Gesellschaftliche Selbstorganisierung

Viele Gesellschaftstheorien zehren immer noch von mechanistischen Konzepten menschlicher Beziehungen. Freiheit wird dabei assoziiert mit Isoliertheit. Gesellschaftlichkeit wäre dann etwas Äußerliches, den Individuen Fremdes. Befreiung wäre dann gleichbedeutend mit der Abschaffung der Gesellschaftlichkeit überhaupt, nicht nur einer bestimmten Gesellschaftsform. Als Alternative zur entfremdeten Gesellschaftlichkeit können wir uns direkte und unmittelbare Beziehungen zwischen den Menschen denken. Aber es gibt durchaus Möglichkeiten von gesellschaftlichen Verhältnissen, die keine Entfremdung, keine Äußerlichkeit mehr bedeuten. Eine Vorstellung davon können wir uns machen, wenn wir neuere Erkenntnisse aus allgemeinen Strukturtheorien verwenden. Dabei gibt es dann keine direkten Verbindungen oder äußerliche, übergestülpte Beziehungen - sondern netzwerkartige Selbstorganisationsstrukturen.

Selbstorganisation verweist darauf, dass komplexe Strukturen und Beziehungen nicht durch äußerliche Ordnungsvorgaben entstehen können, aber auch nicht unmittelbar durch die direkten Kontakte der Elemente der Struktur. In Strukturen und Prozessen der Selbstorganisation führt unter bestimmten Umständen (Zufuhr freier Energie, Existenz von Fluktuationen) das "kooperative Wirken von Teilsystemen zu komplexen Strukturen des Gesamtsystems" (Ebeling, Feistel 1986). Die komplexen Strukturen sind mehr als die Summe der direkten Beeinflussungen der Elemente. Die Elemente sind nicht mehr nur unmittelbar in Kontakt, sondern es entstehen übergreifende, langreichweitige Kohärenzen. Dabei würde es die beteiligten Elemente ohne den gemeinsam gebildeten Prozess gar nicht geben - sie können voneinander isoliert gar nicht entstehen (Das gilt z. B. für Nukleinsäuren und Proteine im Hyperzyklus nach Eigen und Schuster 1977/78 ebenso wie für Menschen als gesellschaftliche Individuen).

Nicht nur die Teile bilden in ihrem Zusammenwirken das Ganze, sondern das Ganze ist in jedem der Teile als notwendiges Moment seines Gewordenseins und Werdens enthalten. Nicht äußere Wechselwirkungen bilden den Zusammenhang, sondern die innere Prozessualität jedes Teils ist Moment des Ganzen. Was bereits für nichtmenschlich-natürliche Strukturen gilt, ist für gesellschaftliche Individuen umso mehr vorauszusetzen. Jede menschliche Gesellschaft ist das Ergebnis von Selbstorganisierung und eine sich selbst organisierende, d. h. sich ständig selbst entwickelnde Prozess-Struktur. Allerdings gibt es im Laufe der Geschichte sehr stark voneinander abweichende Formen der Selbstorganisierung. Deren Entwicklung beruht auf den jeweils historisch gegebenen Möglichkeiten, die ihrerseits auf der Entwicklung der Individualität, der gesellschaftlichen Produktivität und auch der darauf beruhenden Organisierungsmöglichkeiten basieren.

Früher verlief die Organisierung in der Gesellschaft maßgeblich über persönliche Machtstrukturen, wie Gefolgschaften (die Max Weber auch im modernen Parteienwesen erkennt) und Lehnsverhältnissen. Heute setzen sich inzwischen weltweit jene Form durch, bei der die Personifizierung weitgehend durch ein eher abstraktes Vermittlungsmedium, das Kapital, ersetzt wurde.

Beide Formen sind herrschaftsförmig, sie beruhen auf der Herrschaft von Menschen bzw. auf dem Selbstzweck der Kapitalverwertung über andere Menschen. Gefragt ist jetzt eine neue Form von Selbstorganisierung, bei der die Macht in den Händen der Individuen selbst bleibt, in der diese sich selbstbestimmt "von unten" her ihren Bedürfnissen gemäß organisieren. Das widerspricht der alten Vorstellung von isolierten Elementen, die ohne äußeren ordnenden Einfluss in chaotischer Unordnung versinken würden. Hier kann demgegenüber eine neue Art "Ordnung ohne Herrschaft" [1] entstehen.

"Ordnung ohne Herrschaft" versinnbildlicht sich im Bild eines Netzwerkes, das hier durch die Mathematik der Fraktale erzeugt wurde. Fraktale sind mathematische Modelle für Selbstorganisationsprozesse.

(siehe auch die Veröffentlichung "Surfende Schmetterlinge - im politischen Chaos - Selbstorganisation und Politik" im Packpapier-Verlag)

[1] Ein "Staat" wird dann nicht mehr als Institution gebraucht, die quasi "von außen" bzw. "von oben herab" die Organisierung gewährleistet. Manche Menschen denken, nur ein Staat könne eine gewisse Vernünftigkeit der Organisationsleistung absichern. Aber diese kann nicht von außen in die freien Vereinbarungen der Individuen gebracht werden, sondern muss im Prozess selbst entstehen.

(aus: Schlemm, Annette (2006): Selbstentfaltungs-Gesellschaft als konkrete Utopie. Osnabrück: Packpapierverlag. Siehe auch Internet http://www.thur.de/philo/SEG.htm)

 

 

 

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