Lernen

Als ich vor der Teilnahme an einem Bildungsseminar aufgefordert war, einen kleinen Bericht über "Lernerfahrungen" zu schreiben, dachte ich fast sofort an das schulische Lernen. Meine Lernerfahrung bezog sich dann auch auf etwas, was für mich mit Schule und Lernen im akademischen Bereich zusammen hängt: Das Merken von Lerninhalten. Wie sehr ich dadurch meinen eigenen Blick eingeschränkt hatte, wurde mir im Seminar bald klar... Lernen *
Lernen in der Kritischen Psychologie *
Das Lernen im Tierreich *
Das Lernen von Menschen *
Was macht das Menschsein aus? *
Lernen der gesellschaftlichen Menschen *
Lernen im Kapitalismus *
Die Institution Schule – Schule und Macht *
Widerständiges Lernen - Lernwiderstände *
Die Lehrenden *
Verschiedene Fragestellungen *
Lernen und Arbeit *
Lernmotivationen *
Kritik im Lernprozess *
Literatur *

Lernen

Schulisches Lernen bezieht sich oft auf das Auswendiglernen von Inhalten. Es geht darum, ein Gedicht zu "lernen", für die nächste Arbeit zu "lernen". Die Hauptfrage ist dann: Wie merke ich mir etwas? Unter der Losung: "Nicht für die Schule – für das Leben lernen wir" sollte das Lernen aber noch einen anderen Sinn und damit auch einen anderen Inhalt haben. Was könnte das Lernen mit dem Leben zu tun haben?

Bereits Tiere können lernen, aber nur jene Tierarten, bei denen durch individuelle Lernprozesse auf veränderliche Umweltgegebenheiten reagiert werden kann. Lernen kann dann z.B. bestimmt werden als eine "Klasse informationsverarbeitender Prozesse, durch die Organismen individuelle Erfahrungen erwerben, beim künftigen Verhalten berücksichtigen und dadurch den besonderen und häufig wechselnden Umgebungsanforderungen zweckmäßig begegnen können." (Löwe 1996 : 510) Für Menschen reicht es aber nicht aus, nur Erfahrungen zu sammeln, wie in einer unmittelbaren Umgebung zweckmäßig gehandelt werden kann, sondern für uns gehört die Aneignung der menschlichen Kultur hinzu. Für Menschen ist Lernen die "Herausbildung bzw. Veränderung aller psychischen Eigenschaften der menschlichen Persönlichkeit durch Aneignung der menschlichen Kultur im individuellen Lebensweg" (ebd.: 510-511). Oder einfacher ausgedrückt: Lernen ist Aneignung der menschlichen Lebensweise (Haug 2004).

Lernen in der Kritischen Psychologie

Das Lernen im Tierreich

Subsidiäres und autarkes Lernen

Lernen im Tierreich ermöglicht eine individuelle Anpassung an aktuelle Veränderungen (Holzkamp 1985: 126). Die Lernfähigkeit ist nicht bei allen Tieren vorhanden, sie entsteht auf Grundlage der allgemeinen Modifikabilität (Variationsbreite) im individuellen Verhalten. Unter gleichen Bedingungen können auch verschiedene Tiere innerhalb der vererbten Variationsbreite unterschiedliches Verhalten zeigen. Verhalten äußert sich in einer Aufeinanderfolge von Aktivitäten. Bei den meisten dieser Aktivitätsfolgen ist es angeboren, welche Aktivität wann und aufgrund welchen Reizes erfolgt. Überfliegt ein Vogel oder eine Vogelattrappe eine Hühnergruppe, werden die Hühner versuchen zu fliehen. Lernen setzt dann ein, wenn z.B. immer wieder dieselbe Attrappe über die Hühnergruppe gehalten wird und die einzelnen Hühner lernen, diese Attrappe zu ignorieren. Der Einbau von individuellen Erfahrungen in die Verhaltenssteuerung ermöglicht mehr Flexibilität bei veränderlichen Umweltbedingungen. Es ist nicht angeboren, was jeder einzelne Organismus lernen wird, aber dass er lernfähig ist, ist für Organismen jener Tierarten, die diesen Stand erreicht haben, angeboren. Für höhere Tiere unterscheidet die Kritische Psychologie zwei Lernformen. Das ist zum einen das subsidiäre Lernen (hier ändern sich die Aktivitätsformen selbst nicht, sie werden nur abgeschwächt, wie bei der Gewöhnung an die Attrappe, oder verstärkt) (Holzkamp 1985: 139). Zum anderen entsteht autarkes Lernen. Hier kann der Ablauf der Aktivitätssequenz selbst verändert werden, einzelne Aktivitäten werden aus dem vorigen Zusammenhang herausgelöst und neu kombiniert (ebd.: 140f). Bei höheren Tierarten beruht das Leben geradezu auf der Lernfähigkeit; Lernen ist dann nicht mehr nur eine günstige Zugabe, ohne die es notfalls auch geht, sondern das Lernen gehört zum artspezifischen Verhalten (ebd.: 157). Wenn das individuelle Leben ohne autarkes Lernen nicht mehr funktioniert, so spricht man davon, dass das autarke Lernen "dominiert". Es gibt – für Organismen dieser Tierarten – kein Zurück mehr. Das autarke Lernen braucht – wegen des Auseinandernehmens vorher sicherer Aktivitätssequenzen – eine Absicherung. Dies leistet der für diese Tiere entstehende Sozialverband und das Auseinanderfallen von Kindheit/Jugend und Erwachsensein. Die Phase des Lernens wird für Tiere i.a. nach der Jugendphase abgeschlossen, bzw. die Variabilität des Verhaltens sinkt danach entscheidend. Dass Tiere lernen, ist ihnen nicht als "Trieb" gegeben, sondern beruht auf dem Bedarf nach Umweltkontrolle bzw. später auf dem Bedarf nach Umwelterkundung (Neugier- und Explorationsverhalten), wobei sich der Bedarf nach Umweltkontrolle in den Sozialverbänden in einen Bedarf nach sozialer Absicherung und Orientierung entwickelt. Für Dompteure und Tierbetreuer sollten diese Kenntnisse um subsidiäres und autarkes Lernen hilfreich sein.

