Um welches Wissen geht es?
Von radikaler Wissenschaftskritik und der Suche nach neuen Weisheiten
- Beitrag zur Konferenz „Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft“
vom 3.-5.Juni 2005 in Chemnitz

Wissen ist nichts, was einfach vorhanden wäre. Im Kapitalismus ist es eine Ware wie jede andere und wie bei allen Waren bleibt auch ihr Inhalt nicht von der Warenform unberührt. Macht es überhaupt Sinn, sich Sorgen über die „Bedeutung von Wissen und Bildung“ in der modernen Gesellschaft zu machen oder gilt es nicht viel eher, in der kritischen Negation zu verharren, also quasi erst einmal „alles zu zertrümmern“ wie es Robert Kurz fordert? Oder können wir wenigstens schon teilweise über die Warenform hinaus? Vielleicht ist Wissen gerade der richtige Weg, auf dem uns das gelingen kann? Was meinte Ernst Bloch mit seiner Orientierung auf „Allianzwissen“? Was bedeutet es überhaupt Wissen zu schaffen?

Die Konferenz zu „Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft“ geht von einer maßgeblichen Rolle von Wissen und Bildung für ein „selbstbestimmtes Leben, beruhend auf der Teilhabe aller an den entscheidenden Bedingungen der Freiheit des Einzelnen“[1] aus. Es soll dabei vor allem um die Frage der Teilhabe, des Zugangs, des Eigentums an Wissen und Bildung gehen. Ich möchte explizit die Frage aufwerfen, ob wir so tun sollten, als sei das, was in dieser Gesellschaft als „Wissen und Bildung“ firmiert, schon dasjenige, was die eben genannte Rolle für ein selbstbestimmtes Leben ausfüllen kann.

Der Begriff des „Wissens“ ist in diesem Zusammenhang meist nicht eindeutig bestimmt. Meistens wird es von einfachen Daten und auch kontextbezogenen Informationen (vgl. bei von Müller 1997) durch höhere Ansprüche unterschieden. Es gibt beispielsweise die Kennzeichnung von Wissen als „systematische Verknüpfung von Informationen dergestalt, dass prognostische oder explanatorische Erklärungen abgegeben werden können“ (v. Müller 1997) oder als „Gesamtheit der Kenntnisse und Fähigkeiten, die Individuen zur Lösung von Problemen einsetzen“  (Probst et al. 1998). Als Gemeinsamkeit dieser Definitionen kann auf die Systematik von Verknüpfungen von Informationen und den problemlösenden Charakter von Wissen verwiesen werden. Außer der eher alltagssprachlichen Verwendung des Wortes „Wissen“ gibt es einen Bereich, der sich ganz explizit der Erzeugung von  Wissen verschrieben hat. Eine einfache Bestimmung von Wissenschaft sieht in ihr eine „Lehre, die die allgemeinen Erkenntnisse eines Bereiches darstellt“ (Seiffert, Radnitzky 1992: 394). Wir müssen nun die Frage stellen, ob all diese Sätze über das Wissen dasselbe meinen oder wie ihre Aussagen miteinander zusammen hängen. Eine präzisere Darstellung des Wissenschaftsbegriffes gibt beispielsweise Hubert Laitko. Er kennzeichnet die Wissenschaft als „Bereich der geistigen Produktion der Gesellschaft, der auf die rationale Ab­bildung allgemeiner, notwendiger und wesentlicher Zusammenhänge der objektiven und der subjektiven Realität sowie der Wechselbeziehungen zwischen beiden gerichtet ist“ (Laitko 1996: 872). Wir sehen, dass jeweils durchaus verschiedene Momente von Wissen betont werden. Dieser Unterschied ist wichtig. So betonte Theodor W. Adorno schon 1966, dass es in allen Bildungs- und Erziehungsfragen primär um die inhaltlich-zielorientierte Frage: „Bildung/Erziehung wozu?“ gehen muss (Adorno 1066: 105). In der Managementliteratur begegnet uns Wissen vorwiegend in seiner problemlösenden Funktion im Wirtschaftszusammenhang; die Wissenschaft betont eher den Erkenntnisaspekt und die Rolle von Allgemeinheit und Wesentlichkeit. Die Tabelle 1 zeigt diese Unterscheidung.

