Der Raum aus erkenntnistheoretischer Sicht

Im einzelwissenschaftlichen Erkenntnisprozess konstituieren die Subjekte aus den vorfindlichen natürlichen Zusammenhängen ihre Objekte (von anderen unterschiedene Bewegungsformen) und Erkenntnismittel (z.B. die Größen) auf eine Weise, die es ihnen ermöglicht, Bewegungs-, d.h. im allgemeinen Sinne Veränderungsmöglichkeiten der Objekte in Form von Gesetzen im Zusammenhang mit deren messtheoretischen Grundlagen in allgemeiner Form zu erfassen. Raum- und Zeitkonzepte gehören zu solchen messtheoretischen Grundlagen.

Menschen verändern die Bedingungen ihres Lebens maßgeblich und bewusst durch gesellschaftliche Arbeit - Wissenschaft hat als Moment dieser umfassenden Prozesse (Ruben 1978, Laitko 1979) die Aufgabe, die objektiven Veränderungsmöglichkeiten der Wirklichkeit zu erkunden (vgl. Laitko 1979: 84, Bloch PH: 286). Veränderbarkeit bedeutet, dass sich in einem Wirklichkeitsbereich etwas in Bezug auf etwas anderes verändert. Die Form, in der speziell in der Physik Aussagen über die Veränderbarkeit ihrer Gegenstände, der physikalischen Bewegungsformen gemacht werden, sind die physikalischen Naturgesetze. Die Frage nach der Veränderbarkeit lässt sich auch umformulieren in die Frage, welche Bewegungsmöglichkeiten die Gegenstände haben.

In der Wissenschaft werden deshalb nicht konkrete, wirkliche Bewegungszustände beschrieben (das wäre eine "Verdopplung der Wirklichkeit"), sondern Zusammenhänge gesucht, in denen sich die für eine bestimmte Bewegungsform wesentlichen Bewegungsmöglichkeiten erfassen lassen - dies sind die Naturgesetze.
Wenn die Gesetze, wie in den meisten Fällen der Physik, Differentialgleichungen 1. oder 2. Ordnung darstellen, oder für mehrdimensionale Fälle partielle Differentialgleichungen, so werden zur Ableitung der Bewegungsgleichungen Anfangsbedingungen[1] und Randbedingungen benötigt. Die Unterscheidung von Gesetz und Anfangs- bzw. Randbedingung ergibt sich in der einzelwissenschaftlichen Arbeit. In der einzelwissenschaftlichen Arbeit werden Momente aus ihrer widersprüchlichen Einheit herausgelöst, um trotz der Widersprüchlichkeit aller Bewegungsformen[2] zu reproduzierbaren Aussagen über die Veränderbarkeit natürlicher Gegebenheiten zu erreichen. Dieses Herauslösen beginnt bereits mit der Unterscheidung von unterschiedlichen Bewegungsformen. Es ist kein willkürliches Herausreißen von beliebigen Beziehungen, sondern es lassen sich aus den Naturgegebenheiten heraus für bestimmt Fragestellungen wesentliche und unwesentliche Beziehungen unterscheiden. Eine zweite Form des Herauslösens ist die Konstitution von für diese Bewegungsform wesentlichen Zustandsgrößen. Jedes Objekt bewegt sich gleichzeitig in unendlich vielfältiger Weise. Entsprechend der untersuchten Bewegungsform werden bestimmte Verhaltensweisen herausgelöst und in substantivierter Form als Grundgröße konstituiert. Im Rahmen der mechanischen Ortsbewegung übt ein Körper beispielsweise Widerstand gegen eine Geschwindigkeitsänderung aus. Diese Verhaltensweise wird in der Grundgröße "(träge) Masse" erfasst. Andere Größen sind die erwähnte Geschwindigkeit, sowie Raum- und Zeit. Welche Größen hier gebildet werden, ist ebenfalls nicht willkürlich-beliebig, sondern es erweist sich im Zusammenhang mit einer ausreichenden Bestätigung von Gesetzeshypothesen im Experiment, welche dieser Größen angemessen gebildet wurden.[3]
Nach von Borzeszkowski und Wahsner sind Messgrößen "auf der Basis real vorhandener Gleichheiten konstruierte Gedankendinge, mit deren Hilfe man das eigentliche Erkenntnisobjekt, die Wirklichkeit [...]erkennt" (von Borzeszkowski, Wahsner 1989: 156). Diese Größen können nicht mit dem Objekt identifiziert werden, aber sie erfassen jeweils eine wesentliche Verhaltensweise der Objekte.