Bei der Entstehung der Gattung Mensch veränderten sich die Anforderungen an das Lernen qualitativ. Die Antizipation (gedankliche Vorwegnahme) von Ergebnissen des Tuns betrifft nicht mehr nur individuelle Tätigkeiten, sondern bezieht sich auf überindividuelle Handlungszusammenhänge; es muss gelernt werden, welche Bedeutungen die entstandenen Arbeitsmittel im verallgemeinerten Sinne haben (die Arbeitsmittel werden nicht nur für den unmittelbaren Gebrauch hergestellt, sondern behalten eine darüber hinausgehende verallgemeinerte Bedeutung) und mit dem Entstehen der Gesellschaft müssen auch gesellschaftliche Bedeutungsstrukturen individuell erlernt werden.

Das Lernen von Menschen

Was macht das Menschsein aus?

Gesellschaftlichkeit –Bewusstheit - Handlungsfähigkeit – die zweite Möglichkeit - Subjektivität - Handlungsgründe

Sobald sich das gesellschaftliche Leben als Grundlage der individuellen Reproduktion als dominierend herausentwickelt hat, d.h. sobald die biotischen Faktoren von Mutation und Selektion nicht mehr die Entwicklung bestimmen, sondern die Art und Weise der Produktion, besteht die menschliche Spezifik darin, dass die Individuen nicht mehr unmittelbar bzw. nur über ihre Sozialgruppe ihr Leben reproduzieren, sondern ihre individuelle Reproduktion ist über die Gesamtgesellschaft vermittelt – die Unmittelbarkeit ist durchbrochen, gesellschaftliche Vermittlung ist wesentlich. Durch gesellschaftliche Reproduktion werden die Reproduktionsbedingungen selbst auch aktiv verändert – auch dies unterscheidet die Gattung Mensch von den nur biotischen Lebewesen. Menschen sind also einerseits von den jeweils gegebenen Lebensbedingungen abhängig, andererseits verändern sie diese auch aktiv und (mehr oder weniger) bewusst. Durch die gesellschaftliche Vermittlung geschieht noch etwas Wichtiges: Zwar ist es notwendig, dass die gesellschaftliche Reproduktion im Ganzen gesehen funktioniert. Aus den gesellschaftlichen Handlungsnotwendigkeiten leitet sich aber nicht unmittelbar ab (wie noch beim Sozialen), was das einzelne Individuum notwendigerweise zu tun hat. Diese gesellschaftlichen Handlungsnotwendigkeiten sind für ihn nur Möglichkeiten, denen gegenüber er sich bewusst verhalten kann. Das "bewusste-Verhalten-zu" kennzeichnet eine Distanzmöglichkeit im Denken und auch im Verhalten, die Tieren noch nicht möglich ist. Es entsteht eine spezifische Möglichkeitsbeziehung des Menschen gegenüber der Welt. "Das Tier ist durch seine Umwelt, seine Instinkte und Triebe in seinem Verhalten von Natur aus festgelegt, des menschliche Handeln dagegen muß erst in Richtung und Maß bestimmt werden." (Schmied-Kowarzik 1969: 27). Jeder Mensch, auch der Isolierteste, lebt gesellschaftlich, weil seine Reproduktion in die gesellschaftliche Reproduktion eingebunden ist und er ist insoweit handlungsfähig, wie er die Möglichkeit hat, über die Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess seine eigene Existenz zu reproduzieren (Holzkamp 1985: 241). Diese Teilhabe und damit die Handlungsfähigkeit kann verschiedene Formen annehmen. Geht es darum, die Lebensbedingungen insgesamt gemeinsam zu kontrollieren (Holzkamp 1984: 397) bzw. die gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten gemeinsam zu erweitern (Holzkamp 1985: 2), so kann von verallgemeinerter Handlungsfähigkeit gesprochen werden. Wird diese Möglichkeit nicht aufgegriffen (was nicht negativ zu beurteilen, sondern höchstens im konkreten Fall zu verstehen ist), so kann die Möglichkeit der Überschreitung der jeweils gegebenen Teilhabebeschränkungen auch negiert oder geleugnet werden. (ebd.: 385). Diese Form der Handlungsfähigkeit wird restriktive Handlungsfähigkeit genannt und angesichts gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Gewohnheiten ist sie – vor allem unter kapitalistisch-bürgerlichen Verhältnissen – die nahegelegte, die "normale" Form. Der Erhalt der Handlungsfähigkeit bzw. ihre Ausweitung bestimmt die Hauptbedürfnisse der Menschen. Um Handlungsfähigkeit zu erhalten gegenüber dem Risiko sie vielleicht zu verlieren, macht für das Individuum oft das Verbleiben im restriktiven Rahmen mehr Sinn, als der riskante Versuch der Erweiterung der Handlungsfähigkeit. Trotzdem ist die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit, die Möglichkeit des Überschreitens der gegebenen Teilhabebeschränkungen als "zweite Möglichkeit" immer vorhanden (wenn auch zuerst vielleicht nur in der Form geistiger Distanzierung und Kritik). Zur Vertiefung füge ich an dieser Stelle ein längeres Zitat von Klaus Holzkamp ein:

"Zwar ist die gesamtgesellschaftliche Reproduktion "im ganzen" durch die in diese einbezogenen Individuen "getragen". Dies heißt aber nicht, daß (wie in den kooperativ-gesellschaftlichen Frühformen) jedes einzelne Individuum notwendig in diesen Reproduktionsprozess einbezogen ist. Vielmehr werden die individuellen Subjekte (bis zu einem gewissen Grade) auch dann durch die gesellschaftlichen Lebensmittel/Bedingungen in ihrer Existenz "miterhalten", wenn sie gerade keinen Beitrag zu deren Reproduktion leisten. Demgemäß haben u.E. die gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsnotwendigkeiten (in ihren jeweils historisch bestimmten, formationsspezifischen Ausprägungen) für die Individuen nicht den Charakter von direkten Handlungsdeterminanten, sondern lediglich von gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten, die zwar einerseits global gesehen zur subjektiven Lebenserhaltung /-entfaltung "irgendwie" genutzt werden müssen, denen gegenüber aber andererseits das Individuum im jeweils speziellen Fall über "Alternativen" verfügt: Es kann sich ihnen gegenüber auch verweigern, etwas anderes oder gar nichts tun etc." (Holzkamp 1988: 35)

Zu begründen ist das Vorhandensein dieser zweite Möglichkeit in der Tatsache, dass – wie oben erwähnt – Menschen im gesellschaftlichen Leben auch die eigenen Bedingungen aktiv gestalten. Menschen machen ihre Geschichte unter Bedingungen, aber sie machen sie selbst – betonte einst Marx. Indem Menschen über ihre eigenen Lebensbedingungen verfügen, sind sie Subjekte. (Holzkamp 1983: 138) und "Menschen sind nur soweit menschliches Subjekt, also "Mensch" im eigentlichen Sinne, wie sie sich selbst in verallgemeinerter Weise als Ursprung der Schaffung und der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gemäß ihren Lebensinteressen erfahren können" (ebd.: 139).

