebenslangen Entwicklungsfähigkeit ist die Erwachsenenphase dann eine "Behinderung menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten" (Holzkamp 1980: 113). Erwachsene, die diesen Mythos für sich anerkennen, sind damit nicht unbedingt glücklich. Die heranwachsenden Jugendlichen dagegen haben sich noch nicht abgefunden, sie zeigen den Erwachsenen die von ihnen schon aufgegebenen menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Auf diese Weise erklärt es sich, wieso allein die bloße Existenz der Jugendlichen für die Erwachsenen oft eine "Provokation" zu sein scheint (ebd.: 115).

"Die Jugend bedroht durch ihre Existenz, durch ihre Hoffnungen, Zukunftserwartungen und Lebensformen das [...] Abwehrsystem der "durchschnittlich angepassten" Erwachsenen, damit die Funktionsfähigkeit ihrer Bewältigungsweisen sowie die ohnehin immer gefährdete Stabilität ihrer Persönlichkeit. Durch die Begegnung mit der Jugend werden die verschütteten und verdrängten Alternativen des Kampfes um ein erfüllteres Leben, die man selbst hatte und aus Kleinmut und Risikoscheu verschenkt hat, wieder virulent. [Bei der Stärkung der Abwehrkräfte...] ist es ein naheliegender Weg, die in der Jugend selbst verkörperten Lebensmöglichkeiten durch deren Ausgrenzung, Abwertung, Denunzierung zu leugnen, womit dann auch geleugnet ist, daß man selbst solche Möglichkeiten hatte und vergab." (ebd.: 116)

Mütter etwa, die "für die Kinder" ihre eigenen Entwicklungsmöglichkeiten aufgeben, sind in diesem Sinne recht schlechte Partnerinnen für die Entwicklung ihrer Kinder.

Erziehung

"Erziehung" allgemein

Angesichts dieser Situation ist es ganz normal, dass Erziehung meist als "Formung des Menschen" (Hoffmeister 1955: 217) bis zum fertigen Erwachsenentypus (ohne "Rosinen im Kopf") verstanden wird. Klaus Holzkamp verwendet das Wort "Erziehung" meistens nur in Anführungsstrichen und bestimmt es nur selten positiv. Das, was normalerweise als "Erziehung" bezeichnet wird, benennt er eher mit den Worten Kind-Erwachsenen-Koordination (Holzkamp 1985: 438). Es geht dabei nicht um eine Sichtweise, die von außen auf die "richtige" Entwicklung des Kindes schaut, sondern Holzkamp betont den "primäre[n] Charakter der Entwicklung der Kind-Erwachsenen-Koordination" und bestimmt dem gegenüber den "sekundäre[n] Charakter der darin sich vollziehenden Individualentwicklung" (ebd.: 438).

Die Kind-Erwachsenen-Koordination ist eine spezielle Form von Beziehungen zwischen Menschen, weil Kinder noch nicht von Anfang an voll handlungsfähig sind. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik nennt als Aufgabe der Erziehung die "konkrete Ermöglichung des Menschen" (Schmied-Kowarzik 1969: 30), so dass sie dann als "Träger der gesellschaftlichen Praxis" (Schmied-Kowarzik 1980: 78) wirken können. Das Ziel der spezifischen Heranwachsenden-Erwachsenen-Beziehung sollte nach Holzkamp darin bestehen, mit dem Erreichen der Handlungsfähigkeit in ganz normale intersubjektive Beziehungen zwischen Menschen überzugehen (Holzkamp 1985: 496).