Wenn wir Wissenschaft nur als unvermitteltes Aufeinandertreffen von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt verstehen würde, wäre die Zuordnung der einzelwissenschaftlichen Größen sehr problematisch. In den Debatten geht es auch hin und her zwischen der Behauptung der objektiven Realität der Größen und der Behauptung ihrer subjektiven Konstruiertheit. Eine Lösung erhält dieses Problem, wenn wir den wissenschaftlichen Arbeitsprozess wie jeden Arbeitsprozess als Einheit von Erkenntnissubjekt, Erkenntnisobjekt und Erkenntnismitteln verstehen. Dann erklären sich die konstituierten Grundgrößen als Erkenntnismittel (vgl. Wahsner 1996: 121), die zwischen Subjekt und Objekt vermitteln.
Die durch sie beschriebenen Verhaltensweisen sind der Möglichkeit nach Moment von wirklichen Bewegungen. In unserem "Werkzeugkasten" der Erkenntnismittel gibt es unterschiedliche Typen. Einige Größen sind selbst Gegenstand der Bewegung. Ihre, die Bewegung konstituierende Wechselbeziehung wird im Gesetz selbst erfasst. Neben diesen dynamischen Größen gibt es Größen, die nicht selbst Gegenstand dieser Beziehung sind, ihnen aber vorausgesetzt werden müssen. Wenn in der mechanischen Ortsbewegung die Kraft, die Masse und die Beschleunigung dynamische Größen darstellen, so brauchen wir zur Bewegungsdarstellung weiterhin Raum- und Ortsfestlegungen. Die Menge aller anwendbaren räumlichen und örtlichen Koordinaten (in diesem Fall der Menge aller Inertialsysteme) ist selbst kein Gegenstand der gesetzmäßigen dynamischen Zusammenhänge, sondern wird der Theorie der Gesetze als relative "A priori" vorausgesetzt. Die "a-priori"-Größen werden gebraucht, um die Bewegungsdynamik gegenüber einem als ihr gegenüber nicht bewegten "Etalon" gegenüber messbar zu machen. Diese "a priori"-, d. h. "vor der Erfahrung"-Größen sind nur relativ, weil sie für jede Theorie speziell entwickelt werden müssen. Es sind also dynamische und a-priori-Größen zu unterscheiden.
Nachdem wir bisher vor allem die Vereinzelung, erstens das Herauslösen der Bewegungsformen und zweitens der Grundgrößen innerhalb der Bewegungsform, diskutiert haben, kommen wir nun zu den Formen der konkretisierenden Synthese in der Einzelwissenschaft. Bereits die Erkenntnis des Zusammenwirkens der dynamischen Größen im Gesetz ist eine Form der Konkretion (theoretische Konkretion). Das Gesetz erfasst jedoch dieses Zusammenwirken nur der Möglichkeit nach, die wirkliche Bewegung benötigt die konkrete Festlegung von Anfangs- und Randbedingungen. Im Experiment geschieht die praktische Konkretion, bei der eine besondere einzelwissenschaftliche Wirklichkeit konstituiert wird. Hier wirken die erst getrennten dynamischen Größen und die aus messtheoretischen Gründen notwendigen Größen zusammen. Die Bewegung kann messend untersucht werden.
In Wirklichkeit gibt es nur die Bewegung und keine "Bewegung gegen das Unbewegte". Um diese Wirklichkeit einzeltheoretisch zu erfassen, d.h. die Bewegungsmöglichkeiten zu erkunden, brauchen wir jedoch die Trennung von gesetzmäßiger Bewegung und einem Vergleichs"etalon". Raum und Zeit sind spezielle Formen, um über die Bildung von Inertialsystemen für mechanische Ortsbewegungen in der Newtonschen Mechanik ein Bewegungs"etalon" gegenüber kraftverursachter Beschleunigungswirkung zu erhalten. In anderen Theorien verändern sich diese Voraussetzungen, so entsteht in der speziellen Relativitätstheorie ein innerer Zusammenhang von räumlichen und der zeitlichen Komponente. In der allgemeinen Relativitätstheorie zieht sich die messtheoretische Grundlage in die infinitesimale Eigenschaft des mit der Gravitation gekrümmten Riemannschen Raumes zurück, nach der im Infinitesimalen starre Maßstäbe definiert werden können. Es scheint den Fortschritt der Theorien in ihrer Abfolge zu kennzeichnen, dass immer wieder vorherige a-priori-Anteile in den dynamischen Theorieteil übernommen werden. Ob das ein Ende findet, ist ungewiss.

