In allen Medien wird der 10te Jahrestag der "Wende" in der DDR gewürdigt. Das ist aber nicht der Grund, aus dem ich einen ebenso alten Text von mir aus dem Archiv gebuddelt habe. Es war wirklich Zufall, daß ich den ausgedruckten Text - gerade noch lesbar - zwischen meiner Vortragsfoliensammlung gefunden habe. Da ich mich aber seitdem tatsächlich immer wieder inhaltlich auf die damaligen Überlegungen beziehe und danach gefragt werde, packe ich die Gelegenheit beim Schopfe, diese alte Sache hiermit aufzuarbeiten.
Ich hatte mich 1989 als "Einzelkämpferin" am ausgeschriebenen "Wettstreit junger Philosophen" beteiligt und war daraufhin zum Philosophenkongreß eingeladen worden. Hier ist jetzt der vorbereitete Vortragstext (abgetippt) - obwohl ich dann frei gesprochen habe:

Es genügt nicht die einfache Wahrheit
Mein Beitrag zum
(letzten) Philosophenkongreß der DDR - 1989

Ich möchte mein Auftreten hier einer guten Freundin widmen,
der Genossin Christa, die unseren Weg in die Zukunft nicht mehr
mit uns gehen kann - der ich es aber zum größten Teil zu verdanken habe,
daß ich im vorigen Jahr die Gelegenheit hatte, den Grundstock der Gedanken zu erarbeiten, auf die ich jetzt aufbaue.

Ich habe nicht oft die Gelegenheit, selbst zu sprechen, aber wenn ich sie habe, dann erinnere ich mich gern an die Anekdote über Ernst Thälmann, der einen Genossen auf der Fahrt zu einer Konferenz fragte, ob der denn nun alles drin hätte in der Rede. Der Genosse antwortete stolz mit Ja - worauf Thälmann meinte: "Dann wirf es weg, und red über das, was jetzt wichtig ist und was gemacht werden muß."

Mein eingereichter Beitrag beschäftigte sich mit Gedanken zur Anwendung des statistischen Gesetzesbegriffs in der Gesellschaftspolitik. Von Beruf bin ich Physiker- habe mich aber doch dafür entschieden, mich hauptamtlich in der gesellschaftlichen Arbeit zu verwirklichen. Das Babyjahr und die Zeit auf der Parteischule habe ich dann genutzt, die ersten Erfahrungen dabei aufzuarbeiten.
Nach der Beschäftigung mit dem Themenkomplex "Widersprüche-Interessen-Triebkräfte" wurde ich durch die abstracts einer Konferenz an der Humboldt-Universität-Berlin im vorigen Jahr auf neue Ansätze des Erfassens der Wirkungsweise gesellschaftlicher Gesetze gestoßen, die mir sofort einen AHA-Effekt bescherten und mich veranlaßten, das genauer zu durchdenken.
Es ist sicher Zufall, daß ziemlich genau mit Beginn meiner Tätigkeit als Agit.-Prop.-Sekretär der FDJ-Kreisleitung Jena/Stadt im Sommer diesen Jahres genau die gesellschaftlichen Bedingungen herangereift waren, die meiner Meinung nach diese Überlegungen brennend aktuell werden ließen.

Der Effekt der Anwendung des statistischen Gesetzesbegriffs (nach Hörz /1/) auf gesellschaftspolitische Probleme liegt darin begründet, daß erst das Erfassen der inneren Struktur der Gesetze ein Begreifen und die bewußte Nutzung des Wirkungsmechanismus gestattet.
Die Entwicklung des realen Sozialismus - verbunden mit den Anforderungen der Globalen Probleme und der wissenschaftlich-technischen Revolution - hat zu einer Stufe geführt, auf der es eine Existenzfrage für ihn ist, daß er wesenseigene (!) Triebkräfte in ausreichendem Maße zur Wirksamkeit bringt. Das bedingt objektiv die Notwendigkeit des stärkeren Durchdringens der Wirkungsweise gesellschaftlicher Gesetze über ihren dynamischen Aspekt hinaus. Das bringt Konsequenzen für viele gesellschaftliche Themen. Wenn z.B. Egon Krenz nachdrücklich auf die Einheit der beiden Phasen des demokratischen Zentralismus verweist - also sich gegen die bisherige Unterschätzung der ersten (demokratischen) Phase ausspricht - so ist das ein Beispiel für die endlich gezogene politische Konsequenz aus eigentlich schon längst bekannten Tatsachen.