Gesellschaftlichkeit ist also wesentlich verbunden mit der Subjektivität der Individuen. Diese macht es aber unmöglich, von Menschen wie über Objekte zu sprechen bzw. sie wie Objekte zu behandeln, ohne dabei ihr Menschsein zu leugnen. Dies verlangt eine neue Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Bedingtheit durch die gesellschaftlichen Verhältnisse und der subjektiven Selbstbestimmung der Individuen. Dazu kann die Unterscheidung von Prämissen und Handlungsgründen hilfreich sein. Menschliches Verhalten ist nicht völlig freischwebend, sondern ist eingebunden in Prämissen, die sich in institutionell-gesellschaftlichen Verhältnissen zeigen. Diese bestimmen grundlegende Bedeutungskonstellationen und Handlungsmöglichkeiten. Sie wirken aber nicht direkt und unmittelbar auf das Verhalten der Menschen ein. Menschen sind – wegen der oben diskutierten spezifischen Möglichkeitsbeziehung – nicht direkt gezwungen dies oder jenes zu tun, sondern sie verhalten sich als Subjekte bewusst dazu und erst aus dieser Verarbeitung entstehen subjektive Handlungsgründe. Handlungsgründe sind je individuelle, subjektiv bestimmte Gründe, sie sind für das Individuum "subjektiv funktional", d.h. sie machen für diese Person tatsächlich einen Sinn, auch wenn dieser von außen nicht ersichtlich sein sollte. Subjektiv funktional sind auf diese Weise Handlungen für das Individuum unabhängig davon, ob sie in Richtung verallgemeinerter oder restriktiver Handlungsfähigkeit ausgerichtet sind.

Obgleich die Handlungsgründe je individuell sind, ist es möglich, dass sich die Menschen gegenseitig verständlich machen können, denn sie alle haben Erfahrungen mit dem "bewussten-Verhalten-zu" ihren Möglichkeiten und den Prämissen, in denen und denen gegenüber sich sie auf je individuelle Weise verhalten. Auf diese Weise kann durch intersubjektive Verständigung auch eine Entschlüsselung gesellschaftlicher Prämissen erfolgen (vgl. die Methode der Erinnerungsarbeit nach Frigga Haug (Haug 1999 und 2001).

Zur Problematisierung des "Selbst" siehe http://www.thur.de/philo/kp/ich.htm
siehe Verwendung dieser Begriffe für die Themen: Lernen und "Erziehung"

Lernen der gesellschaftlichen Menschen

Was bedeutet nun dieses gesellschaftliche Sein für das Lernen der menschlichen Individuen? Menschen können nicht leben, ohne zu lernen. Ihre Welt ist schon durch die eigenen Handlungen ständigen Veränderungen unterworfen, die für das Individuum zu Lernanforderungen werden. Lernen wird zum Teil der individuellen Vergesellschaftung (wobei "individuelle Vergesellschaftung" die auf Subjektaktivitäten bezogene Bezeichnungsform für diejenigen Prozesse ist, die auch als "Sozialisation" des als Objekt gedachten Individuums bekannt ist (vgl. Schlemm 2004))

siehe dazu http://www.thur.de/philo/kp/erziehung.htm

Lernen führt in der individuellen Entwicklung (Ontogenese) dazu, eine stets wachsende personale Handlungsfähigkeit zu erreichen, d.h. eine Erhöhung der Teilhabe an der Verfügung über individuell relevante gesellschaftliche Lebensbedingungen als Erhöhung der subjektiven Lebensqualität (Holzkamp 1987: 170). Ein Ziel des Lernens ist dabei das immer weitergehende Durchschauen und Beherrschen der eigenen Lebensumstände, wobei die Lebenszusammenhänge nicht als natürliche, sondern als gesellschaftliche und historisch entstandene und somit veränderbare begriffen werden können (Seidel, Ullmann 1977: 152). Diese Lernform wäre der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit zuzuordnen. Es geht hier um das Lernen der Möglichkeit des Überschreitens der Handlungsmöglichkeiten, es geht um das Erlernen des begreifenden Denkens (begreifendes Denken ist im Unterschied zum deutenden Denken die zur verallgemeinerten Handlungsfähigkeit gehörende Denkform, vgl. Holzkamp 1985: 386ff.) und es geht um Kreativität (Bedingungen in Frage stellend Neues entwickeln). Der restriktiven Handlungsfähigkeit unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen (dazu im nächsten Punkt mehr) entspricht ein Lernen der eingeschränkten Verhaltensmöglichkeiten, das Lernen des deutenden Denkens, das Lernen von Problemlösungen innerhalb als gegeben akzeptierter Bedingungen und das lernende Erkunden der gegebenen Bedingungen.

Kinder sind noch nicht vollständig in die gesellschaftliche Lebenswelt eingebunden, sie müssen sich gesellschaftliche Bedeutungszusammenhänge erst aneignen. Ihre Motivation besteht primär darin, die Ausgeliefertheit an diese Bedingungen und Zusammenhänge zu vermindern, indem sie ihre personale Handlungsfähigkeit ausweiten (Holzkamp 1985: 436, 475). Wenngleich für Erwachsene die für Kinder noch vorhandene Diskrepanz zwischen schon erfahrener und möglicher Gesellschaftlichkeit nicht mehr bestimmend ist, so endet für Menschen das Lernen nicht mehr notwendigerweise mit der Kindheit und Jugend. Es gilt nicht: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr."! Menschliche Handlungsfähigkeit kann auch im Erwachsenenalter immer weiter anwachsen, die Teilhabe an der Verfügung über relevante gesellschaftliche Lebensbedingungen kennt keine "natürlichen" Grenzen.