Unserer alltäglichen Raumwahrnehmungserfahrung entspricht dabei im weiten Maße dem Raumkonzept der Newtonschen Physik, weil die uns im Alltag begegnenden physikalischen Bewegungen mit dieser Theorie ausreichend dargestellt werden können. Die Frage nach Konstruiertheit oder Realität wäre insofern falsch gestellt, als die Wissenschaft, bzw. die subjektive Aktivität an die objektive Welt nicht von außen herantritt, sondern sie selbst Moment der umfassenderen materiellen Einheit der Welt ist und wissenschaftliche Arbeit selbst eine Einheit von Erkenntnissubjekt, Erkenntnisobjekt und Erkenntnismitteln darstellt. Getrennt voneinander ist jedes dieser Momente - auch die Subjektivität - nur eine abstrakte Möglichkeit und nur in ihrer konkreten Tätigkeit bilden sie diese Einheit (auch das Erkenntnissubjekt ist dies nur in ihrer konkreten erkennenden Tätigkeit, es steht nicht als einzelner Akteur "über" den anderen Momenten).
Der Raum, bzw. die Raumzeit ist also eine Form von a-priori-Größen, bei denen metrisierte Abstände gemessen werden können. Für die oben genannten Gesetze, die als Differentialgleichungen formuliert sind, kann gesagt werden, dass der Raum letztlich die Gesamtheit aller möglichen Anfangsbedingungen erfasst. Für andere Gesetze und Theorien gelten andere Unterscheidungen zwischen dynamischen und a-priori-Größen bzw. andere Dualismen.
In der Wissenschaftsgeschichte war es meist ein glücklicher Umstand, dass die kreativen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von sich aus erkenntnistheoretische Fragestellungen durchdachten und über diesen Weg auch zu neuen Ideen für ihr Fach gelangten. Das Erkennen der Bedeutung der Erkenntnismittel und des konkreten Zusammenwirkens dieser Momente könnte heuristisch durchaus hilfreich bei der Entwicklung neuer Theorien sein.

Literatur:

Bloch, Ernst (PH): Das Prinzip Hoffnung, 3 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Diels, Hermann (1922): Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. Vierte Auflage, 1. und 2. Band. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung.

Laitko, Hubert (1979): Wissenschaft als allgemeine Arbeit Zur begrifflichen Grundlegung der Wissenschaftswissenschaft. Berlin: Akademie-Verlag.

Ruben, Peter (1978): Wissenschaft als allgemeine Arbeit. Über Grundfragen der marxistisch-leninistischen Wissenschaftsauffassung. (1976) In: Ruben, Peter: Dialektik und Arbeit der Philosophie. Köln: Pahl-Rugenstein. S. 9-51.

von Borzeszkowski, Horst-Heino; Wahsner, Renate (1989): Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch. Studien zum physikalischen Bewegungsbegriff. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Wahsner, Renate (1996): Einleitung: Hegels Naturphilosophie und das Erkenntnisproblem der Neuzeit. In: Wahsner, Renate (1996): Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis. In: HEGELIANA. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus. Herausgegeben von Helmut Schneider. Band 7. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien. Peter Lang. S. 3-123.

Fußnoten:

[1] Für die Newtonsche Kraftgleichung, die eine Differentialgleichung zweiter Ordnung ist (Beschleunigung ist die zweite Ableitung nach der Zeit), werden als Integrationskonstanten Anfangsbedingungen für Ort und Geschwindigkeit zu einer bestimmten Zeit benötigt.

[2] Schon die einfache Ortsbewegung unterliegt nach Zenon dem Widerspruch: "Das Bewegte bewegt sich weder in dem Raume, in dem es sich befindet, noch in dem es sich nicht befindet" (Diels 1922: 175).

[3] Erst ein Blick in die Geschichte der Entstehung von erfolgreichen Theorien zeigt, welche anderen Größenbildungen vorher vorgeschlagen worden waren und warum mit ihnen nicht erfolgreich weiter gearbeitet werden konnte. Manchmal wird behauptet, dass nur gesellschaftliche Macht der entsprechenden Wissenschaftlergemeinschaften zur Anerkennung gerade ihrer Theorie verholfen hätte - es käme auf einen Versuch an, die "unterdrückten" Ansätze im Nachhinein zu rekonstruieren und ihre Sachangemessenheit zu überprüfen.


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