Wissen in der Managementliteratur

Wissen der Wissenschaft

-           systematisch

-           problemlösend

 

(Wissen als Produktionsfaktor)

-           systematisch

-           aufs Wesen zielend

 

(setzt Unterschied Wesen – Erscheinung[2] voraus)

Tabelle I: Unterscheidung verschiedener Wissensbegriffe

Natürlich gibt es zwischen beiden Wissensformen Übergänge. Um diese genauer zu spezifizieren, führe ich im Folgenden eine andere Unterscheidung von Erkenntnis- und Wissenstypen ein. Oft wird angenommen, dass die Erkenntnis mit unmittelbaren Wahrnehmungen beginnt. So könnten etwa drei Blinde über ihren Erkenntnisgegenstand äußern: „Also für mich ist das ein Schlauch mit Rillen“. „Nein, das ist eher eine rauhe Wand“. „Ach nein, für mich ist das ein Strick mit Quaste“. Diese Beschreibung von Wahrnehmungen wird auch nicht viel besser, wenn die Blinden sehen könnten, es vereinfacht nur das Beispiel. Wir werden darauf zurück kommen. Auch Blinde jedoch können die Begrenztheit ihrer Wahrnehmungsfähigkeit – die ebenfalls bei allen Menschen vorliegt, auch wenn sie aller biologischen Sinne mächtig sind – umgehen, indem sie ihre Beobachtungen systematisch zusammentragen und auswerten. Daraus ergibt sich die Erkenntnis, dass der Schlauch und die  Quaste jeweils einen konstanten Abstand um die 6 Meter haben. „Für alle Schläuche gilt, dass sie 6 m von der Quaste entfernt sind“ – damit haben sie den Prototypen eines wissenschaftlichen Gesetzes gefunden. Hier werden relativ stabile und verallgemeinerbare Zusammenhänge gefunden, die für die Objekte notwendigerweise gelten. Hier hört die Wissenschaft meistens schon auf. Aber wir ahnen, dass dies noch nicht der Weisheit letzter Schluss sein wird. Tatsächlich haben die drei ihren Gegenstand erst dann angemessen begriffen, wenn sie erkennen, dass sie von einem Elefanten reden. Das Begreifen ihres Gegenstandes als „Elefant“ ist die (erst einmal) höchste Wahrheit. Mit diesem Begriff wird die Wahrheit der Wahrnehmungen und auch die Wahrheit der gesetzmäßigen Zusammenhänge gefunden, der Begriff erklärt nun auch die Gesetzmäßigkeiten (Elefanten sind durchschnittlich 6 Meter lang) und die unmittelbaren Wahrnehmungen(als Rüssel, Haut und Schwanz). Wir stellen die drei aufeinander folgenden Erkenntnisschritte in der Tabelle 2 dar. Die unmittelbare Wahrnehmung gibt eine erste Antwort auf die Frage, „Was ist das?“. Mit dem Begriff haben wir eine zweite, wahrhaftigere Antwort auf die „Was-„Frage.

 

 
 

 

 

 


unmittelbar

„was I“ wahrgenommen wird

 

 

 

 

gesetzmäßige

Zusammenhänge

Begriff „Elefant“

= „was II“

¬ erklärt, warum  ¬              ¬ erklärt, warum  ¬

Tabelle 2: Wenn Blinde erkennen

Da jedes Beispiel mangelhaft ist, erweitern wir es ein wenig, um vor allem beim „Begriff“ eine wesentliche Ergänzung unter zu bringen. Richtige wissenschaftliche Erkenntnis wird ja nicht von den Wahrnehmungen von Blinden ausgehen, sondern z.B. davon, dass wir die einzelnen Elefanten (was I) in ihren ökologischen Zusammenhängen (Gesetze) untersuchen und die höchste Wahrheit erreichen wir, wenn wir diese Zusammenhänge innerhalb der Gesamtheit der Entwicklungsverhältnisse der irdischen Biosphäre (was II) zu begreifen lernen. Das, was zuerst nur der „Begriff“ war, zeigt sich hier als Entwicklungszusammenhang und es ist zu betonen, dass alle „Begriffe“ in diesem Sinn auf keinen Fall statische Momente sondern gerade jene Entwicklungszusammenhänge sind, aus denen sich die Gegenstände der Vorformen der Erkenntnis in ihrer Spezifik erklären.[3] Der Zusammenhang mit der von Hegel unterschiedenen „Seinslogik“, „Wesenslogik“ und „Begriffslogik“ ist nicht zufällig (vgl. Schlemm 2002).