"Erziehungsförmigkeit" in entfremdenden gesellschaftlichen Verhältnissen

Das Leben von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen hängt in großem Maße von den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen ab. Zwar bedeutet diese Abhängigkeit nicht, das die Möglichkeit des "bewussten-Verhaltens-zu" ausgesetzt wäre, aber unter bestimmten Bedingungen ist sie nur erschwert durchzuhalten und oft sogar erst wieder zu erkämpfen. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihr die individuelle Reproduktion nur innerhalb einer Warenproduktionsweise möglich ist, in der jeder Mensch nicht nur als Konsument, sondern auch als Produzent der Konkurrent des anderen ist. Gerade die Isoliertheit des Einzelnen gegenüber anderen und der Gesellschaft ist die dafür typische Form von Vergesellschaftung. "Die gesellschaftliche Beziehung der Individuen aufeinander als verselbständigte Macht über den Individuen [...] ist notwendiges Resultat dessen, daß der Ausgangspunkt nicht das freie gesellschaftliche Individuum ist." (Marx Grundr.: 127)

Die Vorstellung von "Erziehung" baut auf dieser Form auf: Es wird angenommen, die Einzelnen seien zuerst ungesellschaftliche Wesen, denen durch "Sozialisation" bzw. "Erziehung" die Gesellschaftlichkeit nahe gebracht werden müsse, bzw. wodurch sie lernen würden, ihre egoistischen Strebungen abzulegen zugunsten des Sozialen/Gesellschaftlichen. Diese Annahme, Kinder seien von sich aus ungesellschaftlich und müssten die Gesellschaft erst von außen aufgeprägt bekommen, liegt aller Vorstellung von "Erziehung" zugrunde (Holzkamp 1983a: 126).

Besondere Durchschlagskraft gewannen diese Vorstellungen speziell in Deutschland vor allem deswegen, weil die Ursache des ökonomischen und politischen Rückstands im 18. Jahrhundert vor allem in der Unfähigkeit der Menschen gesehen wurde und es deshalb nahe lag, gesellschaftlichen Fortschritt als Aufgabe der Erziehung zu bestimmen (Jaeger 1977: 382ff.). Es gab auch eine kurze Zeit, in der zwei mögliche Erziehungsziele: Erziehung zur gesellschaftlichen Nützlichkeit (Erziehung zum "Bürger") und Erziehung zur individuellen Vollkommenheit (Erziehung zum Menschen) noch als Alternativen diskutiert wurden – die Entscheidung wurde aber bewusst zugunsten der Erziehung zur gesellschaftlichen Nützlichkeit getroffen (ebd.: 388). Gegenüber der früher vorherrschenden (selbstgenügsamen) landwirtschaftlichen Lebensweise mussten die Eigenschaften von Industriearbeitern erst erzeugt werden, es ging um die "Individualitätsform des neu zu schaffenden produktiven Menschen" (ebd.: 385). Bürgerliche Erziehungswissenschaft wurde unter diesen Voraussetzungen eine "Feststellung des Vorliegenden und Antrainieren von Lehrfertigkeiten unter vorausgesetzten Regeln" (Schmied-Kowarzik 1980: 74).

Diese Vorstellungen von "Erziehung" setzen auch voraus, das Machtausübung selbstverständlich ist, bis das Kind freiwillig die Anforderungen der Gesellschaft erfüllt. Alice Miller beschreibt nachdrücklich, inwieweit die sog. "Schwarze Pädagogik" mit ihrem Kampf gegen Eigensinn und Halsstarrigkeit und für Gehorsam und Selbstverleugnung (Miller 1983: 26ff.) diese Herrschaftsausübung noch unverhohlen propagiert. In der "Weißen Pädagogik" mit ihren Manipulationen ("Zweifellos darf es [das Kind, A.S.] tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, daß es es will." (Rousseau, zit. bei Miller 1983: 118)) geschieht dasselbe nur in verdeckter Weise. Den Übergang von der "Schwarzen" zur "Weißen" Pädagogik wird man auch in Abhängigkeit vom Übergang von der bäuerlichen Lebensweise mit ihren eher natürlichen, handgreiflichen Zwängen zur Notwendigkeit der freiwilligen Übernahme der Zwänge des neuzeitlichen Lebens sehen können. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik reinterpretiert die Pädagogikkonzepte von Schleiermacher und Herbart als affirmative und aufklärerische Ansätze (Schmied-Kowarzik 1980: 72ff., vgl. auch Schmied-Kowarzik 1984), die den später als "Lehr-Lern-Kurzschluss" benannten pädagogischen Prozess zu begründen versuchen.