Für Klaus Holzkamp setzen Lernprozesse vor allem dann ein, wenn ich in meinen Handlungen nicht mehr weiter komme, wenn ich ohne Lernen keine qualitativ neuen Modi der Realisierung von Handlungsmöglichkeiten finde (Holzkamp 1987: 178). Seiner Meinung nach wird eine besondere "Lernschleife" ausgeführt, in der die benötigten Voraussetzungen angeeignet werden, damit dann die Handlung weiter geführt werden kann (Holzkamp 1996: 268).

Der Subjektstandpunkt der Kritischen Psychologie zeigt sich in ihren Lernkonzepten darin, dass nicht nur – wie in Reformschulkonzepten – die SchülerInnen als Subjekte zum Gegenstand der Überlegungen machen, sondern dass jene, die sich mit Lernen beschäftigen, selbst den Subjektstandpunkt einnehmen (Holzkamp 1991: 197). Holzkamp verwendet dazu u.a. seine eigenen Lernerfahrungen und nimmt Erfahrungen anderer diesbezüglich auf. Er zielt damit eine "Lerntheorie vom verallgemeinerten Standpunkt des Subjekts aus" an. Frigga Haug denkt weiter: "Unter solchen Voraussetzungen erwartet man, dass subjektive Lernerfahrungen das zentrale Forschungsmaterial werden" (Haug 2003: 126). Sie bezieht mit der Auswertung selbst erarbeiteter Lerntagebücher Lernende selbst als Forschende mit ein (über weitere Unterschiede siehe Haug 2003).

Lernen im Kapitalismus

Die genannten allgemeinen Aussagen über das Lernen von Menschen beziehen sich von vornherein auf das gesellschaftliche Sein der Menschen. Gesellschaft ist aber immer eine konkrete historisch entstandene. Da wir in der kapitalistischen Gesellschaftsform leben, müssen wir diese konkreten Bedingungen in unsere Überlegungen einbeziehen (ehemalige DDR-BürgerInnen können mit Hilfe der hier entwickelten Begrifflichkeit durchaus auch über ihr Leben in der damaligen Gesellschaft reflektieren).

Unter bürgerlich-kapitalistischen Bedingungen sind die Menschen von der bewussten gemeinsamen Verfügung über ihre eigenen Angelegenheiten ausgeschlossen (Holzkamp 1983: 139). Die Reproduktion des individuellen Lebens ist nur möglich unter Bedingungen, in denen jeder Produzent in Konkurrenz zum anderen steht (als Unternehmer wie als Arbeitskraftverkäufer). Die Durchsetzung individueller Interessen kann unter diesen Bedingungen immer nur bedeuten, die Interessen anderer zu beschneiden. Wir werden in Feindschaft untereinander gedrängt; gleichermaßen schaden wir damit unseren eigenen Interessen, die es erfordern würden, gemeinsam unsere Verfügung über die Lebensbedingungen auszuweiten und qualitativ zu entwickeln. Aber auch diesen Bedingungen sind wir nicht nur ausgeliefert, sondern wir können uns ihnen gegenüber bewusst verhalten. Wir haben die Möglichkeit, uns auf den gegebenen Spielraum einzuschränken (restriktiv), oder die zweite Möglichkeit, (verallgemeinert) darauf hin zu arbeiten, die Spielräume tendenziell auszuweiten. Welche der Möglichkeiten genutzt wird, hängt von der subjektiven Funktionalität der Handlungsweise für die/den Einzelnen ab. Einerseits hat das Individuum die Möglichkeit sich auch "gegen alle Welt" z.B. bewusst widerständig wenigstens geistig distanziert zu verhalten, andererseits kann es darauf abzielen gesamtgesellschaftliche Bedingungsänderungen zu bewirken. "Dazwischen" kann es innerhalb der gesamtgesellschaftlich gegebenen Strukturen auch kleinere Netzwerke nutzen oder mit entwickeln, die seine und andere Lebenslagen schon so weit verändern können, dass das bewusste Verhalten in Richtung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit leichter fällt.

Das Lernen unter bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen unterliegt besonderen Problematiken. Weil das einzelne Individuum in einer kapitalistischen Warenproduktion nur als konkurrierendes (um Warenverkauf oder Arbeitskraftverkauf) auftritt, wirkt die gesellschaftliche Gesamtheit auf ihn nur in dieser gebrochenen, entfremdeten Form und vorrangig diese erfährt er als Prämisse seines Handelns. Deshalb sind ihm die Verhaltensweisen der restriktiven Handlungsfähigkeit besonders nahe gelegt.

Die Institution Schule – Schule und Macht

Defensives und Expansives Lernen

Auch die gesellschaftlichen Verhältnisse sind so strukturiert, dass Lernen vorwiegend als Vorgang auftritt, bei dem folgende Einschränkungen gelten:

  • Durch die Einbindung in Machtkonstellationen ist die Schule als Institution von Beginn an vereinnahmt (nach Foucault). Bei diesen Machtkonstellationen geht es um "strategische Zurüstungen zur Kontrolle ohne direkte Machteinwirkung, was dadurch möglich wird, daß die Strategien quasi durch die Betroffenen hindurch wirken, d.h. diese im naheliegenden eigenen Interesse die Kontrolle hinnehmen oder sich daran beteiligen, damit aber gleichzeitig jene disziplinären Kontrollmechanismen aufrechterhalten, denen sie wiederum selbst unterworfen sind." (Holzkamp 1992: 216)
  • In der Schule wirkt deshalb eine Widersprüchlichkeit der Unterwerfung unter disziplinäre Prozesse und dem gleichzeitig vertretenen Erziehungsanspruch zur "relativen Autonomie".
  • Die Einbindung der Schule in Machtkonstellationen zeigt sich vorrangig darin, dass nicht mehr die Standeszugehörigkeit, sondern der Schulerfolg zum Türöffner für Berufs- und Lebenschancen wird. Scheinbar ist diese Zuweisung "leistungsgerecht", ist aber letztlich nur eine "gerechte Zuweisung ungleicher Lebenschancen" (Holzkamp 1992: 217).
  • Als Subjekte des Lernens werden weniger die Lernenden angesehen, sondern die Lehrenden. Dies nennt Holzkamp "Subjekt-Objekt-Verkehrung" (Holzkamp 1987: 166)
">>Lernen<< findet dieser Vorannahme gemäß in einem irgendwie relevanten Sinne nur so weit statt, wie die Voraussetzungen dazu von den Lehrenden im >>Unterricht<< organisiert worden sind." (ebd.: 165). Das Eigeninteresse der SchülerInnen wird ausgeklammert oder gar als Störfaktor behandelt (ebd.: 166,