Der gewählte Ausgangspunkt bei den unmittelbaren Wahrnehmungen hat zwei Probleme. Er soll zwar den Realismus der Erkenntnis absichern, aber in Wirklichkeit werden die „Fakten“ immer schon physiologisch und im Gehirn verändert und im Erkenntnisprozess auch von vor diesen Erfahrungen vorliegenden Mustern ( a priori) geformt. Außerdem zeigt es sich, dass auf der Ebene der unmittelbaren Wahrnehmungen keine ausreichende Verständigung erreicht werden kann, sondern dazu sind höhere Ebenen der Erkenntnis notwendig.

Wir sehen dies, wenn wir die drei Erkenntnisweisen noch einmal in Bezug auf die jeweils erreichte Wahrheitsfähigkeit betrachten:

unmittelbar
„was I“ wahrgenommen wird

gesetzmäßige
Zusammenhänge

„was II“
(„Begriff“ = Entwicklungszusammenhang)

¬ erklärt, warum  (begründet) ¬              ¬ erklärt, warum  (begründet) ¬

Wahrnehmungen,
Fakten,
Quellen,
Beispiele

Gesetze: sind noch nicht die ganze Wahrheit

(„Es genügt nicht die einfache Wahrheit“, Volker Braun)

„Wahrheit“:
Einheit von (als sich entwickelnd begriffenem) Sein

und
(dialektischem) Denken

Tabelle 3: Die Wahrheitsfähigkeit

Die unmittelbare Wahrnehmung, die oft auch auf der Ebene des Diskutierens mit Hilfe von Beispielen, zum Garanten für Wahrheit erklärt wird, erweist sich als unzureichend. Irgendwie ist es schon nicht falsch, beim Rüssel eines Elefanten einen „Schlauch mit Rillen“ zu ertasten – aber in diesem Beispiel erkennen wir die Mangelhaftigkeit solcher Erkenntnis deutlich. Wir wollen nicht nur eine Beschreibung der Welt, wie sie ist, sondern wir suchen auch nach Erklärungen dafür und wollen prognostizieren, was noch geschehen kann. Dies wurde ja auch in der Definition von Wissen bei von Müller (siehe oben) gefordert und es entspricht der Suche nach Gesetzen, deren Bedeutung sich vor allem aus ihrer erklärenden und prognostizierenden Funktion ergibt.

Aber auch das ist noch nicht die ganze Wahrheit. „Es genügt nicht die einfache Wahrheit“ – mahnte der Dichter Volker Braun einst in der DDR. Zumindest in der Erkenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge[4] muss das Konstatieren statischer Gesetzmäßigkeiten auf Kritik stoßen – alle Zusammenhänge sind als historisch und damit in ihren Entwicklungspotenzen nachzuweisen.

Wahre Erkenntnis erfasst dann nicht mehr nur den Zusammenhang zwischen statischen Dingen und ebenso statischen Aussagen darüber, sondern den zwischen sich als entwickelnd begriffenen Gegenständen und dialektischem[5] Denken.