Erziehung zum Fortschritt?

Immer ist hier vorausgesetzt, dass die Erwachsenen die Ziele der individuellen Entwicklung kennen und dementsprechend auf die Kinder einwirken. Linke und andere fortschrittlich meinende Menschen ersetzen lediglich die Inhalte Ziele und wünschen z.B. eine "Erziehung zu gesellschaftsverändernden Aktivitäten", wobei diese Ziele ebenfalls dem Kind gegenüber fremdgesetzt sind (Holzkamp 1983a: 126). Aber "man kann nicht die eigene Selbstbestimmung erweitern, indem man von anderen gesteckte Ziele verfolgt" (ebd.: 130). Wenn die eigenen Ziele, wie fortschrittlich sie auch gemeint sind, den Kindern "anerzogen" werden sollen, so unterlaufe ich mein eigenes Ziel: "Sofern sich das Kind in seiner Entwicklung diesen inhaltlichen Vorstellungen der Erwachsenen, und sei es von Selbstbestimmtheit und "Fortschrittlichkeit", aufgrund von Erziehungsmaßnahmen angleicht, hat es sich damit in Wahrheit fremden Zielen unterworfen und damit seine wirkliche Subjektivität und Selbstbestimmtheit aufgegeben." (Holzkamp 1983a: 135). Indem ich es zur Freiwilligkeit der Übernahme (meiner, ihm fremden) Ziele bringe, erziehe ich es umso mehr in Richtung der modernen Formen der "selbstbestimmten" Verwertbarkeit unter kapitalistischen Bedingungen (vgl. Holzkamp 1983b: 147).

"Er-Ziehung"

Zusammenfassend muss man sagen, dass "Erziehung" üblicherweise als Sonderveranstaltung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen stattfindet (Holzkamp 1983a: 125). Die "Erziehungsförmigkeit" zeigt sich als Verhältnis zwischen (personalen oder institutionellen) ErzieherInnen und Zöglingen, in welchem die Erziehenden als Erziehungssubjekte beim Kind/Jugendlichen als Erziehungsobjekt bestimmte Veränderungen bewirken (Holzkamp 1983b: 144). Erziehung ist somit in dieser Form eine Vorbereitung auf die fremdbestimmte Erwachsenenexistenz (Holzkamp 1983a: 128), d.h. unter gegenwärtigen Bedingungen die Formierung des Kindes auf seine Verwertbarkeit unter kapitalistischen Verhältnissen (Holzkamp 1983b: 144).

"Am Anfang war Erziehung"

In diesem Zusammenhang ist auch Alice Millers vehemente Erziehungskritik zu verstehen. In ihrer psychoanalytischen Praxis erfuhr sie, dass viele Erwachsene in ihrer individuellen Entwicklung stark behindert sind, weil sie in ihrer Kindheit und Jugend erzogen worden sind. Auch Miller betont: "Im Wort >>Erziehung<< liegt die Vorstellung bestimmter Ziele, die der Zögling erreichen soll – und damit wird schon seine Entfaltungsmöglichkeit beeinträchtigt." (Miller 1983: 122) Das für das spätere Leben Problematische ist dabei gar nicht unbedingt die erlebte Brutalität und Grausamkeit der "Schwarzen Pädagogik", sondern das in schwarzer wie weißer Pädagogik gleichermaßen vorherrschende Bemühen nach "Zucht" als Lebenshemmung, wie es eine "Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens" von 1887 offen fordert (ebd. 47). Dabei werden die Lebendigkeit und die Vitalität des Kindes von Anfang an bekämpft (ebd.: 15, 54). Auch wenn dass Kind nur "gute Gefühle" äußern darf und die "schlechten" ihm verboten werden, so verliert das Kind die Fähigkeit seine Gefühle auszudrücken und letztlich auch zu fühlen bzw. sich seines Fühlens und damit eines großen Teils seiner Identitätsgrundlage bewusst werden zu können. "Die größte Grausamkeit, die man den Kindern zufügt, besteht wohl darin, daß sie ihren Zorn und Schmerz nicht artikulieren dürfen, ohne Gefahr zu laufen, die Liebe und Zuwendung der Eltern zu verlieren." (ebd. 128) Wut und Frust über Misshandlungen würden wenigstens der Seele helfen; wenn diese Reaktionen aber auch nicht sein dürfen (wegen der oben genannten existentiellen auch psychischen Abhängigkeit des Kindes von Erwachsenen), können diese Gefühle nicht in das Selbst integriert werden, sondern werden abgespalten und verdrängt. Folgen dieser Abspaltung diskutiert Alice Miller z.B. am Beispiel der drogenabhängigen Christiane F. (bekannt aus "Kinder vom Bahnhof Zoo"), am Beispiel des Kindermörders Jürgen Bartsch und anhand der psychischen Deformationen von Adolf Hitler.

