Die Sorge um sich selbst
(nach Michel Foucault)
für T.

 
Subjektivität und Selbst
Michel Foucault thematisiert in allen seinen Arbeiten, so unterschiedlich die Titel der Bücher auch sein mögen, vor allem die Problematik der Konstitution von Subjektivität. "Es ging mir nicht darum, Machtphänomene zu analysieren oder die Grundlagen für solch eine Analyse zu schaffen. Vielmehr habe ich mich um eine Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur bemüht. Und zu diesem Zweck habe ich die Objektivierungsformen untersucht, die den Menschen zum Subjekt machen. [...] Das umfassende Thema meiner Arbeit ist also nicht die Macht, sondern das Subjekt." (Foucault 2007: 81) Subjektivität hat etwas mit Beziehungen von menschlichen Individuen zu sich selbst zu tun (Foucault 2007: 226), aber Foucault lehnt die Vorstellung eines souveränen Subjekts, einer Universalform Subjekt ab (ebd: 283). Menschliche Individualität nimmt demzufolge nicht einmal immer und unter allen Umständen die Form von Subjektivität an - beispielsweise waren die antiken Griechen keine Subjekte, sondern Individuen (ebd.: 251). Subjektivität als spezielle Form der Individualität hat für Foucault etwas damit zu tun, dass das Individuum 1. der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht und 2., dass es durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist (ebd.: 86). Herrschaft wie die Bindung an eine Identität wird aber von Foucault kritisiert.
Das Subjekt ist in seiner Existenz nicht als souverän und unmittelbar gegeben vorauszusetzen, sondern es konstituiert sich unter dem Zwang von Herrschafts- und Machtverhältnissen. Es wird jedoch nicht eindeutig von diesen Verhältnissen "geprägt", sondern es unternimmt diese Subjektivierung selbst aktiv. Die möglichen Formen der Subjektivität werden allerdings als durchaus voraus zu setzende "Schemata" nahe gelegt.
Wenn wir uns individuell weiter entwickeln wollen, geht es also nicht darum, nur ein unterdrücktes oder entfremdetes "unmittelbares, souveränes Selbst" zu befreien, sondern darum, Umgangsformen mit uns selbst zu entwickeln, die den jeweiligen Zusammenhang zwischen Selbstkonstitution und vorgegebenen Verhältnissen transparent machen.

Dieses "Selbst" ist also nicht einfach gegeben, sondern wir gestalten es - heutzutage leider mehr unbewusst als bewusst - jeden Tag selbst durch die Art und Weise unserer Lebensführung. Während in langen christlich dominierten Jahrhunderten moralische Forderungen nach Entsagung von bestimmten Teilen des Selbst dominierten, entwickelte sich in der letzten Zeit ein "Selbstkult", in dem versucht wird, sein "wahres Ich" zu entdecken (Foucault 2007: 210). Dies jedoch lehnt Foucault ab und er findet in der klassisch-antiken Tradition eine andere Möglichkeit des Umgangs mit uns selbst: In dieser Tradition ging es darum, das Selbst wie ein Kunstwerk aufzubauen und zu erschaffen.[1]

"... der Wille ein moralisches Subjekt zu sein, und die Suche nach einer Ethik[2] der Existenz waren in der Antike in der Hauptsache das Bemühen, seine Freiheit zu behaupten und seinem eigenen Leben eine bestimmte Form zu geben, in der man sich anerkennen und von den anderen anerkannt werden konnte, und sogar die Nachwelt konnte sich daran ein Beispiel nehmen." (Foucault 2007: 284) Der bekannte delphische Spruch "Erkenne dich selbst" war damals der Forderung nach der Sorge um sich selbst untergeordnet - die Selbsterkenntnis war kein Selbstzweck, sondern Grundlage der Arbeit an sich selbst. Foucault nennt das Arsenal an Mitteln für diese Arbeit Techniken des Selbst. Sie ermöglichen es dem Einzelnen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt (Foucault 2007: 289). Das beinhaltet "das Nachdenken über Lebensweisen, die Wahl einer Lebensform, die Regulierung des eigenen Verhaltens, die Selbstzuweisung von Zielen und Mitteln..." (Foucault 2007: 76). Auf diese Weise wird die eigene Identität festgelegt, aufrechterhalten oder verändert (ebd.: 74).
Es wäre nun nach Foucault verfehlt, sich auf eine zu erreichende Identität festzulegen. "Man verliert sich in seinem Leben... wenn man nach der Identität der Sache fragt. Dann ist die Sache "verpfuscht", weil man sich auf Klassifikation einlässt. Es geht darum, etwas hervorzubringen, das zwischen den Ideen geschieht und das man nicht benennen kann. Man muss vielmehr ständig versuchen, ihm eine Farbe, eine Form, eine Intensität zu geben, die niemals sagt, was sie ist. Das ist Lebenskunst. Lebenskunst heißt, Psychologie zu töten und aus sich heraus wie auch zusammen mit anderen Individuen, Wesen, Beziehungen, Qualitäten hervorzubringen, die keinen Namen haben." (Foucault 2007: 110) Die Sorge um sich, um die es den antiken Griechen und um die es Foucault geht, hat nichts mit egoistischem Selbstkult zu tun, sondern um eine Sorge, die, in dem sie sich um sich selbst sorgt, auch um den anderen und die anderen sorgt. Insofern ist diese Sorge um sich selbst mit der Bedeutung der Kategorie "Selbstentfaltung" (Schlemm 2006: 9) verwandt.