Die beiden höheren Formen der Erkenntnis haben eins gemeinsam: Sie lösen sich von der Unmittelbarkeit der ersten Stufe und erkennen nicht nur, was gerade faktisch gegeben ist, sondern, was möglich ist. Gesetze sagen nicht nur, was gerade Fakt ist, sondern sie sagen, was unter gegebenen Bedingungen möglich ist. Sie sagen etwas über Möglichkeiten unter gegebenen Bedingungen. Aber erst in Entwicklungszusammenhängen selbst wird auch in den Blick genommen, dass sich die Bedingungen selbst ändern. Was beiden höheren Formen gemeinsam ist, ist das Interesse an den Spielräumen des Möglichen. Schon wenn ich Gesetze erkenne, erfahre ich dadurch keine eindeutigen Befehle, wie zu handeln sei (auch wenn Gesetzeserkenntnis in dogmatischer Weise manchmal so verstanden und interpretiert wird), sondern ich erfahre etwas über Handlungsmöglichkeiten unter bestimmten Bedingungen. Auch in fest gegebenen Rahmenbedingungen haben die Elemente des betrachteten Systems durchaus unterschiedliche Möglichkeiten, sich zu verhalten (siehe die statistische Interpretation des Gesetzesbegriffs nach Hörz 1974: 365-366). Noch spannender wird es dann aber bei Entwicklungszusammenhängen. Hier sind qualitative Umbrüche der die Grundqualität kennzeichnenden wesentlichen Zusammenhänge zu berücksichtigen, deren Aufeinanderfolge nicht einfach „gesetzmäßig“ aufeinander folgt, sondern bei denen das zusätzliche Wirken von „sich auszeichnenden Einzelnen“ (Niedersen 1988: 51) in sog. „Bifurkationspunkten“ zu berücksichtigen ist. Dabei verändern sich die Bedingungen selbst grundlegend und es entstehen neue Grundqualitäten mit neuen wesentlichen Zusammenhängen, also Gesetzmäßigkeiten.

Diese drei Erkenntnisweisen hängen eng mit dem jeweiligen Horizont des eigenen Handelns zusammen. Die erste Erkenntnisweise bleibt im Unmittelbaren gefangen, sie folgt dem gesellschaftlich vorstrukturierten Anpassungsdruck oft bis zur Selbstverleugnung. „Dadurch, daß der Anpassungsprozeß so maßlos forciert wird von der gesamten Umwelt, in der die Menschen leben, müssen sie der Anpassung gleichsam sich selber schmerzhaft antun, den Realismus sich selbst gegenüber übertreiben und, mit Freud zu reden, sich mit dem Angreifer identifizieren.“ (Adorno 1966: 110) Auf Grundlage erkannter Gesetze unter festen Bedingungen können die Möglichkeiten innerhalb dieser Grenzen ausgelotet und ausgenutzt werden. Aber erst in der höchsten Stufe, dem Begreifen von Entwicklungszusammenhängen, können auch die Bedingungen selbst hinterfragt und auf ihre Veränderung orientiert werden.

„Sei realistisch!“

Anerkennung der faktischen „Realiät“

Anpassungsdruck

„Erkenne das Mögliche!“

(innerhalb der gegebenen Bedingungen)

„Verändere die
Rahmenbedingungen“

Tabelle4: Handlungshorizonte

Die beiden höheren Erkenntnisformen (Gesetze und Entwicklungen) unterscheiden sich von der reinen Beschreibung der Fakten dadurch, dass sie anzeigen, dass die Welt veränderbar ist. In der Gesetzeserkenntnis geht es dabei um die verändernde Ausnutzung der Möglichkeiten innerhalb von Rahmenbedingungen – in der Erkenntnis von Entwicklungszusammenhängen zusätzlich um die Veränderbarkeit der Rahmenbedingungen. Wir können hier an eine weitere Bestimmung von Wissenschaft anschließen, die Hubert Laitko gegeben hat: Er betonte als Leistung der Wissenschaft die „objektive Erforschung der Veränderbarkeit“ (Laitko 1979: 84).

Das gewünschte Maß an Veränderbarkeit hängt nun durchaus von der konkreten Gesellschaftsordnung ab. Im Kapitalismus besteht das Ziel allen Wirkens in der Kapitalakkumulation. Das wirkt sich auch auf die Wissenschaft im Kapitalismus aus. Karl Marx nennt die Folgen: „Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt“ (Marx, Engels Man.: 465). Im Kapitalismus besteht durchaus ein sehr großes Interesse an einer profitablen Veränderbarkeit der Welt. Da der Zweck dieser Veränderung nicht in der Erhöhung der Qualitäten der Welt (der Menschen und der außermenschlichen Natur) liegt, sondern in der Kapitalakkumulation als Selbstzweck, wird diese Art des Interesses an einer Veränderung auch „instrumentell“ genannt. In dieser instrumentellen Absicht wird auch im Kapitalismus Wissenschaft als Erforschung der objektiven Veränderbarkeit der Welt gefördert.[6]

Wir sollten also bei „Wissen und Bildung“ nicht nur an die Verwertbarkeit im kapitalistischen Wirtschaftsprozess denken. Wissenschaft darf auch nicht nur auf die pragmatischen, das heißt problemlösenden, aber nicht Bedingungen in Frage stellenden Momente reduziert werden.

