Individuum - Beziehungssystem - Gesellschaft

 
Systemische und kommunikationsorientierte psychologische Konzepte sind der mittleren der Sphären zuzuordnen, die für menschliches Verhalten eine Rolle spielen (vgl. Schulz von Thun MR 1: 19f.). Diese Sphären sind niemals voneinander getrennt und nur teilweise sinnvoll analytisch unterscheidbar. Wir werden ihre Zusammenhänge in der Behandlung der unterschiedenen Punkte sehen:

1. Zur Individualpsychologie

Das Individuum als autonomes Handlungssubjekt entstand in der europäischen[1] frühen Neuzeit (Sonntag 1999: 113). Der erste Roman, der das innere Leben seines Protagonisten ausführlich beschreibt und dabei bereits erstaunliches psychologisches Wissen zusammenträgt, ist "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz (1785).

Die Individualpsychologie als Wissenschaft ist untrennbar mit Siegmund Freud verbunden: "Wo es war, soll ich werden"[2] - verkündet als Ziel die Befreiung des sich selbst bewussten Subjekts von der Beherrschung durch Unbewusstes, Verdängtes und Verleugnetes. Freud hatte selbst den Anspruch, nicht nur über Individuen zu sprechen, sondern eine ganze Kulturtheorie zu entwickeln. Denn sein Thema war vor allem die Wechselwirkung zwischen biologischen Trieben und den kulturellen Beschränkungen.
Freud erfasste typische, vor allem problematische, Konstellationen und Formen, in welchen die Menschen seiner Zeit die auf sie wirkenden familiären und gesellschaftlichen Einflüsse verarbeiteten. Allerdings scheinen diese Konstellationen und Formen überhistorisch und nicht an bestimmte gesellschaftliche Formen gebunden zu sein.
Die Psychoanalyse entwickelte sich in vielerlei Formen weiter, die oft mit der klassischen Freudschen Version in Konflikte kamen und die meist mit persönlichen Zerwürfnissen der entsprechenden Vertreter verbunden waren.
Bekannt wurde beispielsweise Wilhelm Reich, der sich vor allem auf die Befreiung der Sexualität bezog und von daher eine Veränderung der Gesellschaft erwartete.
In der Kritischen Psychologie nach Klaus Holzkamp wird gerade aus der gesellschaftlichen Natur des menschlichen Individuums abgeleitet, dass es eine spezifische Möglichkeitsbeziehung gegenüber der Welt hat. Deshalb wird gefordert, Psychologie immer nur vom Subjektstandpunkt aus zu betreiben, niemals aus der Sicht der "Erforschung anderer Menschen als Objekte".

2. Zur Psychologie der Beziehungen

Wenn man die Freudsche Erkenntnis, dass die frühe Kindheit entscheidend ist für die Persönlichkeitsentwicklung, ernst nimmt, zeigt sich bereits die Rolle der familiären Beziehungen für das Individuum. (Bowlby, Miller)

Es zeigt sich, dass der Mensch immer Teil eines Ganzen ist; auf diese Weise sieht Friedemann Schulz von Thun eine Verbindung zwischen der Humanistischen Psychologie, welche aufs Individuum konzentriert ist und der der Systemischen Psychologie, was sich in seinem "humanistisch-systemisches Menschenbild" (Schulz von Thun 2006: 120) zeigt.
Helm Stierlin entwickelt seine Psychologie der Beziehungen ausdrücklich aus der Hegelschen Sichtweise heraus, dass das Selbst und die Beziehung sich in der Bewegung des gegenseitigen Anerkennens entwickeln. "Diese Bewegung des Selbstbewußtseins in der Beziehung auf ein anderes Selbstbewußtsein ist aber auf diese Weise vorgestellt worden als das Tun des Einen; aber dieses Tun des Einen hat selbst die gedoppelte Bedeutung, ebensowohl sein Tun als das Tun des Anderen zu sein [...]." (Hegel Phän: 146) Helm Stierlin stellt typische Beziehungsmuster, z.B. bei der Ablösung der Kinder von ihren Eltern, zusammen, aber diese sieht er immer im inhaltlichen Bezug. In jeder Beziehung wird demnach ein Spannungsfeld geschaffen, das, indem es zum Ausgleich drängt, die Bewegung vorantreibt und dabei verändern sich die Partner (Stierlin 1971: 44).