"Wenn man von außen (quasi mit dem ethnologischen Blick) auf das Ganze schaut, hat man den Eindruck, daß SchülerInnen in der Schule eher stören. Die Schule würde besser funktionieren und das Ergebnis wäre für alle befriedigender, wenn sie nicht da wären. Weil ihre Anwesenheit in der Schule nun aber unumgänglich ist, muß man diesen Störeffekt möglichst kleinhalten. Also etablierte man zur Schadensbegrenzung das umfassende Kontrollsystem, wie wir es heute in verschiedenen Varianten vorfinden: Angefangen von der Anwesenheitskontrolle, dem Verbot, seinen Platz oder den Raum zu verlassen, über das Versetzungssystem und die Zensurengebung bis zu den mannigfachen in den Unterricht selbst eingebauten Kontrollmaßnahmen." (Holzkamp 1991: 196)

Es wird "so getan, als ob es im Unterrichtsprozess nur ein Subjekt, nämlich den Lehrer oder die Lehrerin gibt, und als ob diese in ihren Lehraktivitäten gleichzeitig das Subjekt der Lernaktivitäten der SchülerInnen wären" (Holzkamp 1996: 257). Diese Vorstellung des "Lehrlernens" oder der "Lehrlernentsprechung" nennt Holzkamp auch Lehrlernkurzschluß.

Wohin fährt der "Bildungs-Bus"?

Angesichts der viel weiter reichenden Dimension menschlichen Lernens in Richtung der individuellen Aneignung höchstmöglicher personaler Handlungsfähigkeit ist die Schule sogar als Ort der "Verwahrlosung der Lernkultur" (Holzkamp 1992: 234) anzusehen. Unter solchen Bedingungen ist es fast nur möglich, defensiv zu lernen. Es geht nur darum, Nachteile oder Bedrohungen abzuwenden, die unmittelbaren Anforderungen zu bewältigen (Holzkamp 1991: 199) – also z.B. nur zu pauken, um schlechte Noten zu vermeiden und durch die Schulzeit zu kommen. "Unter subjektiv und objektiv schwierigen Bedingungen gerät es für Menschen zur Gewohnheit, lernwiderständig zu sein. Dies ist für die Konservierung menschenunwürdiger Zustände eine praktische Haltung, die ich Versteinerung genannt habe." (Haug 2003: 71) Die zweite Möglichkeit, der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit entsprechend, ist das expansive Lernen. Es ist sachinteressiert, folgt eigenen positiven Gründen; die Lernanforderungen sind im eigenen Interesse, weil das zu-Lernende für das lernende Individuum nützlich oder wissenswert ist (Holzkamp 1991: 199). Diese beiden Formen möglichen Lernens sind natürlich nur Idealtypen, die typische Reaktionsweisen auf die gegebenen entfremdenden Prämissen kennzeichnen; im realen Lernen gibt es vielfältige Mischformen.

Widerständiges Lernen - Lernwiderstände

Vom Lernen "als" Widerstand zum Lernen "von" Widerstand

Unter den gegebenen Bedingungen/Prämissen ist es recht unwahrscheinlich, dass expansives Lernen gegen defensives entwickelt und aufrecht erhalten wird. Deshalb werden Verhaltensweisen, die als "widerständiges Lernen" bezeichnet werden, ein großes Problem für engagierte PädagogInnen und Eltern. Wir haben gezeigt, dass solches Verhalten unter den gegebenen Bedingungen fast notwendigerweise bevorzugt entsteht. Es zeigt sich u.a. durch Zurückgenommenheit, Unengagiertheit und Halbherzigkeit (Holzkamp 1987: 161).

Lern-Widerstände

Was können wir nun tun? Wir können die Widerstände nicht wegtherapieren, wir können sie nicht moralisierend verwerfen, wir können nicht so tun, als würden sie unter diesen Bedingungen nicht nahegelegt sein. Was wir tun können ist, "entwickeltere Lernformen" zu entwickeln, "in welcher widersprüchliche Lerninteressen so reflektiert und verarbeitet werden, daß sie nicht mehr den Lernprozeß selbst beeinträchtigen" (Holzkamp 1987: 162). Das ist natürlich für Kinder, die selbst die gesellschaftliche Prämissenlage noch nicht voll durchschauen können, weil sie aufgrund ihrer geringen Lebenserfahrungen und ihrer eingeschränkten gesellschaftlichen Funktionen noch nicht vollständig in die gesellschaftliche Vermitteltheit eingebunden sind, nur in Ansätzen möglich. Allerdings bietet eine unterstützte Reflexion über ihre Erfahrungen im Schulsystem gerade jene Ansatzpunkte für sie, die Problematik der Prämissen verstehen zu lernen. Es kommt darauf an, nicht ihr Verhalten als veränderungsbedürftig zu thematisieren (in Richtung "Anpassung" und "gut durchkommen"), sondern ihre Widerständigkeit sogar zu unterstützen, in dem ihnen Hilfestellung gegeben wird zu verstehen, warum ihre Widerständigkeit für sie so viel Sinn macht – dass nicht sie falsch damit liegen, sondern dass sie über diese Erfahrung lernen, die Prämissen, unter denen sie leben müssen, in Frage zu stellen. Das Lernen "als" Widerstand kann sich dann entwickeln zu einem Lernen "von" Widerstand (Holzkamp 1987: 172, 190).

Holzkamp diskutiert Ansätze dazu im Konzept des partizipativen Lernens (Holzkamp 1991: 209), in dem statt detaillierter Handlungsvorschriften Gelegenheiten zum Handeln gegeben werden. Die Schule ist als konkreter, kontextgebundener Bestandteil der Lebenspraxis der SchülerInnen zu gestalten, die Lerngegenstände wie Musikmachen oder mathematisch denken zu lernen werden nicht als zu lernender Gegenstand vorgesetzt, sondern als Gelegenheit zu eigener teilnehmender Praxis bereit gestellt (ebd.: 210-211).