Was wir zu verlangen und zu befördern haben, ist die Orientierung auf eine andere Art von Veränderbarkeit, die Veränderung der Bedingungen selbst. Das wäre das Kennzeichen einer kritischen, zeitgemäß emanzipativen Wissenschaft. Damit haben wir auch eine aktuelle Beantwortung der Fragen von Adorno: „Wissen wozu?“, „Bildung wozu?“. Auch Für Karl Marx stellte sich die Frage nach einer gänzlich anderen, einer revolutionären Wissenschaft. Erst in einer neuen Gesellschaftsordnung wird sie sich vollständig ausprägen können: „Von diesem Augenblick an wird die Wissenschaft bewußtes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden“ (Marx Elend: 143).

Die Vorstellung einer revolutionären Wissenschaft ist selbst schon eine Kritik der vorhandenen, instrumentellen. Worauf aber hat die Kritik zu zielen? In linken Kreisen ist es zumindest üblich, den Mißbrauch der Wissenschaft im Kapitalismus anzuklagen. Das Gravitationsgesetz aber sollte doch in allen Gesellschaftsformen das gleiche sein, oder? Beim gesellschaftlich-ökonomischen Wertgesetz wurde eine lange Zeit ebenso gedacht – hier hat sich die Ansicht größtenteils geändert. Eine freie Gesellschaft organisiert ihre Wirtschaft nicht mehr über das ökonomische Wertgesetz, sondern über konkrete, selbstbestimmt vermittelte Bedürfnis-Produktions-Vernetzungen. Sollte es auch eine andere „revolutionäre Naturwissenschaft“ geben? Was auf jeden Fall gesellschaftlich bestimmt ist, ist die Zielstellung, aus der sich auch die konkreten Fragestellungen ableiten. Wissenschaft im Kapitalismus ist profitorientiert und den Kapitalismus als ewige, quasi „natürliche“ Tatsache darstellend. Es wird zwar über Möglichkeiten gesprochen, aber nur innerhalb der Systemlogik und innerhalb zu akzeptierender Schranken. Entwicklung wird in autopoietisch-ewige Sichselbsterzeugungen gezwängt und veränderbaren Verhältnisse als statische Dinge interpretiert.

Wenn wir wieder die drei Erkenntnistypen in ihrer Aufeinanderfolge erinnern, so sind die ersten beiden Erkenntnistypen nicht grundsätzlich zu denunzieren. Auf Grundlage bestimmter (möglichst bewußt gemachter, transparenter) Erkenntnisvoraussetzungen (z.B. den Zustandsgrößen in der Physik oder gesellschaftstheoretischen Begriffen) ist es in der Erkenntnis durchaus notwendig, vorhandene Fakten aufzunehmen und wesentliche Zusammenhänge als Gesetze zu ermitteln. Was zu kritisieren ist, ist jeweils ein Verharren und das Absolutsetzen einer früheren Stufe. Besonders für ein Verharren in der Faktizität des Gegebenen stellte Adorno gefährliche Folgen fest. Er konstatiert, dass die „beflissene Anpassung ans je Geltende“ und der „Glaube an Bestehendes um jeden  Preis“ typisch war und ist für die formale Beschaffenheit des Denkens im Nationalsozialismus (Adorno 1962: 39). Als verdinglichtes Bewusstsein ist so eine Denkweise sogar außerstande, Erfahrungen zu machen, die das vorgegebene Bild der Wirklichkeit verschieben könnten (ebd.: 37). Wir kennen eine schwächere Form dieser Logik darin, wenn in Meinungsäußerungen immer wieder Bezug auf „Beispiele“ genommen wird, die dem eigenen Argument gerade entgegen kommen sollen, ohne dass wirklich nachgedacht wird über tiefere zugrunde liegende Zusammenhänge. „Das Individuum wird mündig überhaupt nur dann, wenn es aus der Unmittelbarkeit von Verhältnissen sich löst, die keineswegs naturwüchsig sind, sondern bloß noch Rückstand überholter historischer Entwicklung, eines Toten, das nicht einmal von sich selbst weiß, daß es tot ist.“ (Adorno 1962: 43) Der Weg zur Mündigkeit, zu tieferer und weiterer Erkenntnis erfordert „schmerzliche Anstrengung“ (Adorno 1959: 22) des Überschreitens von Schranken, deshalb wird er nur allzuoft vermieden.