Der von Alice Miller beschriebene "narzißtische[3] Mißbrauch" hat in den individuellen Bedürfnissen der Eltern, die ihrerseits in ihren frühen Eltern-Kind-Beziehungen bestimmt worden sind ihre Wurzel und setzt sich - wenn es nicht gegen Verdrängungswiderstände heraus bewusst wird - in einer Art "Wiederholungszwang" gegenüber dem eigenen Kind fort.

Die offensichtlichsten systemischen Beziehungen zeigen sich in den sog. Teufelskreisen und double-Bind-Beziehungen. Bei Kommunikation sind mindestens 4 Aspekte zu berücksichtigen und in der Interaktion können unterschiedliche Schwerpunkte in der Bewertung von Tugenden und Werten Probleme auslösen (Werte- und Entwicklungsquadrat).

All diese Beziehungen wirken maßgeblich auf die Persönlichkeitsentwicklung und das Verhalten ein. Ihre Kenntnis ist deshalb notwendig, wenn die jeweils individuelle Handlungsbegründung transparent durchdacht werden soll. Im Zusammenhang mit der der individuellen und der gesellschaftlichen Sphäre, die in der Kritischen Psychologie ausdrücklich als miteinander verbunden betrachtet werden, spielen die interaktiven und kooperativen Beziehungen - erfasst im Begriff der Regulationsform[4] - ihre Rolle.

"Obwohl die gesellschaftlichen Widersprüche nicht aufgehoben werden können, können die Regulationsformen so gewählt werden, dass die gemeinsame objektive Lebenslage besser wird, Verfügungserweiterung möglich und damit auch eine bessere subjektive Befindlichkeit." (Holzkamp 1980: 5-6) Zu den Gefahren der Verabsolutierung der systemischen Ebene wurde bereits im "System"-Text etwas geschrieben.

Letztlich befindet sich die Sphäre der Beziehungen zwischen der individuellen und der gesamtgesellschaftlichen. Aus beiden angrenzenden Richtungen her sind Ergänzungen notwendig:

  1. Auch in systemischen Beziehungen hat ein Individuum stets mehrere Verhaltensmöglichkeiten, deren Auswahl nicht eindeutig durch die Systembeziehungen vorgegeben ist. Dies wird in der Kritischen Psychologie als "spezifische Möglichkeitsbeziehung des Individuums gegenüber der Welt" betont.

    "Es existiert kein durchgängig eindeutiges Verhältnis zwischen der spezifischen Dynamik in einem bestimmten konkret widersprüchlichen Verhältnis oder bei einer bestimmten konkreten Person auf der einen Seite und der Anwendung einer bestimmten Regulierungsform für diese realen Widersprüche auf der anderen Seite." (Dreier 1980: 39f.)
    "Es ist jedoch auch kein Zufall, daß gerade diese Form übernommen wird, aber sie ist eine von mehreren sowohl objektiv als subjektiv möglichen Formen, die spezifische Widersprüche zu regulieren, allerdings, [...] eine besondere Regulierungsform mit großer Bedeutung und Verbreitung." (ebd.: 40)

  2. Es ist weiterhin zu berücksichtigen, dass neben systemischen Interaktions- und Kooperationsbeziehungen auch die aktuell gerade gegebene Gesellschaftsform das individuelle Handeln beeinflusst und gleichzeitig auch durch das Handeln mit konstituiert wird.

3. Die Gesellschaft

Bereits aus der kommunikationssystemischen Sicht heraus wird eine Beschränkung dieser Perspektive deutlich: "Auch bei dieser Kommunikationstherapie ist im Blick zu behalten, daß bestimmte Umgangsformen möglicherweise gar nicht so sehr der (prinzipiell) freien Gestaltung der Kommunikationspartner unterliegen, sondern sozusagen "von oben" vorprogrammiert sind." (Schulz von Thun MR 1: 20)

Es sind institutionelle und gesellschaftliche Faktoren wie das Schulsystem (ebd.: 167) zu berücksichtigen. Gleichzeitig ist davon auszugehen,dass "jede geänderte Gesellschaft auch veränderter Individuen bedarf" (Schulz von Thun 2006: 127, vgl. auch ebd.: 100)

Was ist die Gesellschaft?