Antonio Gramsci entwickelt Gedanken einer "Einheitsschule", in welcher dem "Kind unter der Kontrolle des Lehrers gleichzeitig den Kontakt mit der menschlichen Geschichte und mit der Geschichte der >Dinge< vermittelt" wird (Gamsci 2004: 167). Als Krönung der aktiven Schule nennt er die kreative Schule, in der "das Lernen insbesondere durch eine spontane und selbständige Anstrengung des Lernenden erfolgt, bei der der Lehrer nur eine Funktion freundschaftlicher Anleitung ausübt" ebd.: 178). Kreation meint: "von sich aus, ohne Ratschläge und fremde Hilfe die Wahrheit entdecken" (ebd.). Gramsci betont jedoch, dass es notwendig ist, eine Einheit von Schule und Leben zu entwickeln, denn "das Bewusstsein des Kindes ist [...] die Widerspiegelung des Ausschnitts der Zivilgesellschaft, an dem das Kind teilhat" und die vorherrschenden zivilen und kulturellen Verhältnisse weichen ab und stehen im Widerspruch zu dem, was in den Lehrplänen vertreten wird (ebd.: 182).

Frigga Haug ergänzt die Überlegungen von Holzkamp dadurch, dass sie als Lernwiderstand auch bisherige Lerninhalte, die sich verfestigen können, und liebgewonnene Gewohnheiten ausmacht. Auch der Stolz darauf, in seiner Entwicklung beim Lernen schon voran gekommen zu sein, sich bestimmte Kenntnisse erarbeitet zu haben, kann einen durchaus festhalten auf dem erreichten Niveau und dazu führen, Verunsicherungen, die vielleicht noch weiter bringen könnten, eher abzuwehren. Lernen ist immer auch ein Verunsicherungsprozess. Bisherige Gewissheiten werden kritisiert, um aufgehoben (negiert, aufbewahrt, höher gehoben) werden zu können. Diese (Selbst-)Kritik gehört zum Lernen dazu, und sie auszuhalten ist nicht leicht. Hier kann ein gutes Lernkollektiv mit vertrauensvoller und offener Atmosphäre extrem hilfreich sein (siehe hierzu besonders Haug 2003: 159ff.; vgl. auch Zukunftswerkstatt Jena). Manchmal stoßen kollektive Lernbemühungen auch auf grundsätzliche Probleme, die damit zu tun haben, dass die Teilnehmenden nur Teilausschnitte des gesellschaftlichen Lebens teilen, dass ihnen eine gemeinsame Praxis fehlt.

Das Lehren und die Lehrenden

Diese Überlegungen zu einem die Prämissenprobleme berücksichtigenden Lernen führen nicht zu einem völligen Heraushalten der Lehrenden, sondern diese bringen sich als Individuen mit ihren eigenen Denkweisen, Meinungen, ihrem eigenen Können und eigenen Lernprozessen in die gemeinsame Arbeit ein. Auf diese Weise wird das Problem, das Lehren häufig als "Eintrichtern" verstanden und berechtigt abgelehnt wird, nicht durch das Gegenteil, das ein völliges Freilaufenlassen, ein völlig freies "Sich-selbst-bestimmen" bedeuten würde, gelöst. Das Kind ist kein Garnknäuel, dem der Lehrer nur noch beim Faden abwickeln helfen müsste (Gramsci 2004: 167).

Die Vorstellung, Menschen würden aus sich heraus, aus ihrem "Selbst" einfach das Richtige tun, wenn man sie nur ließe, vergisst, dass das "Selbst" jedes Menschen unter den gegebenen Bedingungen in sich durchzogen ist von den Machtstrukturen, es ist nicht "unschuldig", sondern von vornherein den gesellschaftlichen (de-)formierenden Einflüssen ausgesetzt. Es ist deshalb wichtig, dieses "Selbst" selbst zu thematisieren Das "bewusste-Verhalten-zu" ist auch gegenüber dem eigenen Selbst entwicklungsnotwendig.

siehe: "Was passiert mit dem "Selbst"?

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik referiert eine Ansicht, nach der es die Aufgabe des Erziehers ist, "den Heranwachsenden durch das Andere der Welt herauszufordern und zur nächsten Reflexionsstufe zu führen und so einen Auseinandersetzungsprozeß in Bewegung zu setzen und zu halten, der es dem Heranwachsenden ermöglicht, sich selbst zu finden und zu verwirklichen" (Schmied-Kowarzik 1982: 180). Dies betont im Sinne Hegels die Eigenaktivität des sich am Anderen bildenden Geistes. Schmied-Kowarzik ergänzt, dass Sinn und Anspruch der konkret gegebenen Wirklichkeit dem Einzelnen vorausgesetzt sind, so dass die Bildung nicht nur eine Bewegung vom Geist in Richtung Welt ist, sondern eine Vermittlungsbewegung (ebd.: 181).

Frigga Haug nähert sich der Frage der Rolle der Lehrenden auch über die eigene Erfahrung. "Meine Lust galt der Möglichkeit, eine Einführung in eine Welt voller Fragen zu geben, in der ich einige Antworten wusste und in der ich aufgefordert wurde, selbst stets neue Räume zu finden, auf Erkundung zu bleiben." (Haug 2003: 42) Indem sie anderen eine Einführung in die Welt gibt, bleibt sie selbst immer auf Erkundung. Lehren wird dabei zur Unterstützung der Befähigung zur kritischen Erkundung von Welt und Gesellschaft (ebd.: 46). Dabei soll eine kritische Lernhaltung ermöglicht werden und es können Wissensbestände sowie Methoden der Aufschlüsselung von Welt vorgeschlagen werden (ebd.: 46). Ein wichtiger Ansatzpunkt gegenüber dem Lernwiderstand der Gewohnheiten ist es, von den Erfahrungen ausgehend, diese vertiefend zu hinterfragen, in Widersprüche zu führen, quasi gezielt Krisen herbeizuführen (ebd.: 59, 65), die dazu motivieren, lernend mehr Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Dieses "Erfahrungen in Widersprüche führen" ist natürlich für die Lehrenden selbst riskant, denn manche Menschen könnten starke Abwehr dagegen auf die Lehrenden abladen. Auch dies ist ein starker Hinweis darauf, dass Lernen nur funktioniert, wenn die Lernenden ein eigenes sachlich-inhaltliches Interesse an dem Lernstoff mitbringen und sich deshalb nicht "genötigt" fühlen. Für die Lehrenden ist es erforderlich, sich selbst in Frage zu stellen und reflektiert mit den eigenen Erfahrungen umzugehen. Sie brauchen ein Wissen um die besonderen Fähigkeiten der Abwehr und des Verdrängens (ebd.: 66) und sie müssen mit dafür sorgen, dass ein Umfeld geschaffen wird, in denen die Einzelnen sich verändernd lernen können (ebd. 100). Dieses sollte grundsätzlich gerade nicht dem "Modell Schule" nachgestaltet werden.

