Die Raumvorstellung
- fundamental und doch so unbestimmt

In- oder Homogenität?
Sein oder Schein?
     Eleaten und Atomisten
     René Descartes
Absolut oder relativ?
     Isaac Newton
     Gottfried Wilhelm Leibniz
Empirisch oder a priori?

Die Raumvorstellung ist für jede Person fundamental, denn seit sie sich als Baby von ihrer Umgebung zu unterscheiden gelernt hat, gibt ihr der jeweilige Umgebungsraum ihre Bewegungsmöglichkeiten vor. Spätestens in der Schule lernt sie dann, dass nicht alle Raumwahrnehmungen den "wirklichen Raum" wiedergeben. Sie lernt, ein Maßband zu verwenden und stellt erstaunt fest, dass 10 m auf einer horizontalen Strecke in die Ebene hinaus viel kürzer erscheinen als dieselbe mit dem Maßband gemessene Strecke in die Tiefe. Bei einem Adler ist es übrigens umgekehrt - seine Wahrnehmung verkürzt die Höhenmeter im Vergleich zur gleich langen horizontalen Strecke (nur verwirrt ihn das weniger, denn er benutzt kein Maßband).

Das menschliche Wesen jedoch wächst in eine Kultur hinein, in der es eine bestimmte Raumvorstellung quasi mit der Muttermilch aufnimmt. Nicht nur die angeborene gehirnphysiologische Wahrnehmungsverarbeitung im Gehirn bestimmt seinen Raumeindruck, sondern vor allem die kulturell konstituierte und vermittelte Vorstellung vom Raum.

In- oder Homogenität?

  So war es für die Mitmenschen von Aristoteles völlig selbstverständlich, zwischen dem natürlichen und dem himmlischen Raum sauber zu unterscheiden. Während in der himmlischen Welt vollkommene Ordnung und Harmonie, sichtbar in vollkommenen Kreisbewegungen, herrscht, war die irdische Welt von Veränderung und Bewegung gekennzeichnet, wobei hier zwischen "natürlichen Bewegungen" (schwere Körper nach unten, leichte Körper nach oben) und "naturwidriger", d.h. erzwungener Bewegung unterschieden wurde.

 

 
Abbildung 1: Zweiwelten-Vorstellung des Aristoteles (aus: Simoniy 2001: 84)

Nur wer wenigstens ansatzweise die frühere Selbstverständlichkeit dieser Vorstellung nachfühlt, kann die Leistung des Nicolaus von Cues würdigen, der dem gesamten Raum erstmalig Einheitlichkeit und Gleichartigkeit, d.h. Homogenität zusprach. Als sich dann Wissenschaftler daran machten, die Bewegung von Planeten zu erklären, veränderte sich die Raumvorstellung jeweils mit den Erklärungsansätzen. Magnetische Kraftwirkungen bei Kepler oder mechanische Wirbel bei Descartes füllten dabei den Raum.

Sein oder Schein?

Dabei blieb es in der Debatte auch oft unbestimmt, in welcher Weise der Raum überhaupt real sein könnte. Eine wichtige Ausgangsfrage war die nach dem Widerspruch der Bewegung:

Das Bewegte bewegt sich weder in dem Raume, in dem es sich befindet, noch in dem es sich nicht befindet. (Zenon nach Diels 1922: 175). Eleaten und Atomisten

Die Eleaten zogen aus den Zenonschen Paradoxa der Bewegung den Schluss, dass es Bewegung gar nicht wirklich gibt. Bewegungen im Raum sind nur Schein, denn wenn es sie gäbe, würde das Denken in Widersprüche geführt. Für Heraklit, der im Gegensatz dazu in der Realität nur Bewegtheit sah, war Bewegung zwar wahrhaft real, aber dafür nicht erkennbar. Im Atomismus wurde ein anderer Ausweg aus der Widersprüchlichkeit der Bewegung gefunden: Wenn neben den sich bewegenden Atomen noch ein leerer Raum als real existierend angenommen wird, wird die Bewegung widerspruchsfrei denkbar.