Was passiert mit dem "Selbst"?

All diese weit verbreiteten Formen von "Erziehung", bei denen Affekte bekämpft werden, bevor sich das Selbst des Kindes entwickeln kann (ebd.: 26), bei denen "Mord an der Seele [...] als ein Bestandteil der Erziehung völlig legalisiert" (ebd.: 259) ist, behindern in starkem Maße die in unserer Diskussion der spezifischen Qualität des Menschseins vorausgesetzte Möglichkeit des "bewussten-Verhaltens-zu" den gegebenen Bedingungen. Dieses setzte eine reflektierende Subjektivität voraus, die aber – wie wir eben sahen – in der "Erziehung" unter entfremdeten Verhältnissen zwar nie ganz zerstörbar, aber doch in erheblichen Maße beeinträchtigt wird. "Erziehung" ist Formierung von Objekten, massive Behinderung der Ausbildung von Subjektivität. "Einen eigenen Willen und eine eigene Meinung zu haben, galt eben als Eigensinn und war verpönt" (ebd.: 61). Peter Handke macht auf ein durchaus typisches Verständnis des Wortes "Individuum" aufmerksam: ">>Individuum<< war auch nur bekannt als Schimpfwort." (Handke, zit. in Miller 1983: 102)

Mit dieser "Altlast" müssen wir rechnen, wenn wir intersubjektive Beziehungen aufbauen möchten und unser politisches Konzept auf die Aktivität von Subjekten mit einem entwickelten Selbst orientieren. Alice Miller arbeitete vorwiegend mit der Psychoanalyse, um wenigstens den erwachsenen Menschen im Nachhinein wieder einen Zugriff auf ihre ins "Unterbewusstsein" verdrängten Anteile zu ermöglichen.

Das "Selbst" wird auch von Frigga Haug thematisiert (Haug 1999, Haug 2001), wobei sie von der Konstruiertheit des "Ich" ausgeht: "Das soll heißen, die Menschen bauen die Gegebenheiten ihres Lebens so um, daß sie selber einigermaßen widerspruchsfrei darin existieren können, handlungsfähig sind. Da eine solch widerspruchsfreie Existenz praktisch nicht möglich ist, schon gar nicht in unseren Verhältnissen und darin noch weniger für Frauen, nehmen wir an, daß die Selbstinterpretationen (Vorstellungen und Erinnerungen) in hohem Maße Widerspruchsfreiheit konstruieren: dies eben durch Vergessen, Auslassen, Nicht-Wahrnehmen usw. Eben diese Konstruktionen, in denen wir gewissermaßen rund um die Ecke kommen, sind hinderlich für die tatsächliche Realitätsbewältigung" (Haug 1982: 54-55). Als eine Methode, sich des "Halbgewussten" über sein eigenes widersprüchliches Verhältnis zur Welt wieder bewusst zu werden, schlägt sie z.B. die kollektive Diskursanalyse an bestimmten selbst geschriebenen Texten vor. Wir sollten grundsätzlich lernen, "historisch zu leben" das heißt, uns selber nicht als Natur und unhinterfragbare Gegebenheit zu akzeptieren, sondern als geworden und also veränderbar (Haug 1982: 64). Dies betont wiederum den Pol der möglichen Eigenaktivität bei aller Bedingtheit: "Mein Ausgangspunkt war also, daß eine Auffassung, die die einzelnen Menschen als Opfer der Verhältnisse denkt, und damit die Strukturen, in die wir uns hineinarbeiten, als allgegenwärtig erklärt, nicht begreifen kann, wie Menschen überhaupt etwas ändern können in dieser steinernen Welt." (Haug 1983: 33)