Aber auch das Verharren auf der Erkenntnis gesetzmäßiger Zusammenhänge, ohne deren Entwicklungspotenzen zu berücksichtigen, ist noch nicht ausreichend. Die Gesetzmäßigkeiten zeigen zwar instrumentelle Veränderbarkeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten, aber angesichts der derzeitigen kapitalistischen Zielsetzungen der Forschungen in allen Gebieten stellt sich die Frage: „Ist es überhaupt möglich, Wissenschaften, die offensichtlich so tief mit westlichen, bürgerlichen und männlich dominierten Zielvorstellungen verbunden sind, für emanzipatorische Zwecke einzusetzen?“ (Harding 1990: 7)

Die feministische und auch ökologische Wissenschaftskritik waren sich schnell klar darüber, dass nicht nur ein Mißbrauch von Wissenschaft und Technik zu beklagen sind, sondern die rationale Vernunft und Wissenschaft auch inhaltlich nicht unbefleckt bleiben. Alfred Sohn-Rethel enthüllte einen Zusammenhang zwischen Warenform und Denkform (Sohn-Rethel 1978) und neuerdings macht Robert Kurz besonders gegen die „blutige Vernunft“ der Aufklärung Front (Kurz 2004).

Ich möchte im Folgenden Bezug nehmen auf Erkenntnisse von Ernst Bloch, denn sie ermöglichen eine differenzierte Darstellung der Problematik. Auch er hat einen sehr kritischen Blick auf Wissenschaft und Technik im Kapitalismus: „Alle Segnungen der bürgerlichen Technik sind sozusagen ein Nebenprodukt des Profitstrebens und haben an diesem ihre Grenze; konkrete wie kulturbezogene Entfesselung der Produktivkräfte geschieht erst in einer anderen Gesellschaft. Ebenso hat die bürgerliche Naturwissenschaft das Denken des bloßen Warenumlaufs in sich, die Kontemplation, die Verdinglichung, den Quantitäts-Fetischismus, den „Tatsachen“- und bloß starren „Gesetzes“-Begriff, der Berechnung und Ausnützung bloßer Chancen innerhalb einer starren Gesetzlichkeit.“ (Bloch AOP: 36) Ernst Bloch bleibt bei dieser Kennzeichnung der Kritikwürdigkeit der Wissenschaft im Kapitalismus aber nicht stehen. Er schreibt an anderer Stelle: „Es gibt zwei Arten, sich stoffgemäß zu verhalten. Die eine ist kühl und entzaubernd, die andere voller Vertrauen. Die eine zerreisst den Schein der Dinge, die andere ergibt sich dem wirklichen Gang der Dinge und ist gewiss, dass er gut zu werden verspricht. Beide Haltungen sind gleich wichtig, sind in jedem echten Marxisten, wechselwirkend, vereinigt.“ (Bloch LM: 170) Es gibt demnach auch in den Naturbetrachtungen einen „Wärmestrom“ und einen „Kältestrom“ (Bloch MP: 316).[7]

Ernst Bloch will nun nicht einfach den Kältestrom negieren, sondern er schreibt ihm zwei unterschiedliche Quellen zu. Die eine ist eindeutig die „imperialistische Vereinnahmung“ durch die kapitalistische Gesellschaft (ebd.: 340). Aber der Kältestrom hat auch mit der Verfasstheit der Erkenntnisgegenstände selbst zu tun. Auch das „Gewordensein“ und „vorläufige Gebanntheit“ (Bloch LM: 329) kommt der Natur zu. Deshalb gilt: „Wahrscheinlich entspricht der quantitativen Mechanik ein Sektor im Naturkreis selbst, der konstitutiv durch den Kalkül getroffen wurde“ (ebd.: 411). Dem Moment des Werdens und der Entwicklung entspricht der „Wärmestrom“. Eine ihm angemessene Erkenntnis muss Abbildung als Fortbildung darstellen (Bloch EM: 60); Erkenntnis wird dann zum Schlüssel und Hebel der Veränderung der Welt (Bloch AOP: 277) und öffnet eine „Tür zur möglichen Naturallianz“ (Bloch PH: 813).

