Selbst-Organisierung

Die bürgerlichen Gesellschaftstheorien zehren immer noch von den mechanistischen Konzepten menschlicher Beziehungen wie bei Hobbes und Locke. Freiheit wird hier assoziiert mit Isoliertheit. Gesellschaftlicher Zusammenhalt muss durch ein den Individuen äußerlich hinzukommendes "Klebstoffmedium" erzeugt werden. Wenn wir selbst dieser Vorstellung unterliegen, so können wir als Alternative zu herrschaftsförmigen bzw. abstrakt-sachlichen Vermittlungsformen lediglich deren formalen Gegensatz in Form direkter und unmittelbarer Beziehungen zwischen Menschen denken. Durch neue Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften ist eine neue Vorstellung, die der Dialektik von Beziehungen konkreter und tätiger Entitäten besser entspricht, entwickelt worden - jene der Selbstorganisation.

Selbstorganisation verweist darauf, dass komplexe Strukturen und Beziehungen nicht nur durch äußerliche Ordnungsvorgaben entstehen können, aber auch nicht nur unmittelbar durch die direkten Kontakte der Elemente der Struktur. Dabei führt unter bestimmten Umständen (Zufuhr freier Energie, Existenz von Fluktuationen) das "kooperative Wirken von Teilsystemen zu komplexen Strukturen des Gesamtsystems" (Ebeling, Feistel 1986). Die komplexen Strukturen sind mehr als die Summe der direkten Beeinflussungen der Elemente. Die Elemente sind nicht mehr nur unmittelbar in Kontakt und reichen die Beeinflussung mechanisch weiter, sondern es entstehen übergreifende, langreichweitige Kohärenzen. Die beteiligten Elemente würde es ohne den gemeinsam gebildeten Prozess gar nicht geben - sie können voneinander isoliert gar nicht entstehen (z.B. Nukleinsäuren und Proteine im Hyperzyklus nach Eigen und Schuster 1977/78). Nicht nur die Teile bilden in ihrem Zusammenwirken das Ganze, sondern das Ganze ist in jedem Teil als notwendiges Moment seines Gewordenseins und Werdens enthalten. Nicht nur äußere Wechselwirkungen bilden den Zusammenhang, sondern die innere Prozessualität jedes Teils ist Moment des Ganzen. Was bereits für natürliche Objekte gilt, ist für gesellschaftliche Individuen umso mehr voraus zu setzen. Jede menschliche Gesellschaft ist das Ergebnis von Selbstorganisierung und eine sich selbst organisierende Prozess-Struktur. Allerdings gibt es sehr stark voneinander abweichende Formen der Selbstorganisierung, und diese Formen entwickeln sich im Laufe der Zeit. Diese Entwicklung beruht auf den jeweils historisch gegebenen Möglichkeiten, die sich auf die Entwicklung der Individualität, der gesellschaftlichen Produktivität und auch der darauf beruhenden Organisierungsmöglichkeiten stützen. Nach historischen Formen, bei denen die Organisation vorwiegend durch persönliche Macht realisiert wurde, setzt sich weiterhin weltweit jene Form durch, bei der die Personifizierung weitgehend durch ein abstraktes Vermittlungsmedium, das Kapital, ersetzt wurde. Beide Formen sind herrschaftsförmig, sie beruhen auf der Herrschaft von Menschen bzw. auf dem Selbstzweck der Kapitalverwertung über andere Menschen. Gefragt ist jetzt eine neue Form von Selbstorganisierung, bei der die Macht in den Händen der Individuen selbst bleibt, in der diese sich selbstbestimmt "von unten" her ihren Bedürfnissen gemäß organisieren. Das widerspricht der alten Vorstellung von isolierten Elementen, die ohne äußeren ordnenden Einfluss in chaotischer Unordnung versinken würden. Hier entsteht demgegenüber eine neue Art "Ordnung ohne Herrschaft".(Fn7) Dieser Vorstellung entspricht das Bild eines Netzwerkes, das sich auch in Abbildungen von Fraktalen, die mathematisierten Selbstorganisationskonzepten entsprechen, zeigt.


Fußnoten:

Fn7: Ein "Staat" wird dann nicht mehr als Institution gebraucht, die quasi "von außen" bzw. "von oben herab" die Organisierung gewährleistet, sondern wird höchstens als überkommene Bezeichnung für die Vernünftigkeit der Organisationsleistung dienen, die die Individuen in ihren freien Vereinbarungen selbst erbringen. Dies entspräche letztlich auch der Hegelschen Staatsidee ("Der Staat ist das Gebäude des Geistes in der Gegenwart, und sein Werk ist das Werk der Vernunft." (Hegel 1821/22: 37-38 )), was den gegebenen "Not- und Verstandesstaat" weit übersteigt.


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Selbstentfaltungs-Gesellschaft






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