Hier wird die Position vertreten, dass die Gesellschaft nicht lediglich ein sehr großes Interaktions- oder Kooperationssystem ist, auch nicht die Summe aller Menschen oder menschlicher Beziehungen, sondern selbst eine Eigenlogik entfaltet. Das heißt:

  • Das Besondere des Gesellschaftlichen ist die Orientierung auf die "bewußte, vorsorgende Verfügung über gemeinsame Lebensbedingungen durch kollektive Arbeit etc.." (Holzkamp 1983: 184).
    Menschliche Gesellschaft ist deshalb qualitativ etwas anderes als auch im Tierreich mögliche Sozialverbände und sie umfasst mehr als nur interaktive oder kooperative Beziehungen.
  • Dabei ist die unmittelbare Verbindung Organismus/Sozialverband zur Umwelt aufgebrochen und eine Mensch-Gesellschaft-Welt-Vermittlung entsteht.
  • Die individuelle Reproduktion erfolgt nur noch innerhalb der gesellschaftlichen Produktion/Reproduktion der Lebensgrundlagen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse durchdringen alle menschlichen Beziehungen und Individualitätsformen, sie stehen nicht außerhalb.
  • Die Gesellschaft steht nicht dem Einzelnen "von außen" gegenüber, oder wird durch Beziehungen zwischen ihnen "von außen" konstitiuert (Bindemitteln zwischen Isolierten), sondern sie ist in den Individuen "drin" (durch Prozess der inividuellen Vergesellschaftung).
  • Gesellschaft existiert immer in konkreten, historisch veränderlichen Gesellschaftsformen, die relativ stabil ständig durch unser eigenes Tun reproduziert werden - aber gleichzeitig durch ihre Eigendynamik auch nicht nur die Summe unseres unmittelbaren Handelns sind, sondern durch ihre Verhältnisse das Feld unsrer Möglichkeiten (und ihrer Grenzen) bestimmen.
Die konkret-historische Gesellschaftsform ist deshalb nicht nur ein großes Interaktionssystem ohne neue Qualität. Und es ist nicht möglich, gesellschaftliche Fragen ohne eine konkrete Gesellschaftsformanalyse zu diskutieren. Es wäre deshalb nicht angemessen, gesamtgesellschaftliche Fragen mit den Mitteln der auf Interaktionen und Kooperationen bezogenen systemischen Konzepte bearbeiten zu wollen. Es zeigt sich beispielsweise, dass Paul Watzlawick sich selbst in der von ihm analysierten "Illusion der Alternativen" verfängt, wenn er nur die Alternative zwischen angeblich immer zur Diktatur tendierenden gesellschaftsverändernden Utopie und dem Beibehalten der "lausigen", aber doch bestmöglichen (bürgerlichen) Demokratie auf der nicht mit untersuchten Basis der kapitalistischen Gesellschaftsform anerkennt. (Watzlawick 1977: 227ff.)

Zusammenhang Individuum - Gesellschaft

Jede Person lebt zwar unter vorgegebenen Bedingungen, aber sie kann sich zu diesen Bedingungen auch bewusst verhalten, d.h. sie kann sie erkennen und akzeptieren bzw. in Frage stellen. Es gibt einerseits einen Handlungsspielraum innerhalb der gegebenen Grundbedingungen, andererseits ist es im historischen Maßstab gemeinsam mit anderen Menschen auch möglich, gesellschaftliche Grundbedingungen zu verändern. Auf jeden Fall sind die Gründe für dieses oder jenes Verhalten jeweils "Gründe in der ersten Person"; die nicht einfach ableitbar sind aus Bedingungen.

Dem Individuum steht als Gesellschaftlichkeit nicht die gesamte Gesellschaft in ihrer Totalität zur Verfügung, sondern jeweils Ausschnitte. Diese bestimmen sich durch die konkrete Position und die Lebenslage der Person (Holzkamp 1983: 186). In früheren Arbeiten aus der Kritischen Psychologie wurde noch der Begriff der "Individualitätsform" verwendet, worunter Vermittlungsinstanzen zwischen gesellschaftlichen und individuellen Lebensnotwendigkeiten (Holzkamp-Osterkamp 1976: 330) verstanden wurden. Auch mit der Unterscheidung und der Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen Individualitätsformen, Regulierungsformen und psychischen Formen wurde gearbeitet (Holzkamp 1980: 3, Dreier 1980: 58f.).

Für das Aufwachsen eines Menschen sollte der Begriff "Sozialisation" nicht verwendet werden, denn es ist nicht so, dass das kleine Wesen erst nach und nach zum Menschen werden würde. Nein, schon das kleinste Kind ist ein vollständig gesellschaftliches Wesen. Allerdings ermöglichen es ihm weder seine Lebenslage noch seine Fähigkeiten, voll am gesellschaftlichen Leben Anteil zu nehmen - dies entwickelt sich im Rahme der individuellen Vergesellschaftung. Diese individuelle Entwicklung mündet darin ein, dass die Person befähigt und in die Lage versetzt wird, am gesamtgesellschaftlichen Prozess teilzuhaben (vgl. Holzkamp 1983: 420).