Es geht um die Qualifizierung von Entscheidungsprozessen - zu dieser Aussage führen viele Überlegungen:

 

    

Abbildung 1: Die reale widersprüchliche Entwicklung, die entstandenen vielfältigen Triebkräfte sowie Hinweise aus der Persönlichkeitstheorie über die wachsende Rolle von Individualität und Motivation lassen den statistischen Charakter des Gesetzes stärker hervortreten und erfordern Konsequenzen für die Entscheidungsfindung in der Demokratieentwicklung in Staat, Recht, Wissenschaft, Leitungstätigkeit, politisch-ideologischer Arbeit...

Aus der Sicht des Wirkens objektiver Gesetzmäßigkeiten sehe ich hierbei den objektiven Prozeß des stärkeren "Durchschlagens" des statistischen Aspekts gesellschaftlicher Gesetze.
Die genaue Untersuchung dieser Problematik finde ich aus einem ganz akuten Problem heraus für unbedingt notwendig:
Die Berücksichtigung der neuen Vielfalt der Interessen, die aus einer anderen Sicht dasselbe ausdrückt, führt in der realen Politik zu der Situation, daß auch nichtsozialistische Interessen vor allem im spontanen Bewußtseinsbildungsprozeß nicht mehr mit früheren, administrativen Mitteln ausgegrenzt werden können.
Aus der theoretischen Sicht auf die Gesetze der Gesellschaft gibt es auch einen Reduktionismus, der sich z.B. bei Haken /2/ so äußert: "So legen es die Überlegungen zur Synergetik nahe, den Mechanismus von Revolutionen neu zu fassen. Durch äußere Bedingungen, etwa wirtschaftliche Notlage, politische Unterdrückung usw. wird das alte System destabilisiert. Jeder fühlt, daß etwas Neues geschehen muß, aber es sind die verschiedensten Ideen im Widerstreit. Letztlich kann dann eine ganz kleine entschlossene Gruppe, die im Sinne unserer Deutung den Fluktuationskern darstellt, das instabil gewordene System in eine neue Richtung drängen und so schließlich das System in einen neuen geordneten Zustand überführen."
Hier werden die in der Gesellschaft wesentlichen Klassenbeziehungen einfach verleugnet und sogar die Naturwissenschaft falsch interpretiert - denn die Verzweigungen besitzen schon in der Biologie eine Bewertung.
Diese Auseinandersetzung möchte ich nicht weiter ausbauen, denn als Praxisvertreter kommt es mir nun ganz besonders auf "den dritten Mann" (E.Hahn) an - die Realität.

In dieser ist die alte Weisheit von Volker Braun jetzt nicht mehr zu überhören: ES GENÜGT NICHT DIE EINFACHE WAHRHEIT !
Sein Schriftstellerkollege J. Nowotny sagte auch bereits auf dem X. Schriftstellerkongreß, es sei "
die sozialistischste aller Tugenden: die sich Alternativen schafft und sich dann für die günstigste entscheiden kann."
Haben wir das je erlebt? Ich wollte eigentlich meine Studien in der Praxis mit dem Abklopfen der Realität diesbezüglich in der FDJ fortsetzen - aber hier hat mich die Zeit überholt.

"Und durchgesetzt hat sich in der Geschichte stets die Gesellschaftsordnung, die dem Subjekt die besten Entfaltungsmöglichkeiten gab," las ich von Günter Söder aus den Dokumenten einer wissenschaftlichen Arbeitskonferenz. Aber man mußte solche Zitate schon sehr suchen. Es scheint mir so, als bestimmten diese Prinzipien nicht das Programm theoretischer Arbeit oder gar politischer Anwendungen.
Ansätze dazu haben wir innerhalb der FDJ mit dem "FDJ-Aufgebot DDR 40" in Angriff genommen. In meinem (zum Wettbewerb) eingereichten Beitrag habe ich diese Grundgedanken versucht herauszuarbeiten.