Wir haben also deutlich zu unterscheiden zwischen den Momenten der gegenwärtigen Wissenschaft, die zu negieren sind und denen, die zu bewahren und weiter zu entwickeln sind. die Möglichkeiten, den Wärmestrom zu verstärken, hängen  stark von den gesellschaftlichen Entwicklungen ab. Schon unter beschränkten Bedingungen ist es möglich und notwendig, neben der Abwehr von direktem Mißbrauch einen kritischen Charakter aller Wissenschaften zu entwickeln. Das verlangt die Erkenntnis und das Öffentlichmachen der gesellschaftlichen und auch der epistemischen Voraussetzungen der Wissenschaft. Die Marxsche Vision von der Wissenschaft als „Wissenschaft vom Menschen“ (Marx ÖPM: 544) ist in diesem beschränkten Rahmen wahrscheinlich nur ansatzweise entwickelbar; aber wahrscheinlich ist es notwendig, damit zu beginnen um die Schranken überhaupt überwinden zu können.

 

Literatur:

Adorno, Theodor W. (1959): Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 10-28.
Adorno, Theodor W. (1962): Philosophie und Lehrer. In: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 29-49.
Adorno, Theodor W. (1966): Erziehung – wozu? In: Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 1971. S. 105-119.
Bloch, Ernst (AOP): Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie. Werkausgabe Band 10.Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 1985.
Bloch, Ernst (EM): Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis. Werkausgabe Band 15.Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 1985.
Bloch, Ernst (LM): Logos der Materie. Eine Logik im Werden. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 2000.
Bloch, Ernst (MP): Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz. Werkausgabe Band 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 1985.
Bloch, Ernst (PH): Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe Band 5. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 1985.
Harding, Sandra (1990): Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht. Hamburg: Pahl-Rugenstein.
Hörz, Herbert (1974): Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften. Berlin: Akademie-Verlag.
Robert Kurz (2004): Blutige Vernunft. Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer westlichen Werte.
Bad Honnef: Horlemann.
Laitko, Hubert (1979): Wissenschaft als allgemeine Arbeit Zur begrifflichen Grundlegung der Wissenschaftswissenschaft. Berlin: Akademie-Verlag.
Laitko, Hubert (1996): Stichwort „Wissenschaft“. In: Philosophie und Naturwissenschaften. Wörtberbuch. zu den philosophischen Fragen der Naturwissenschaften. Herausgegeben von J. Hörz, H. Liebscher, R. Löther, E. Schmutzer, S. Wollgast. Bonn: Fourier-Verlag. S. 972–980.
Marx, Karl; Engels, Friedrich (Man): Manifest der kommunistischen Partei. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Band 4. Berlin: Dietz-Verlag 1959.
Marx, Karl (Elend): Das Elend der Philosophie. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Band  4. Berlin: Dietz-Verlag 1959.
Marx, Karl (KapIII): Das Kapital. Dritter Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Band 25. Berlin: Dietz-Verlag 1989.
Marx, Karl (ÖPM): Ökonomisch-philosophische Manuskripte. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Band 40. Berlin: Dietz-Verlag 1990.
Niedersen, Uwe (1988): Ordnungsgesetzlichkeit und komplexographisches Handeln. Fallbeispiel: Einige Phasen der Persönlichkeitsentfaltung und des Schaffensprozesses Wilhelm Ostwalds komplexographisch dargestellt. In: Komplexität - Zeit - Methode III. Wachstum. Physikalische Chemie - Historie: Muster und Oszillation (Hrsg.v. U.Niedersen), Halle. S. 40-68.
Probst, G., Raub, S., Romhardt, K. (1998): Wissen managen. Wie Unternehmen ihre wertvollste Ressource optimal nutzen.  Frankfurt am Main : Frankfurter Allg., Zeitung für Deutschland [u.a.].
Schlemm, Annette (2002): Seins-, Wesens- und Begriffslogik bei Hegel. Internet: http://www.thur.de/philo/hegel/hegel3.htm.
Schlemm, Annette (2003): Widersprüche in Naturwissenschaft und Dialektik. Internet: http://www.thur.de/philo/project/widerspruch.htm.
Schlemm, Annette (2005): Wie wirklich sind Naturgesetze? Auf der Grundlage einer an Hegel orientierten Wissenschaftsphilosophie. LIT-Verlag: Münster.
Seiffert, Helmut, Radnitzky, Gerard (1992): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. München: dtv.
Sohn-Rethel, Alfred (1978): Warenform und Denkform. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
von Müller, Albrecht  (1997):
Denkwerkzeuge für Global Player. In: U. Krystek, E. Zur, (Hrsg).: Internationalisierung. Eine Herausforderung für die Unternehmensführung.  Berlin.