Das verlangt nicht nur die Einübung angemessenen interaktiven und kooperativen Verhaltens, sondern von vornherein die Aneignung bestimmter Gegenstandsbedeutungen, die gesellschaftlich vermittelt sind.
Deshalb sind die Eltern-Kind-Beziehungen nicht auf kooperatives Zusammenwirken beschränkt. Es geht nicht nur darum, dem Kind beizubringen, dass man die Suppe nicht verschüttet, weil alle anderen Menschen etwas gegen das Suppe-Verschütten haben und deshalb die Norm "Man verschüttet seine Suppe nicht!" erlernt werden müsse. Das Gegenteil - dem Kind das Suppe-Verschütten gewähren zu lassen, hilft dem Kind aber auch nicht weiter. Worum es stattdessen geht, ist das Lernen der Bedeutungen der Gegenstände "Löffel" und "Teller". In den gesellschaftlichen Produkten ist die Bedeutung, dass sie "zum Essen ohne Verschütten" gemacht sind, enthalten, und dies muss vom Kind auf dem Weg zum Erwachsenwerden mit Unterstützung seiner Bezugspersonen gelernt werden (siehe dazu ausführlich Holzkamp-Osterkamp 1976: 323 ff.).


Fußnoten:
[1] Zu anderen Entwicklungen in anderen Kulturen, speziell im Vergleich Vietnam, siehe Wulff 1972.

[2] "Die Psychoanalyse ist ein Werkzeug, welches dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll." (Freud 1923: 292)

[3] Mit Narzißmus meint A. Miller nicht die übertriebene Selbstliebe. Der befürchtete Vorwurf des Egoismus verhindert ihrer Meinung nach oft die Selbstfindung. Unter einem "gesunden Narzißmus" versteht sie den "Idealfall der genuinen Lebendigkeit, eines freien Zugangs zum wahren Selbst, zu den echten Gefühlen." (Miller 1979: 11)

[4] Ein Beispiel für eine umfassende Analyse systemischer und gesellschaftlicher Einflüsse gibt die Familienanalyse bei Dreier. Zur "Regulationsform" siehe Dreier 1980 und Holzkamp 1980. Zum Zusammenhang mit anderen "Sozialisations"-Instanzen und der Rolle kultureller Leitbilder siehe auch Wulff 1972: 130.


Literatur:
Bowlby, John (1952): Mütterliche Zuwendung und geistige Gesundheit. Kindler.
Dreier, Ole (1980): Familiäres Sein und familiäres Bewußtsein. Therapeutische Analyse einer Arbeiterfamilie. Frankfurt, New York: Campus Verlag.
Freud, Siegmund (1923): Das Ich und das Es. In: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Frankfurt am Main: Fischer 2005.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (Phän): Phänomenologie des Geistes. Werke in 20 Bänden; Band 3. Suhrkamp Verlag 1970.
Holzkamp, Klaus (1980): Vorwort zu Dreier: Familiäres Sein und familiäres Bewußtsein. Therapeutische Analyse einer Arbeiterfamilie. Frankfurt, New York: Campus Verlag. S. 1-7.
Holzkamp, Klaus (1983): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt, New York: Campus.
Holzkamp-Osterkamp, Ute (1976): Motivationsforschung 2. Die Besonderheit menschlicher Bedürfnisse - Problematik und Erkenntnisgehalt der Psychoanalyse. Texte zur Kritischen Psychologie, Band 4/2. Frankfurt, New York: Campus Verlag. 4. Auflage 1990.
Miller, Alice (1979): Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983.
Moritz, Karl Philipp (1785): Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. München: Goldmann 1961.
Schulz von Thun, Friedemann (MR 1): Miteinander reden 1. Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag (1981). 2004.
Schulz von Thun, Friedemann (2006): Klarkommen mit sich selbst und anderen. Reinbek: Rowohlt.
Sonntag, Michael (1999): "Das Verborgene des Herzens". Zur Geschichte der Individualität. Reinbek: Rowohlt.
Stierlin, Helm (1971): Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Eine Dynamik menschlicher Beziehungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.
Watzlawik, Paul (1988): Münchhausens Zopf. Oder Psychotherapie und "Wirklichkeit". München, Zürich: Piper 2005.
Wulff, Erich (1972): Psychiatrie und Klassengesellschaft. Zur Begriffs- und Sozialkritik der Psychiatrie und Medizin. Frankfurt am Main: Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag.

 
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