In der Praxis der letzten Wochen - und da kann ich aus meiner Sicht natürlich nur für meinen Kreis sprechen - mußte ich allerdings feststellen, daß diese progressiven Ansätze innerhalb des vorhandenen gesamtgesellschaftlichen Umfelds nicht "griffen". Das ist ein Ergebnis der Tatsache, daß die Interessenvermittlung zumindest auf betrieblicher Ebene nicht funktioniert und infolgedessen weder die FDJler noch die staatlichen Leiter ein eigenes Interesse an der Qualifizierung der FDJ-Arbeit haben. Meiner Erfahrung nach wurde das Prinzip "der Jugend Vertrauen und Verantwortung" nur verkürzt gesehen und es wurde nicht beachtet, daß zum Vertrauen das Ermöglichen von wirklichen eigenen Entscheidungen gehört - und Verantwortung nur wirksam wird, wenn ihr eigene - selbsterkämpfte - Entscheidungen zugrundeliegen.

Die Nichtbeteiligung an der Entscheidungsfindung führt zu Verantwortungslosigkeit. Politisch-ideologische Arbeit würde nur über die gleichzeitige Teilnahme an Entscheidungsprozessen zu Verantwortungsbewußtsein, Klassenstandpunkt und Überzeugungen führen.


Abbildung 2a: (Abkürzungen siehe u.)
Teufelskreis von Mißerfolgen, Demotivation, Passivität, fehlenden Triebkräften, Mißerfolgen...

Abbildung 2b:
Appelle, Agitation und Agitation ermöglichen keine Leistungssteigerung - nur die eigene Entscheidungsbeteiligung würde eine positive Rückkopplung ermöglichen...

 

Jetzt - und so steht es auch in der Jungen Welt vom 30.10. - geht es um das Überleben der Freien Deutschen Jugend. Politik - zu lange als Anpassungszwang praktiziert - hat sich diskretitiert. Die FDJ als politischer Jugendverband muß hart arbeiten, um wieder eine gesellschaftliche Wirksamkeit zu erhalten. Und dazu - auch das steht in der Jungen Welt - "müssen wir es schaffen, immer drei, vier Schritte vorauszudenken" ohne dabei wieder in eine Art Gängelei nach der Entscheidung am grünen Tisch zu verfallen.
Aber wir dürfen auch nicht mit der Ausrede, nicht gängeln zu wollen - eine spontane Entwicklung dem Selbstlauf zu überlassen!

Besonders prägnant zeigt sich die Problematik auf meinem "Spezialgebiet", der ideologischen Arbeit.
Hier muß sich endlich durchsetzen, daß sie nicht auf Belehrung, Ideenübertragung oder Werbung zu reduzieren ist. Daß Diskussionen nicht geführt werden dürfen mit dem Ziel, daß alle am Ende die eigene - als einzig wahre vorausgesetzt - Meinung annehmen.

Methodisch darf sie sich nur als gemeinsamer Suchprozeß nach Zusammenhängen, Wissen, Standpunkten verstanden werden. Und ein neues Herangehen darf nicht gekennzeichnet sein von einem Zurückweichen vor inhaltlichen Anforderungen, dem Versanden in einer allgemeinen Quatschrunde.
Es geht um die BEFÄHIGUNG ZUR EIGENEN ENTSCHEIDUNG IM SINNE DES GESELLSCHAFTLICHEN FORTSCHRITTS. Leistet die ideologische Arbeit das, dann trägt sie wesentlich zur Persönlichkeitsentwicklung bei. Endlich nicht mehr verstanden als einfache Anpassung, sondern zielend auf einen schöpferischen, den Widerspruch als Triebkraft suchenden Menschen als Subjekt des Geschichtsprozesses.

Um diese Prozesse zu bewältigen, würde ich mir eine schnellere und effektivere Überleitung gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse in allen Leitungsebenen wünschen. Wir brauchen bessere inhaltliche Argumentationen, brauchen aber auch den Vorlauf, um neue Strukturen, Ideen, Varianten abklopfen zu können auf ihre prinzipielle Haltbarkeit. Das brauchen wir neben der Phantasie, um uns sachlich fundiert einbringen zu können in den bewußtseinsbildenden Prozeß in den gegenwärtigen und künftigen Dialogen.