Alle Natur, wie sie ist an sich, muß also bestehen Aus zwei Dingen allein. Denn Körper nur gibt es und Leeres, Welches die Körper umfängt und Bahn schafft jeder Bewegung. (Lukrez, Natur: 34) Auf diese Begründung der Existenz des Raumes als Bedingung der Möglichkeit der Bewegung verweist später auch Einstein, denn "... über Bewegung kann man nur in Relation zu einem Bezugskörper sprechen"(Einstein 1919a: 13f.). Auch die Newtonsche Physik beruht auf diesem Gedanken. Vorher sei jedoch kurz daran erinnert, dass einer der anderen Hauptbegründer des neuzeitlichen Denkens eine völlig andere Raumvorstellung vertrat.

René Descartes

Für René Descartes waren Raum, bzw. Ausdehnung und Körper, bzw. Materie identisch (Descartes Prinz. II: 4). Aufgrund dieser Identifizierung von Raum und Materie gibt es keinen "leeren" Raum außerhalb des Körpers. Das verwirrt vielleicht diejenigen, die meinen, unsere gewohnte Vorstellung von Bahnbewegungen im als ansonsten leer anzusehenden "cartesischen Koordinatensystem" entspräche tatsächlich der Raumvorstellung des Descartes.

  Descartes lehnte den Gedanken eines leeren Raumes übrigens nicht primär aus physikalischen Gründen ab, sondern er wollte mit dem leeren Raum den okkulten Kräften und animistischen Vorstellungen ihren Platz und Rückzugsort nehmen (Lojacono 2001: 47). Diese Ablehnung des Wunderglaubens verführte Descartes dazu, überall mechanische Ursachen und

Wirkungszusammenhänge zu sehen und nachweisen zu wollen. Nur direkte Wirkungen von Körpern auf Körper (Stöße) in einem körperlichen Medium sollten wirklich sein. Descartes versuchte mit dieser Vorstellung eine allgemeine hydromechanische Wirbel-Welterklärung zu begründen.

Abbildung 2: Die Weltwirbel nach Descartes (aus: Simoniy 2001: 220)

Absolut oder relativ?

Die Frage nach der realen Existenz eines leeren Raumes neben den materiellen Körpern stellt sich auch beim Konflikt zwischen Newton und Leibnitz, bei dem Newton als Vertreter eines absoluten und Leibniz als Vertreter des relationalen Raumbegriffs betrachtet werden.

Isaac Newton

Für Newton ist es wichtig, zwischen nur scheinbaren Bewegungen und wahren Bewegungen unterscheiden zu können. Als wahre Bewegungen sah er nur jene an, die eine Bewegung gegenüber dem absoluten Raum zeigen:

Der absolute Raum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äußern Gegenstand stets gleich und unbeweglich. (Newton Prinz.: 94) Newton folgt damit dem atomistischen "Trick", Bewegungen widerspruchsfrei denken zu können. Allerdings unterscheidet sich sein Begriff eines Körpers in entscheidender Weise vom Atombegriff des frühen Atomismus. Während Atome als gegeneinander isolierte (bzw. isolierbare) Körperchen vorgestellt wurden, sind Newtons Körper nicht ohne ihre Wechselwirkungsfähigkeit denkbar. Außerdem beruht Newtons Theorie auf dem Trägheitsgesetz[1], dessen erste Darstellung Galilei zugesprochen wird. Der Bewegungszustand wird immer in Bezug zu einem Bezugsgegenstand bestimmt, der im Vergleich zum sich bewegenden Gegenstand als ruhend angesehen wird. Am einfachsten wäre es nun, für den Bezugsgegenstand die Geschwindigkeit Null zu fordern. Stöße mit dem Impuls mv würden dann den Bewegungszustand ändern (also dem Körper mit der Ruhegeschwindigkeit Null eine Geschwindigkeit ungleich Null verleihen). Mit einer solchen Vorstellung der Stoßmechanik gelang es jedoch weder Descartes noch Leibniz (und auch keinem Späteren), eine geschlossene Theorie mechanischer Bewegungen aufzustellen. Die Entwicklung einer solchen Theorie gelang erst Newton - aber auf der Grundlage einer anderen Unterscheidung von "Standardbewegung" und "wahrer Bewegung", nämlich jener des Trägheitsgesetzes. Dieses geht aus von der Beobachtung, dass eine Bewegung in oder auf einem sich geradlinig-gleichförmig bewegenden Körper sich so verhält, als befände er sich in einem ruhenden Raum. Galilei erwähnte die Erfahrung, dass ein vom Mast eines Schiffes herunterfallender Gegenstand exakt am Fuß des Mastes aufkommt und nicht das Schiff während dessen unter dem fallenden Gegenstand davon fährt. Heutzutage denken wir z.B. eher an eine Fliege im fahrenden Auto, die nicht an die Rückwand gequetscht wird. Als "Standard" wird ein Bewegungszustand angesehen, bei dem die Geschwindigkeit selbst konstant bleibt (d.h., es findet auch keine Richtungsänderung statt), aber nicht Null sein muss. Bewegungen entsprechend dem "Standard" bedürfen dabei keiner weiteren Erklärung - erst wenn sich der Bewegungszustand so ändert, dass eine Beschleunigung (zahlen- oder richtungsgemäße Geschwindigkeitsänderung) auftritt, wird dies als Wirkung von Kräften angesehen.

