Was macht das Menschsein aus?

Gesellschaftlichkeit –Bewusstheit - Handlungsfähigkeit
– die zweite Möglichkeit - Subjektivität - Handlungsgründe

Aus dem Text zum Lernen

Sobald sich das gesellschaftliche Leben als Grundlage der individuellen Reproduktion als dominierend herausentwickelt hat, d.h. sobald die biotischen Faktoren von Mutation und Selektion nicht mehr die Entwicklung bestimmen, sondern die Art und Weise der Produktion, besteht die menschliche Spezifik darin, dass die Individuen nicht mehr unmittelbar bzw. nur über ihre Sozialgruppe ihr Leben reproduzieren, sondern ihre individuelle Reproduktion ist über die Gesamtgesellschaft vermittelt – die Unmittelbarkeit ist durchbrochen, gesellschaftliche Vermittlung ist wesentlich. Durch gesellschaftliche Reproduktion werden die Reproduktionsbedingungen selbst auch aktiv verändert – auch dies unterscheidet die Gattung Mensch von den nur biotischen Lebewesen. Menschen sind also einerseits von den jeweils gegebenen Lebensbedingungen abhängig, andererseits verändern sie diese auch aktiv und (mehr oder weniger) bewusst. Durch die gesellschaftliche Vermittlung geschieht noch etwas Wichtiges: Zwar ist es notwendig, dass die gesellschaftliche Reproduktion im Ganzen gesehen funktioniert. Aus den gesellschaftlichen Handlungsnotwendigkeiten leitet sich aber nicht unmittelbar ab (wie noch beim Sozialen), was das einzelne Individuum notwendigerweise zu tun hat. Diese gesellschaftlichen Handlungsnotwendigkeiten sind für ihn nur Möglichkeiten, denen gegenüber er sich bewusst verhalten kann. Das "bewusste-Verhalten-zu" kennzeichnet eine Distanzmöglichkeit im Denken und auch im Verhalten, die Tieren noch nicht möglich ist. Es entsteht eine spezifische Möglichkeitsbeziehung des Menschen gegenüber der Welt. "Das Tier ist durch seine Umwelt, seine Instinkte und Triebe in seinem Verhalten von Natur aus festgelegt, des menschliche Handeln dagegen muß erst in Richtung und Maß bestimmt werden." (Schmied-Kowarzik 1969: 27). Jeder Mensch, auch der Isolierteste, lebt gesellschaftlich, weil seine Reproduktion in die gesellschaftliche Reproduktion eingebunden ist und er ist insoweit handlungsfähig, wie er die Möglichkeit hat, über die Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess seine eigene Existenz zu reproduzieren (Holzkamp 1985: 241). Diese Teilhabe und damit die Handlungsfähigkeit kann verschiedene Formen annehmen. Geht es darum, die Lebensbedingungen insgesamt gemeinsam zu kontrollieren (Holzkamp 1984: 397) bzw. die gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten gemeinsam zu erweitern (Holzkamp 1985: 2), so kann von verallgemeinerter Handlungsfähigkeit gesprochen werden. Wird diese Möglichkeit nicht aufgegriffen (was nicht negativ zu beurteilen, sondern höchstens im konkreten Fall zu verstehen ist), so kann die Möglichkeit der Überschreitung der jeweils gegebenen Teilhabebeschränkungen auch negiert oder geleugnet werden. (ebd.: 385). Diese Form der Handlungsfähigkeit wird restriktive Handlungsfähigkeit genannt und angesichts gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Gewohnheiten ist sie – vor allem unter kapitalistisch-bürgerlichen Verhältnissen – die nahegelegte, die "normale" Form. Der Erhalt der Handlungsfähigkeit bzw. ihre Ausweitung bestimmt die Hauptbedürfnisse der Menschen. Um Handlungsfähigkeit zu erhalten gegenüber dem Risiko sie vielleicht zu verlieren, macht für das Individuum oft das Verbleiben im restriktiven Rahmen mehr Sinn, als der riskante Versuch der Erweiterung der Handlungsfähigkeit. Trotzdem ist die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit, die Möglichkeit des Überschreitens der gegebenen Teilhabebeschränkungen als "zweite Möglichkeit" immer vorhanden (wenn auch zuerst vielleicht nur in der Form geistiger Distanzierung und Kritik). Zur Vertiefung füge ich an dieser Stelle ein längeres Zitat von Klaus Holzkamp ein:

"Zwar ist die gesamtgesellschaftliche Reproduktion "im ganzen" durch die in diese einbezogenen Individuen "getragen". Dies heißt aber nicht, daß (wie in den kooperativ-gesellschaftlichen Frühformen) jedes einzelne Individuum notwendig in diesen Reproduktionsprozess einbezogen ist. Vielmehr werden die individuellen Subjekte (bis zu einem gewissen Grade) auch dann durch die gesellschaftlichen Lebensmittel/Bedingungen in ihrer Existenz "miterhalten", wenn sie gerade keinen Beitrag zu deren Reproduktion leisten. Demgemäß haben u.E. die gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsnotwendigkeiten (in ihren jeweils historisch bestimmten, formationsspezifischen Ausprägungen) für die Individuen nicht den Charakter von direkten Handlungsdeterminanten, sondern lediglich von gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten, die zwar einerseits global gesehen zur subjektiven Lebenserhaltung /-entfaltung "irgendwie" genutzt werden müssen, denen gegenüber aber andererseits das Individuum im jeweils speziellen Fall über "Alternativen" verfügt: Es kann sich ihnen gegenüber auch verweigern, etwas anderes oder gar nichts tun etc." (Holzkamp 1988: 35)

Zu begründen ist das Vorhandensein dieser zweite Möglichkeit in der Tatsache, dass – wie oben erwähnt – Menschen im gesellschaftlichen Leben auch die eigenen Bedingungen aktiv gestalten. Menschen machen ihre Geschichte unter Bedingungen, aber sie machen sie selbst – betonte einst Marx. Indem Menschen über ihre eigenen Lebensbedingungen verfügen, sind sie Subjekte. (Holzkamp 1983: 138) und "Menschen sind nur soweit menschliches Subjekt, also "Mensch" im eigentlichen Sinne, wie sie sich selbst in verallgemeinerter Weise als Ursprung der Schaffung und der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gemäß ihren Lebensinteressen erfahren können" (ebd.: 139).

Gesellschaftlichkeit ist also wesentlich verbunden mit der Subjektivität der Individuen. Diese macht es aber unmöglich, von Menschen wie über Objekte zu sprechen bzw. sie wie Objekte zu behandeln, ohne dabei ihr Menschsein zu leugnen. Dies verlangt eine neue Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Bedingtheit durch die gesellschaftlichen Verhältnisse und der subjektiven Selbstbestimmung der Individuen. Dazu kann die Unterscheidung von Prämissen und Handlungsgründen hilfreich sein. Menschliches Verhalten ist nicht völlig freischwebend, sondern ist eingebunden in Prämissen, die sich in institutionell-gesellschaftlichen Verhältnissen zeigen. Diese bestimmen grundlegende Bedeutungskonstellationen und Handlungsmöglichkeiten. Sie wirken aber nicht direkt und unmittelbar auf das Verhalten der Menschen ein. Menschen sind – wegen der oben diskutierten spezifischen Möglichkeitsbeziehung – nicht direkt gezwungen dies oder jenes zu tun, sondern sie verhalten sich als Subjekte bewusst dazu und erst aus dieser Verarbeitung entstehen subjektive Handlungsgründe. Handlungsgründe sind je individuelle, subjektiv bestimmte Gründe, sie sind für das Individuum "subjektiv funktional", d.h. sie machen für diese Person tatsächlich einen Sinn, auch wenn dieser von außen nicht ersichtlich sein sollte. Subjektiv funktional sind auf diese Weise Handlungen für das Individuum unabhängig davon, ob sie in Richtung verallgemeinerter oder restriktiver Handlungsfähigkeit ausgerichtet sind.

Obgleich die Handlungsgründe je individuell sind, ist es möglich, dass sich die Menschen gegenseitig verständlich machen können, denn sie alle haben Erfahrungen mit dem "bewussten-Verhalten-zu" ihren Möglichkeiten und den Prämissen, in denen und denen gegenüber sich sie auf je individuelle Weise verhalten. Auf diese Weise kann durch intersubjektive Verständigung auch eine Entschlüsselung gesellschaftlicher Prämissen erfolgen (vgl. die Methode der Erinnerungsarbeit nach Frigga Haug (Haug 1999 und 2001).

Zur Problematisierung des "Selbst" siehe http://www.thur.de/philo/kp/ich.htm
siehe Verwendung dieser Begriffe für die Themen: Lernen und "Erziehung"

Mehr zur Kritischen Psychologie


- Diese Seite ist Bestandteil von "Annettes Philosophenstübchen" 2004- http://www.thur.de/philo/kp/menschsein.htm -