Aufgrund der eben diskutierten Verflochtenheit des Selbst mit den konkreten Gesellschaftsbedingungen ist aber auch nicht davon auszugehen, dass jedes "Selbst" quasi unschuldig und per se zu idealisieren sei (zu reformpädagogischen Konzepten des "Wachsen lassens" siehe Roth 1999: 191f.).

Diese Arbeit am eigenen Selbst ist durchaus kein Selbstzweck. Sie ist eine der Voraussetzungen für Hoffnungen auf einen gesamtgesellschaftlichen Umschwung hin zu überlebensfähigen Wirtschafts- und Lebensweisen. Selbstveränderung fällt mit dem Ändern der Umstände zusammen (Marx: TüF: 6), heute schon, weil die Veränderung von Individualität auch immer Veränderung von Gesellschaftlichkeit ist – aber auch als Potential für die Zukunft. Diese Arbeit kann deshalb auch nicht allein im "eigenen Kämmerlein" geschehen. Das "Selbst" ist Moment gesellschaftlicher Beziehungen und es hat neben der gesamtgesellschaftlichen Dimension (die überhaupt die Voraussetzung für die Möglichkeit des "bewussten-Verhaltens-zu" den Bedingungen ist) auch jeweils soziale Umfeldkomponenten. Besonders vor der Aufhebung der gesellschaftlichen Entfremdung im großen Maßstab ist es wesentlich, im sozialen Umfeld "Nischen" zu haben, in denen die unentfremdeten Anteile unseres "Selbst" überleben und wachsen können. (vgl. Zukunftswerkstatt Jena)

Alternativen zur "Erziehungsförmigkeit"

Alice Miller ist aufgrund ihrer antipädagogischen Haltung (Miller 1983: 82) "nicht gegen eine bestimmte Art von Erziehung, sondern gegen Erziehung überhaupt, auch gegen die antiautoritäre" (ebd.: 118). Sie fordert dagegen Respekt und Achtung für die sich entwickelnde Persönlichkeit und Toleranz gegenüber den kindlichen Gefühlen ein. "Wohin ich schaue, sehe ich das Gebot, die Eltern zu respektieren, nirgends aber ein Gebot, das Respekt für das Kind verlangt" (ebd.: 302). Sie seelische und körperliche Begleitung (ebd.:122) verlangt auch, vom Kind zu lernen. Das oft geforderte "Grenzen setzen" gegenüber den noch unwissenden Kindern ergibt sich von allein, wenn die Eltern in ihren Aktionen echt sind und in diesem Sinne beispielsweise ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle dem Kind gegenüber artikulieren.

Ihrer Meinung nach sind weder für Eltern noch berufliche Kinderbegleiter pädagogische bzw. erzieherische Prinzipien notwendig. Diese würden nur dann gebraucht, quasi als Prothesen, wenn die Erwachsenen die geforderte Achtung und Toleranz nicht leisten können, etwa weil sie selbst ihrer Gefühle beraubt wurden. Miller geht davon aus, "daß jede Pädagogik völlig überflüssig ist, falls das Kind in der frühen Kindheit über eine konstante Person verfügen konnte [...] und nicht Angst haben muß, sie zu verlieren oder von ihr verlassen zu werden, wenn es seine Gefühle artikuliert. Ein Kind, das ernst genommen, geachtet und in diesem Sinn begleitet wird, kann seine eigenen Erfahrungen mit sich und der Welt machen und braucht keine Sanktionen des Erziehers." (ebd.: 317)