Diese Sichtweise fragt nicht mehr nur nach einer angemessenen Beschreibung der Bewegungen, wie sie beispielsweise bei der Auswahl verschiedener mathematischer Koordinatensysteme eine Rolle spielt. Für die Darstellung rotierender Bewegungen mögen Kugelkoordinaten sinnvoller sein als geradlinige. Befürworter einer relativistischen Sichtweise behaupten sogar, die geozentrische und die heliozentrische Darstellung des Planetensystems sei eigentlich gleichwertig[2] - es komme nur auf die Bequemlichkeit bei der Vereinfachung von Berechnungen an. Hier ist aber zu unterscheiden zwischen den mathematischen Koordinatensystemen, bei denen diese Neutralität gegenüber der Realität tatsächlich gegeben ist, und den physikalisch bedeutsamen Bezugssystemen.

Es geht um die Unterscheidung von sinnlich wahrgenommenen (und mathematisch formal beliebig darstellbaren) Bewegungen und den Bewegungen, die "wahr" in dem Sinne sind, dass sie mit wirklichen Wirkfähigkeiten, d.h. Kräften in der Natur verbunden sind. Die Physik ist damit nicht mehr nur eine (geometrisch- kinematisch) beschreibende Wissenschaft, sondern eine, die sich (dynamisch) auf Kräfte als Bewegungsursachen bezieht. Das physikalische Bezugssystem ("Standard") ist dann das (kräftefreie) Vergleichssystem, auf das kraftverursachte, d.h. die "wahren" Bewegungen bezogen werden. Weil das kräftefreie Bezugssystem nicht wirklich existiert (wo wären alle Kraftwirkungen ausgeschaltet?), ist die Vorstellung eines solchen natürlich eine Abstraktion, aber sie ist eine "objektive Abstraktion" (Wahsner 1978: 42), weil sie sich auf objektive Wirkungsfähigkeiten, d.h. Kräfte bezieht. Bereits Newton erkannte, dass die Physik nur dann angemessen physikalische Phänomene erklären kann, wenn sie einerseits dynamische Kraftwirkungen untersucht (die er als "aktive Prinzipien" bezeichnete), dass diese aber andererseits auf passive Prinzipien wie die Trägheit bezogen sein müssen (Newton Opt.: 165). Diese Unterscheidung von aktiven (Kraft-) und passiven (den "Standard" bestimmenden) Prinzipien zeigt sich speziell in der Unterscheidung von physikalischen Wechselwirkungen (Dynamik) und der Raum-Zeit-Struktur, die von Borzeszkowski und Wahsner (1989) "Dualismus" nennen. Dabei ist jeweils das, was das Bezugssystem ausmacht (passives Prinzip) nicht selbst Gegenstand der dynamischen Theorie, sondern ihr vorausgesetzt. Die in der Erkenntnis gesuchte Übereinstimmung von Theorie und Wirklichkeit ist dann jeweils nicht nur für die Theorie allein, sondern immer im Zusammenhang mit ihren Voraussetzungen zu überprüfen.