Verschiedene Fragestellungen

Lernen und Arbeit

Der Subjektstandpunkt in der Kritischen Psychologie beruht auf der Vorstellung von der "spezifischen Möglichkeitsbeziehung", d.h. der Existenz einer "zweiten Möglichkeit" für jedes Individuums innerhalb des gesellschaftlich vermittelten Lebens. Das Individuum steht zwar unter Bedingungen, aber erzeugt werden diese Bedingungen im gesellschaftliches Leben. Auf diese Weise ist der Subjektstandpunkt an die gesellschaftliche Arbeit gebunden.

Frigga Haug fragt – bezogen auf die Lerntheorie – noch genauer nach:
"Müsste eine Lerntheorie nicht vom arbeitenden Subjekt ausgehen, noch bloß vom Subjekt, welches ja für sich genommen eine idealistische Erfindung wäre?" (Haug 2003: 283). Sie benennt Erfahrungen aus dem Projekt "Automation und Qualifikation". Demnach erfordern Hochtechnologie und mikroelektronische Prozesssteuerung das Einnehmen eines "gesamtgesellschaftlichen Standpunkts" (ebd.: 270). Dabei betont sie, dass ein neuer Widerspruch entsteht, nämlich jener zwischen der "Dimension der Entwicklung der Handlungsfähigkeit bei den Arbeitenden und [der] Dimension ihrer Integration in das System privatwirtschaftlicher Produktion" (ebd.: 272). In einer neueren Arbeit, die die aktuellen Entwicklungen in der Entwicklung der Produktivkräfte und der Organisationsformen der Arbeit untersucht, wird vom "Widerspruch zwischen Selbstentfaltungsbedürfnissen und dem Zwang zur Verwertung unter dem Diktat der Profiterwirtschaftung" (Schlemm, Meretz 2000) gesprochen. Die Brisanz dieser Erkenntnis ist noch ungenügend ausgewertet.

In der Arbeitswelt selbst macht sich – neben allen sozialpolitischen Verwerfungen, die das Klassenkampfdenken wieder aufleben lassen – folgende Problematik bemerkbar: Die Widersprüche der kapitalistischen Konkurrenz gelangen an den Arbeitsplatz und damit in die Person jeder/s Einzelnen. Schon im Arbeitsablauf hängen die Arbeitenden voneinander immer unmittelbarer ab. Unter den gegebenen Bedingungen liegt eine Personifizierung der gegebenen Grundproblematik immer sehr nahe und setzt sich im allgemeinen auch ziemlich widerstandslos durch. Das zunehmende Mobbing ist nur eine überdeutliche Erscheinungsform davon. Das Leiden an diesen Erscheinungen erfordert es bzw. gibt die Möglichkeit, kritisch-psychologische Erkenntnisse zum Begreifen und Durchschauen der Zusammenhänge bereit zu stellen, um aus dem Leiden und den damit verbundenen Verdrängungen heraus zu kommen und Kraft zu gewinnen, die Prämissen und gesellschaftlichen Bedingungen grundsätzlich in Frage zu stellen.

Lernmotivationen

Als Hintergrund der Lernmotivation bei Tieren hatten wir den Bedarf nach Umwelterkundung und den Bedarf nach sozialer Absicherung und Orientierung erkannt. Für Menschen verändert sich die Bedürfnislage qualitativ und bezieht sich auf die Erhaltung und Erweiterung der Handlungsfähigkeit, d.h. die "Verfügung des Individuums über seine eigenen Lebensbedingungen [...] als Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß" (Holzkamp 1985, S. 241). Die Motivation für das menschliche Lernen ergibt sich für Holzkamp aus einer jeweiligen "Distanz zwischen den im Lerngegenstand beschlossenen und den "schon" vom Individuum realisierbaren Handlungsmöglichkeiten" (Holzkamp 1987: 175).

Nach Frigga Haug gehört das Lernen und die Lust daran zur menschlichen Grundausstattung (Haug 2004). Sie meint das aber nicht in dem Sinn, dass sich die Lernmotivation auf eine natürliche Triebstruktur zurückführen ließe, sondern sie ist immer auf das gesellschaftliche Sein der Menschen zu beziehen. Lernmotivationen ergeben sich nach Frigga Haug vor allem aus den Widersprüchen des Lebens selbst und Lernen selbst keine komplikationslose Strategie, wie das Holzkampsche Lernkonzept in der Herausnahme der Lernschleife aus der umfassenden Handlung anzunehmen scheint. Da jedoch häufig die Neigung vorliegt, Widersprüche zu glätten, innere Widersprüche zu verdrängen oder nach einer Seite hin aufzulösen, kommt es darauf an, diese Widersprüche deutlich zu machen und dies auch im weiteren Verlauf durchzuhalten.

Wenn ich mich nun wiederum aus meiner eigenen Erfahrung frage, was meine Lernprozesse wesentlich motiviert, so lassen mich beide Vorschläge, der von Holzkamp (Lernen, um angestrebte Handlung realisieren zu können) und der von Haug (Lernen durch Widersprüche) doch etwas hilflos zurück. Vieles von dem, was ich mir z.B. im Bereich der Wissenschaftstheorie aneigne, brauche ich für keinerlei Handlungen. Auf der Grundlage von bereits vollzogenen Teillernschritten seit meiner ersten Lektüre solcher Themen mit vielleicht 15 Jahren haben mich auch nicht primär Widersprüche veranlasst, im Lernprozess weiter voran zu schreiten. Obwohl ich gelernt habe, dass biologische Bedarfsgrundlagen nicht einfach auf Menschen übertragbar sind, sondern durch die gesellschaftliche Existenz der Menschen qualitativ verändert werden, scheint bei mir eher eine direktere Nachfolge zum Neugier- und Explorationsverhalten und Bedarf nach sozialer Absicherung und Orientierung vorzuliegen. Ich wollte verstehen, "was die Welt im Innersten zusammen hält" – wie die Elementarteilchen und der Kosmos zusammenhängen und später auch, wie die Gesellschaft funktioniert. Aber ich wollte es nicht direkt im Zusammenhang mit konkreten Handlungserfordernissen und ich war nicht durch Widersprüche zum Lernen motiviert. Grundlage für meine sich bis hin zur Wissenschaft erstreckenden Lern- und Forschungsbemühungen waren gerade nicht eine widersprüchliche Lebenspraxis oder ohne Lernen unüberwindliche Handlungsanforderungen, sondern ein besonders gut abgesichertes Lebensumfeld (in der DDR) und eine Lebensweise, die für ein "normales" Fortkommen langweiligerweise nach der Lehrzeit eher kein ständiges Lernen mehr zu erfordern schien.