[1] Zitat aus der „Agenda Sozial“ der PDS im Aufruf zur Konferenz.

[2] „...alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“ (Marx KapIII: 825)

[3] Eine kleine Ergänzung aus der Sicht der Philosophie der Naturwissenschaften: Hier wird nicht wirklich nach dem Modell: Zuerst unmittelbare Wahrnehmung, danach gesetzmäßige Zusammenhänge, dann Begriffe vorgegangen – sondern hier werden auf der Begriffsebene wesentliche theoretische (z.B. messtheoretische) Voraussetzungen der späteren experimentellen Praxis geschaffen (a priori, (Relativitäts-)Prinzipien, Messgrößen, Raum- und Zeitvorstellungen etc.) und erst davon ausgehend wissenschaftliche Erfahrung organisiert. Diese Erfahrung ist nichtsdestotrotz subjektivistisch-willkürlich, sondern bindet sich mittels Experimenten und Messungen an wirkliche Naturverhaltensweisen zurück (siehe ausführlich Schlemm 2005).

[4] Für die Naturwissenschaften ist diese Fragestellung noch unzureichend untersucht. Aufgrund ihrer spezifischen epistemologischen Grundlagen und Arbeitsweisen ist es zweifelhaft, ob sie dialektische Entwicklungszusammenhänge ausreichend darstellen kann oder sich so verändern kann, dass sie es vermag (Schlemm 2003).

[5] Gemeint ist hier das „spekulativ“-dialektische Denken, das Hegel als begriffslogisches kennzeichnet, nicht das noch mangelhafte Wechselwirkungs-dialektische Denken im Bereich der Wesenslogik, in das die Gesetzeserkenntnis eingebettet ist.

[6] Kapital wird einerseits über Mehrwert akkumuliert, der in der Arbeit erzeugt wurde und andererseits über Mittel, die direkt der Plünderung entstammen (was Marx als „ursprüngliche Akkumulation“ kennzeichnete und von Rosa Luxemburg als weiterhin stattfindend betont wurde). Derzeit liegen die Profiterwartungen weit über denen, die in noch so produktiver Arbeit erwirtschaftet werden können – deshalb liegt das Interesse nicht mehr so stark in der wissenschaftlich gestützten Produktivitätssteigerung, sondern wird immer mehr durch verschiedene Plünderungsformen ergänzt und sukzessive auch ersetzt (Ölkriege statt Solarinnovationen) Dies führt zu einer neuen Etappe des Umgangs mit Wissenschaft, wobei deren Bedeutung für die reale Profiterwirtschaftung sinkt, was ein bisher noch nicht diskutiertes Problem der Wissenschaft im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts ist.

[7] Ernst Bloch hatte solche sich ergänzenden Betrachtungsweisen schon in einem anderen Zusammenhang mit den Worten „Wärmestrom“ und „Kältestrom“ bezeichnet (Bloch EM: 141). Diese beiden Strömungen sind in der Materie selbst angelegt, weil Materie einerseits „nach Möglichkeit“ bestimmt ist und andererseits immer „in Möglichkeit“ – sich ins Offene hinaus weiter entfaltend - ist (Bloch MP: 143; Bloch PH: 238; Bloch EM: 229).



Dieser Text wurde veröffentlicht in: Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V. Leipzig 2005. S. 167-179.


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