Spätestens auf dieser Stufe der Untersuchungen haben wir uns auch von der rein individuellen Wahrnehmung entfernt. Dass wir das Trägheitsprinzip als "Bewegungsstandard" verwenden, kann zwar auch individuell im Gedankenexperiment nachvollzogen werden (der Stein, der vom Mast des fahrenden Schiffes fällt; die Fliege im Auto), aber die daraus entstehenden Grundbegriffe der Physik (z.B. Inertialsystem, Bestimmung von Größen wie Geschwindigkeit und Beschleunigung) sind gesellschaftlich erzeugte Erkenntnismittel, die darauf verweisen, dass die physikalische Erfahrung nicht primär individuelle Sinnlichkeit betrifft, sondern Moment gesellschaftlicher Praxis ist.

Schauen wir uns nun das Bezugssystem als Voraussetzung für die Newtonsche Mechanik genauer an. Der Ausgangspunkt ist das Trägheitsgesetz: Körper verharren ohne die Einwirkung äußerer Kräfte in ihrem Bewegungszustand (der Ruhe oder der geradlinig gleichförmigen Bewegung). Der dementsprechende Raum ist der dreidimensionale euklidische Raum:

Dieser Raum kann als spezifisch präparierter Körper angesehen werden, der es gestattet, die geradlinig gleichförmige Bewegung meßgerecht zu definieren. (von Borzeszkowski, Wahsner 1989: 34). Diese Begründung liegt also dem absoluten Raum bei Newton zugrunde, den Bloch bildhaft kennzeichnet als "erzstabile[n] Weltkoffer, worin die einzelnen Dinge, ob bewegt oder ruhend, eingepackt sind" (Bloch EM: 108). Newton selbst schrieb diesem absoluten Raum durchaus eine reale Wirkungsfähigkeit zu.

  Dazu verwendete er das mentale Modell eines rotierenden Eimers, in dem sich die Wasseroberfläche wölbt (Newton Prinz: 99). Die auftretenden Fliehkräfte versteht er als wirkende Ursachen und die Wölbung zeigt die wahre Bewegung des Wassers an. In dieser Weise zeigt Newton die objektive Zusammengehörigkeit von absolutem Raum (bzw. Trägheitskräften) und der Beschleunigung (hier: Rotation). Beschleunigung ist so gegen das Raumganze definiert, wie es auch der Erfahrung entspricht.

Abbildung 3: Der Eimerversuch nach Newton(aus: Simoniy 2001: 269)

Ernst Mach setzte dieser Überlegung von Newton den Gedanken entgegen, dass die beschriebene Wölbung nicht durch die Trägheit gegenüber dem absoluten Raum hervorgerufen sei, sondern durch ferne Himmelskörper verursacht sei (Mach 1883/1921: 227). Allerdings setzt eine solche Verursachung eine neue Art von Fernwirkungskräften voraus, was eine äußert problematische und nicht bestätigte Annahme ist.