Die besondere Rolle der Sexualität und Homosexualität

Foucaults Konzepte verweisen auf die neue Phase der weltweiten Freiheitsbewegungen nach den 60er Jahren. Es ging nicht mehr nur - und für privilegierte Menschen der Industriestaaten in ihren Sozialstaatszeiten immer weniger - um ökonomische und soziale Herrschaftsverhältnisse (zum Verhältnis dazu siehe Schlemm 2007), sondern um kulturelle Fragen und immer mehr um die Rolle der Individuen. Sartre, dem gegenüber Foucault konzeptionell kritisch eingestellt war, benannte diese Situation: "Die alte Triebkraft für Revolutionen, die nackte Not, wird in der Tat abgelöst durch eine neue Forderung, die nach Freiheit." (Sartre 1999: 186) Für Foucault rückt besonders die Frage der Sexualität in den Vordergrund - aber auch hier nicht in dem Sinne, wie es damals vorwiegend propagiert wurde, als Befreiung einer vorher unterdrückten Sexualität, sondern in Form der Problematisierung der Konstitution von Sexualität in allen gesellschaftlichen Formen und Situationen. Auch für ihn ist damit der Übergang von der eher sozial-ökonomisch orientierten Befreiungsbewegung zu etwas Neuem markiert.
Die Sexualität ist für Foucault vor allem deswegen ein zentrales Problem, weil die Sexualität unmittelbar mit dem Selbst und der Art und Weise der Subjektivierung verbunden ist. (Foucault 2007: 287)
Wiederum geht es Foucault hier nicht etwa darum, eine bisher unterdrückte authentische, zum Individuum gehörige Sexualität zu befreien: "Es geht nicht darum, in sich selbst die Wahrheit des eigenen Geschlechts zu entdecken, sondern die eigene Sexualität zu nutzen, um vielfältige Beziehungen herzustellen." (ebd.: 68) In diesem Sinne ist für Foucault die Homosexualität eine günstige Herausforderung. Sie ist "eine historische Gelegenheit, Beziehungs- und Gefühlsmöglichkeiten neuerlich zu eröffnen..." (Foucault 2007: 72). Homosexuelle "müssen ihre noch formlose Beziehung von A bis Z erfinden" (ebd.: 69), d.h. aufgrund ihrer Besonderheit gibt es für sie nicht die üblichen "Schemata", auf die sich andere Menschen so schnell fixieren. Normalerweise sind in der Welt nur sehr wenige, extrem schematisierte und äußerst arme Beziehungen möglich, denn: "Die Gesellschaft und die Institutionen, die deren Gerüst bilden, haben das Spektrum möglicher Beziehungen eingeschränkt, weil eine an Beziehungen reiche Welt sich nur schwer verwalten ließe." (Foucault 2007: 117) Dabei geht es nicht nur um sexuelle Erfüllung, sondern das Ausprobieren von "polymorphe[n], vielfältige[n], individuell abgewandelte[n] Beziehungen (ebd.: 73) beim "Zusammen ...sein, Zusammen ... leben" (ebd.: 69). Hinweise, die Foucault aus den Erfahrungen mit der Schwulenkultur für die Konstitution neuer menschlicher Beziehungen zieht, sind verallgemeinerbar für alle Menschen, die neue menschliche Beziehungsweisen suchen. Er spricht sich deshalb auch eher gegen eine Integration der Schwulenkultur in die bestehende Gesellschaft aus, sondern dafür, fern von Beziehungen, wie sie die Gesellschaft vorschlägt, Neues zu schaffen (ebd.: 119).

Literatur

Foucault, Michel (2007): Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Sartre, Jean-Paul (1999): Fragen der Methode. Reinbek.
Schlemm, Annette (2006): Selbstentfaltungs-Gesellschaft als konkrete Utopie. Osnabrück: Packpapierverlag. Siehe auch Internet: http://www.thur.de/philo/SEG.htm.
Schlemm, Annette (2007): Das Verhältnis von Marxscher Theorie und Foucaultscher Diskursanalyse http://www.thur.de/philo/notizen/diskurs.htm

Fußnoten

[1] Das heißt nun nicht etwa, dass diese Tradition jetzt übernommen werden soll. Aber es kann heißen, "dass der Kontakt mit der einen oder anderen Philosophie [...] etwas hervorbringen könnte, aber man müsste dann richtig betonen, dass dies etwas Neues ist." (Foucault 2007: 271)

[2] ethos: Weise zu sein und sich zu verhalten; Seinsweise des Subjekts und eine bestimmte, für die anderen sichtbare Weise des Handelns (Foucault 2007: 260); Ethik = reflektierte Praxis der Freiheit (ebd.: 257))

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