Auch Klaus Holzkamp will die Überschrift eines Textes "We don´t need no education" nicht so verstanden wissen, als wäre die Ablehnung der "Erziehungsförmigkeit" in den Beziehungen zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen ein Verzicht auf bewusste Beziehungen. "Was wir radikal anzweifeln, ist die Auffassung, daß man für die Entwicklung der Kinder nur etwas tun kann, wenn man sie von der geschilderten Position des "besseren Wissens" aus erzieht, und dass die Alternative zur Vermeidung der dadurch gesetzten Manipulation nur das Garnichtstun sei." (Holzkamp 1983a: 132)

Nach kritisch-psychologischer Ansicht vergesellschaftet sich jedes Kind aus eigenem Antrieb individuell (Holzkamp 1983a: 127). Dies ist aber keine Folge irgend eines inneren "Triebs", sondern folgt daraus, dass das Kind nur auf eine solche Weise Ausgeliefertheit und Angst überwinden kann (ebd.: 117). Der Erfolg der individuellen Vergesellschaftung misst sich vor allem am Erreichen der gesellschaftlich möglichen personalen Handlungsfähigkeit. Dies ist keine von außen gesetzte Norm, sondern ergibt sich aus dem Eingebettetsein des Individuums in die Gesellschaft. Die Unterstützung von Erwachsenen im Prozess des Erreichens der Handlungsfähigkeit dient der Absicherung der Rahmenbedingungen und ist insgesamt ein widersprüchlicher Prozess, weil die gegenseitigen Interessen erkannt und abgeglichen werden müssen und außerdem das Noch-Nicht-Erreichen der Möglichkeit der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit beim Heranwachsenden (der Möglichkeit des Veränderns der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen) mit den entsprechenden Positionen der Erwachsenen kollidieren kann bzw. auch das Hinauswachsen aus dem restriktiven Rahmen bei Heranwachsenden den Stand der Erwachsenen im Umfeld überholen kann. Dabei ist die "Entwicklung in Richtung auf erweiterte Umweltverfügung [...] immer die Negation der Widersprüche eines gegebenen Zustands der Abhängigkeit und Fremdbestimmung in einem notwendigen nächsten Schritt der Überwindung dieser Abhängigkeit und Fremdbestimmtheit" (Holzkamp 1983a: 133).

Die Entwicklung wird Umwege nehmen, Lernverweigerung kann als Widerstand gegen Vereinnahmung entstehen (ebd.: 134) und "somit können durchaus auch Handlungen und Haltungen solche notwendigen Umwege zu erweiterter Selbstbestimmung darstellen, die äußerlich wie das Gegenteil, wie Verzicht auf die Aneignung gesellschaftlicher Möglichkeiten zur individuellen Verfügungserweiterung aussehen" (ebd.: 134).

Unterstützung der Heranwachsenden bedeutet dabei auch, Restriktionen und Widersprüchlichkeiten nicht zu verleugnen, sondern sich und ihnen bewusst machen (Holzkamp 1983b: 148). Auf diese Weise erfährt das Kind, wie ich mich diesen Bedingungen gegenüber bewusst verhalte und kann in ähnlicher Weise über sein Verhalten entscheiden. "Erziehung, die den Anspruch auf Fortschrittlichkeit erhebt, muß [...] durch bewußte und geplante Unterstützung den Kindern dabei helfen, im "Schwimmen gegen den Strom" herrschender Ideologie und Lebenspraxis über den vordergründigen Widerstand gegen "Erziehung" hinauszukommen und Widerständigkeit gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse zu entwickeln, die die langfristigen Lebensinteressen der Kinder wie der Erwachsenen behindern." (ebd.: 149) Das angemessene Verständnis der Lernwiderstände als Ausdruck der entfremdeten Lebensverhältnisse durch die unterstützenden Erwachsenen kann auch den Heranwachsenden dabei helfen, die entfremdende Situation aufzudecken. In dieser Aufdeckung ist ja bereits die prinzipielle Möglichkeit ihrer Aufhebung und Überwindung begründet (Schmied-Kowarzik 1992: 59, vgl. Schmied-Kowarzik 1980: 76). Das Lernen "als" Widerstand kann dann zum Lernen "von" Widerstand werden (Holzkamp 1987: 172, 190).