Gottfried Wilhelm Leibniz

Neben dem bekannten Streit um die Priorität bei der Ausarbeitung neuer mathematischer Methoden zwischen Newton und Leibnitz entstanden auch scharfe Auseinandersetzungen um das Weltbild. Leibniz verteidigte weiterhin die Wirbeltheorie nach Descartes, die von Huygens weiter entwickelt worden war. Allerdings gelang es Leibniz und seinen Mitstreitern nicht, alle drei Keplerschen Gesetze in ihre Physik einbauen zu können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Leibnitzens Argumente nicht primär physikalisch, sondern philosophisch waren. Nicht, weil ein Weltbild mit leerem, absolutem Raum nicht der Wirklichkeit entspräche, oder falsche Erkenntnis produzieren würde, lehnte er es ab - sondern weil das Übermaß an Leerem gegenüber der Materie den in der Materie wirkenden Gott zu gering schätzen würde. Ganz explizit schließt Leibniz den Gedanken aus, dass der absolute Raum für die Messung, bzw. Feststellbarkeit von Bewegung notwendig sei. Er denkt nicht über die Physik als Mittel zur Mess- und Denkbarkeit von physikalischen Bewegungen nach, sondern über den Standpunkt Gottes, für den es lächerlich wäre anzunehmen, dass "Gott, der Ursprung aller Dinge, ein Sensorium nötig hätte" (zit. in Simoniy 2001: 271). Hier vertritt Leibniz eine philosophische Sichtweise. Eine andere seiner Vorlieben ist die Bevorzugung der mathematischen Sichtweise, die nicht mehr nach einem erfahrungsmäßigen Bezug zur Wirklichkeit fragt, sondern aus einem perfekten Kalkül heraus selbstständig alle Wahrheiten ableiten will. Die physikalischen Überlegungen von Leibniz beruhen stets auf einer Verbindung von philosophischen und mathematischen Überlegungen und schließen das Moment der Erfahrung und der Messbarkeit systematisch aus, wodurch für ihn die darauf bezogene Funktion des absoluten Raumes verzichtbar wird.

Wie wir sahen, kann man die Frage nach dem Raum (passives Prinzip) nicht unabhängig von der Dynamik (aktives Prinzip) behandeln. Wenn wir Leibnizens Weltsicht physikalisch interpretieren, so bestehen wesentliche Unterschiede gegenüber Newton darin, dass Leibniz keine Fernwirkungen zuließ, dass er aufgrund seines Kontinuitätsprinzips keine plötzlichen, unstetigen Geschwindigkeitsveränderungen durch Stoß anerkannte und dass er annahm, die Größe mv2 (Energie) bliebe erhalten und nicht mv (Impuls).[3] All diese Annahmen führten dazu, dass es keine erfolgreiche "Leibnizsche Mechanik" gibt, obgleich Leibnizens Kritik an der absoluten Raumvorstellung von Newton geschichtlich immer wieder aufgegriffen und über viele Irrungen und Missverständnisse hinweg produktiv weiter geführt wurde.

Empirisch oder a priori?

In der Philosophie von Immanuel Kant bekam die alte Fragestellung nach der Wirklichkeit oder Scheinhaftigkeit des Raumes eine neue Fassung. Kant verallgemeinerte dabei den Status des Raumes aus den atomistischen und newtonschen Vorstellungen als Bedingung der Denk- und Vorstellbarkeit von Bewegung.
Kants Philosophie geht davon aus, dass die Dinge der Welt uns nicht "an sich", nicht in ihrem Wesen, sondern nur in ihren Erscheinungen, zugänglich sind. Das bedeutet, dass wir sie immer nur nach Maßgabe unserer Erkenntnisfähigkeit erfassen können, niemals "so, wie sie ohne unsere Erkenntnis sind."[4] Auch die räumlichen Beziehungen sind demnach nicht primär Eigenschaften der "Welt außer uns", sondern die Raumvorstellung ist eine in uns selbst liegende Voraussetzung, empirische Erscheinungen überhaupt wahrnehmen zu können. In diesem Sinne ist der Raum eine "notwendige Vorstellung a priori[5] , die allen äußeren Anschauungen zu Grunde liegt" (Kant KrV: 67, A 24).

Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden. (ebd.) Die Vorstellung des Raumes ist für alle möglichen äußerlichen Erfahrungen objektiv notwendig - insofern ist sie auch "real". Aber ihr liegt nichts zugrunde, was mit den Dingen selbst zu tun hat, - insofern ist sie "ideal" (ebd.: 72). Der Raum ist damit "a priori objektiv" (ebd.: 72, A 28). Den Raum als a priori Form der Anschauung zu verstehen wendet sich einerseits gegen die Empiristen, die meinen, direkt aus der Erfahrung Kenntnis über die "Welt an sich" (d.h. auch über den Raum an sich) erreichen zu können wie auch gegen die Rationalisten, die das Wissen von der Erfahrung abtrennen wollen (hier hätte die Raumvorstellung nichts mit wirklichen Verhältnissen zu tun).[6]
Kants Sichtweise erlaubt gar keine Fragestellung danach, ob es den Raum unabhängig von unserer Wahrnehmung gäbe. Er wird deshalb nicht aufgefasst als (ontologisch) real existierendes Behältnis aller Erscheinungen, sondern als epistemologische Bedingung des Wahrnehmens und Erkennens. Trotzdem ist die Raumvorstellung auch nicht beliebig willkürlich oder subjektiv, denn obwohl sie uns "a priori im Gemüte gegeben" ist, enthält sie "Prinzipien der Verhältnisse" der Gegenstände. (ebd.: 70) Erscheinungen sind Erscheinungen von etwas und dies geht in die Vorstellungen ein.[7]

Der Neukantianer Ernst Cassirer macht darauf aufmerksam, inwiefern diese a priori Voraussetzung die Grundlage der Newtonschen Physik ist. Leeres wird gebraucht, damit Bewegung denkbar wird.

Die Bewegung verlangt zu ihrer Darstellung das Leere: der leere Raum selbst aber ist kein sinnlich gegebenes, keine dingliche Wirklichkeit. (Cassirer 1910/1990: 221) Damit entschlüsselt sich die Unterscheidung von Materie und Raum als Ermöglichung der Denkbarkeit der (widersprüchlichen) Bewegung.

Fußnoten:

[1] Körper verharren ohne die Einwirkung äußerer Kräfte in ihrem Bewegungszustand (der Ruhe oder der geradlinig gleichförmigen Bewegung).

[2] So formulierte beispielsweise Ernst Mach, "daß das Weltsystem uns nur einmal gegeben, die ptolemäische oder kopernikanische Auffassung aber unsere Interpretation, aber beide gleich wirklich sind" (Mach 1921: 222). Zu Mach siehe von Borzeszkowski, Wahsner 1989: 49ff..

[3] Leibniz hielt den Ausdruck mv2 für den Ausdruck für die Kraft; Descartes den Ausdruck mv. Erst im Newtonschen Begriffsystem kann der Leibnizsche als Ausdruck der Energie und jener von Descartes als Impuls verstanden werden, während bei Newton die Kraft die zeitliche Ableitung des Impulses ist (die Kraft ist hier nicht "Masse mal Geschwindigkeit", sondern "Masse mal Beschleunigung").

[4] Auch im dialektischen Materialismus wird der Erkenntnisprozess als niemals abgeschlossen angenommen, also niemals die "absolute Wahrheit" (Lenin MuE: 116), das wäre die Erkenntnis der Dinge "an sich", erreichend. Er betont allerdings in optimistischerer Weise die Möglichkeit der "unendlichen Annäherung", während bei Kant Agnostizismus folgen kann.

[5] a priori: vor aller Wahrnehmung (Kant KrV: 69, B 41).

[6] Die Frage, ob zuerst die Raumzeitvorstellung Erfahrung ermöglicht (Kant) oder ob die Raumzeitvorstellung selbst aus der Erfahrung stammt (Helmholtz, vgl. Hörz 1971: 268f.) erinnert ein wenig an die Henne-und-Ei-Frage. Seit wir wissen, dass die Raumzeitvorstellung eng mit den jeweiligen sich bewegenden Gegenständen verbunden ist, lässt sich die Einheit von angemessener Raumzeitvorstellung und konkret untersuchter Bewegungsform nicht mehr auftrennen in ein zeitliches oder logisches Nach- bzw. Nebeneinander.

[7] siehe vorige Fußnote: Raum und Zeit sind in modernen Theorien insofern a priori, als sie nicht direkt aus den dynamischen Grundgesetzen ableitbar sind, aber sie sind auch nicht willkürlich, sondern es müssen gerade solche Raumzeitkonzepte sein, die eine konkrete physikalische Erfahrung in diesem Gegenstandsbereich ermöglichen.


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