Kritik im Lernprozess

Frigga Haug betont, dass es zwar durchaus noch Unterschiede im Fach- und Methodenwissen zwischen Lernenden und Lehrenden gibt, dass aber alle Lerninhalte gleichzeitig kritisch angeeignet werden müssen. Auf der Grundlage, dass es sowieso keine direkte Weitergabe von Wissen durch Lehrende an Lernende gibt (dies war lehrlernkurzschlüssig von anderen angenommen worden), wird das zu Lernende beim Lernen immer auch aktiv verändert (Haug 2003: 258). Lernen ist deshalb gleichermaßen als Forschungs- und Gestaltungsprozess zu betrachten (ebd.).

Angesichts der bereits diskutierten nahegelegten Lernwiderstände wird hier aber zu unterscheiden sein: Einerseits führt expansives Lernverhalten auf Grundlage eines sachintensionalen Interesses sicher zur Fähigkeit, in der Kritik den Lerngegenstand nicht zu vernichten. Um Kritik als sachangemessene Beurteilung (Röttgers 1999: 739) durchführen zu können, muss die Angemessenheit an die Sache gewährleistet sein. Dies nicht für alle Kritikformen selbstverständlich. Auch "entlarvende" Kritik wird häufig geübt, das Anliegen, die Sache eines als Lerngegenstand vorgeschlagenen Themas wird von vornherein abgelehnt. Im günstigsten Fall wird diese Ablehnung auch noch begründet, beispielsweise mit der abgelehnten vermuteten ideologischen Funktion des vorgeschlagenen Gegenstands oder anderen außerhalb der Sache des Gegenstands selbst liegenden Gründen. Diese Art von Kritik wird von Karl Mannheim "Enthüllung" genannt (Mannheim 1925: 315).

Ich denke, diese beiden Formen von Kritik sind mindestens zu unterscheiden, weil sie ein unterschiedliches Vorgehen erfordern.

Besonders kompliziert wird dies, wenn der Gegenstand des Lernens ein wissenschaftlicher ist. Sache der Wissenschaft ist es, hinter oft nur erscheinenden Phänomenen zum Wesen der zugrunde liegenden Zusammenhänge vorzudringen, denn "alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen [...] (Marx Kap. III: 825). Wissenschaft ist keine Fortführung des Alltagsverstandes, sondern kann ihr scheinbar direkt widersprechen. Die klassische Mechanik geht nicht von ruhenden Körpern aus, die dann "angestoßen" werden – wie wir sie im Alltag kennen – , sondern sie setzt voraus, dass alle kräftefreien Körper sich solange auf einer geradlinig-gleichförmigen Bahn bewegen, bis sie von Kräften positiv oder negativ beschleunigt werden (Galileisches Trägheitsprinzip wurde als erstes Newtonsches Axiom in die Klassische Mechanik eingebaut). Solch einen kräftefreien Körper gibt es nicht. Obwohl beispielsweise möglichst ebene Schiefe Ebenen zum Experimentieren gebaut werden, "sieht" jeder Mensch alltäglich, dass Körper üblicherweise schnell zum Ruhen kommen, wenn sie nicht zusätzlich angestoßen werden. Der wissenschaftliche Blick auf die Welt widerspricht dem alltäglichen, sonst kann sie ihre Aufgabe (z.B. Ortsbewegungen mess- und berechenbar zu machen) nicht erfüllen. Hier ist Kritik natürlich wenig sachangemessen, wenn sie sich beispielsweise auf die "offen sichtlichen" Alltagserfahrungen beruft, ohne sich auf die Sache selbst einzulassen. Die Sache ergibt erst konkrete Kriterien für Kritik.

Kritik ist also nicht per se, als abstrakte Ablehnung sinnvoll. Auch Frigga Haug betont, dass wir es lernen müssen, die verschiedenen Schichten des Alltagsbewusstseins, die teils vorwissenschaftlich, je verschiedene Massenkultur entsprechend, teils wissenschaftlich geformt sind, kohärent zu arbeiten (Haug 2003: 56). Auf dieser Grundlage kann dann auch jeder Gegenstand, jede Sache selbst begründbar kritisiert werden.

"Wissenschaftliches Arbeiten ist wesentlich Kritik. Sie setzt Verständnis eines Textes, einer Theorie voraus; die Überprüfung als unterscheidende Beurteilung von Vorstellungen und Vorgestelltem; eigenes Denken, auch als Fähigkeit, Unterschiede zu machen; den Vergleich; Aufheben, was wichtig ist; weitergehen, wo nicht genug gegangen wurde, und Korrektur. Kritik verbindet Erkenntnis mit Praxis, Denken mit Handeln." (Haug 2003: 162)

In kollektiven Lernprozessen können einerseits unterschiedliche Kenntnisniveaus angeglichen werden, die Kritik ist durch gegenseitiges Lehren und Lernen quasi "eingebaut", aber immer wieder werden Probleme auftauchen, wenn einerseits Vorwissen nötig ist, um in eine angemessene wissenschaftlich Diskussion einzusteigen (vgl. Haug 2003: 197) und andererseits von Anfang an Kritik gepflegt wird.

 

Literatur

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Haug, Frigga (2001): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag. (Erstausgabe 1990)
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Zukunftswerkstatt Jena. In Internet: http://www.zw-jena.de.

Fotos: vom Seminar "Lernverhältnisse" in Hütten und dem Seminar zur Kritischen Psychologie in Blankenburg im Juni 2004

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