Im Miteinander zwischen Heranwachsenden und "Erwachsenen" ist auch der "Erwachsene" niemals "fertig". Sein "Selbst" ist in ständiger Entwicklung, es enthält Spuren der Vergangenheit in verschiedenen Schichten. Gramsci spricht vom ""Erkenne dich Selbst" als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozesses, der in einem selbst eine Unendlichkeit von Spuren hinterlassen hat" (Gramsci 2004: 98) und stellt die Aufgabe, seine eigene Weltauffassung immer wieder zu kritisieren und sie dabei einheitlich und kohärent zu arbeiten. Das bedeutet hier auch, wie es schon Alice Miller forderte, dabei durchaus von den Jüngeren zu lernen. Gerade zur Verhinderung der eigenen Erstarrung, die in entfremdeten Gesellschaftsformen nahe liegt, ist das Zusammenleben mit Heranwachsenden hilfreich.

Um nicht wieder in die "Erziehungsförmigkeit" zurück zu fallen, muss der Entwicklungsprozess der Heranwachsenden stets offen sein. "Man sollte sich [...], so schwer es fällt, daran gewöhnen, daß die Kinder nicht so werden müssen, wie man sie sich vorstellt, und man sollte lernen, sie, sofern sie dies wollen und annehmen können, in ihren eigenen Anstrengungen, auf ihrem eigenen Weg und in ihrer eigenen Form der subjektiven Lebensbewältigung und Daseinserfüllung zu unterstützen. Wenn es einen dabei befremdet, was da aus den Kindern wird, und wenn die Kinder einem dabei fremd werden, so ist dies zunächst einmal ein gutes Zeichen. Weiterhin wird man dann nach den eigenen Beschränkungen und Beschränktheiten zu suchen haben, durch die diese Fremdheit entstanden ist. Vielleicht gelingt es einem so allmählich dazu beizutragen, die Beziehung mit den Kindern als eine Beziehung zwischen zwei eigenständigen Subjekten zu entwickeln." (Holzkamp 1983a: 135)

Es ist spannend, immer neugierig zu bleiben, was die jungen Leute mit uns und nach uns mit dem Leben und seinen Bedingungen machen werden...

 

Literatur

Benesch, Hellmuth (1987): dtv-Atlas Psychologie. Band 2. Deutscher Taschenbuch Verlag: München.
Gramsci, Antonio (2004): Erziehung und Bildung. Gramsci-Reader. Herausgegeben im Auftrag des Instituts für kritische Theorie von Andreas Merkens. Hamburg: Argument-Verlag.
Gruppe Gegenbilder (2000): Freie Menschen in freien Vereinbarungen –Gegenbilder zur EXPO 2000. Saasen
Haug, Frigga (1982): Erinnerungsarbeit und die Langeweile der Ökonomie. In: Frigga Haug (2001): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag. S. 42-83.
Haug, Frigga (1983): Streitfragen. In: Frigga Haug (2001): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag. S. 32-41.
Haug, Frigga (1999): Vorlesungen zur Einführung in die Erinnerungsarbeit. The Duke Lectures. Hamburg: Argument-Verlag.
Haug, Frigga (2001): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag. (Erstausgabe 1990)
Hoffmeister, Johannes (1955): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Felix Meiner Verlag.
Holzkamp, Klaus (1980): Was heißt "normale" Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit? In: Klaus Holzkamp: Schriften I. Normierung. Ausgrenzung. Widerstand. Hamburg: Argument-Verlag. 1997. S. 99-108.
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Zukunftswerkstatt Jena. In Internet: http://www.zw-jena.de. Foto: vom Seminar "Lernverhältnisse" im Juni 2004 in Hütten

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