Abbildung 3: aktuelle Notwendigkeit, theoretischen Vorlauf, Überzeugungskraft und Phantasie mit dem Dialog und wirklich demokratischer Entscheidungsfindung zu vereinen und auf diese Weise zu schnellen Veränderungen zu kommen. Dabei kann es aber passieren, daß das Aufnehmen von Schulden, um ökonomisch schnelle Veränderungen zu erreichen, im Gegenzug allerdings den Spielraum ("MF" für Möglichkeitsfeld) für demokratische Entscheidungsfindungen verkleinert... (Abkürzungen siehe u.)
Nicht zuletzt geht es uns als Leitung darum, eine Führung aus einer begründeten Kompetenz heraus wahrnehmen zu können.

   

Abbildung 4: Argumentation zur "Wende" (innerhalb des Sozialismus verstanden)(Abkürzungen siehe u.)

/1/ H.Hörz, K.-F. Wessel, Philosophische Entwicklungstheorie,Berlin 1983
/2/ H.Haken in: Evolution und Freiheit, Hrsg.: Koslowski, Kreuzer, Löw, Stuttgart 1984

Annette Schlemm, am 31.10.1989

Aus dem Notizzettel...:

Bemerkungen (1999):

Abkürzungen in den Abbildungen:
Abbildung 2: LP: Leistungsprinzip
Abbildung 3: MF: Möglichkeitsfeld (ein Begriff, der zum statistischen Gesetzesbegriff gehört)
Abbildung 4: DdP: Diktatur des Proletariats, TK: Triebkräfte

Hier ist jetzt...: Die Deutsche Zeitschrift für Philosophie hat zwar damals meinen Beitrag zum Abdruck erbeten, wollte aber nur den theoretischen Teil (über den Gesetzesbegriff) drucken, auf keinen Fall die politischen Schlußfolgerungen. Deshalb verzichtete ich darauf.

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Physiker: Tatsächlich verwendete ich damals völlig selbstverständlich die männliche Form der Berufsbezeichnung. Beruf ist Beruf, Wissen ist Wissen - ich sah da keine Spezifik oder Diskriminierung als Frau.

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Christa: war auch Schülerin der Frauensonderklasse der Bezirksparteischule 1988, die sich - als ich Probleme bekam - für mich einsetzte. Sie nahm sich in der Zeit danach das Leben.

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Dynamischer Aspekt des statistischen Gesetzes: bestimmt die Möglichkeit des Gesamtsystemverhaltens, die als Tendenz NOTWENDIG verwirklicht wird. Der stochastische und probabilistische Aspekt - damit das Offene der Zukunft, die Variabilität, die Möglichkeitsfelder gehen bei der Betrachtung oft verloren.

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Demokratischer Zentralismus: Organisationsprinzip der SED: Einheit von Zentralismus und innerparteilicher Demokratie (was halt damals darunter verstanden wurde)

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FDJ-Aufgebot: Solche Hau-Ruck-Aktionen sollten neue Impulse verleihen, waren aber im allgemeinen nur formale Höhepunkte, die mit viel Krampf "abgearbeitet" wurden. In meinem unmittelbaren Erfahrungsbereich, der Uni Jena, gab es damals aber tatsächlich den Versuch und auch von der Parteileitung her die besten Bedingungen, etwas Vernünftiges daraus zu machen. Daß das damals viel zu spät und viel zu naiv war, wissen wir jetzt besser...

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Leitung: Spätestens hier zeigt sich die Halbherzigkeit meines damaligen Ansatzes. Die Führungsrolle stellte ich angesichts der Frage, wie sonst die Komplexität der Gesellschaft bewältigt werden könnte, noch nicht in Frage.

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Wem beim Überlesen dieses Textes Erinnerungen gekommen sind, wie sie/er die damalige Situation erlebt, vor allem: was es vorher an Debatten zum Gesetzesbegriff gab, kann mit gern schreiben. Ich möchte dieses Thema in den nächsten Monaten ausführlicher bearbeiten. Also bitte: Schreiben!!!
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