Rezension von Annette Schlemm:

Joanna Russ: Eine Weile entfernt

Argument Verlag, Hamburg 2000

 

„Eine Weile entfernt“ ist das Aktualitätsdatum dieses Werkes. Bereits 1975 geschrieben führt es uns zu der damals wie heute aktuellen Frage nach den spezifischen Lebensmöglichkeiten von Frauen.

Die Welt Whileaway – in der Zukunft einer anderen Erde – dient als Projektionsfläche für einen „Planeten der Frauen“, wie die deutsche Erstausgabe betitelt war. Janet von diesem Planeten wird auf die Hier- und Jetzt-Erde entsandt, weil sie auf Whileway entbehrlich ist. Jeannine dagegen ist eine normale irdische Frau. Für sie erscheint der Alltag um sich herum plötzlich in ein anderes Licht getaucht. Sie erlebt ihn - durch Janet hindurch - reflektiert. Das sonst verdeckt-Selbstverständliche wird sichtbar und hinterfragbar.
  „Letztes Jahr gab ich endlich auf und erklärte meiner Mutter, dass ich kein Mädchen sein möchte, aber sie sagte Oh nein, ein Mädchen zu sein ist wunderbar. Warum? Weil du schöne Kleider tragen kannst und überhaupt nichts tun musst. Die Männer werden es für dich tun. Sie sagte, anstatt den Mount Everest zu bezwingen, könnte ich den Bezwinger des Mount Everest erobern, und während er den Berg erklimmen muss, könnte ich bequem und faul zu Hause liegen, Radio hören und Pralinen essen.“ (S. 81)
Ein Vierteljahrhundert später ist diese Selbstverständlichkeit schon weitestgehend aufgehoben. Für mich ist diese Schilderung des „FrauSeins auf der Erde 1975“ bereits historisch, dies verdeutlicht nicht zuletzt die Wirkung der feministischen Bewegung seitdem. Hinzu kommt, dass solche extrem altmodischen Ansichten in der DDR bereits 1975 – als ich gerade 14 war und mir meine ersten Gedanken über mein Sein und FrauSein in meiner Welt machte – auch aus einer anderen Welt stammten und bei uns nicht mehr vorherrschten. Gerade weil ich dies nicht so erlebt habe, ergänzen Joanna Russ´ Schilderungen der Unselbständigkeit der Frau, ihres Sich-durch-den-Mann-definieren usw. meine Vorstellungen über die Ausgangssituation der Frauenbewegung außerordentlich. Trotzdem gibt es auch geteilte Erfahrungen. An eine typische Grundsituation meiner Jugend fühle ich mich erinnert:
  „Da gibt es [für die Frau, A.S.] das ...das Gehorsamkeitstraining, das Zurückhaltungstraining, ... das Passivitätstraining, ... Stupiditätstraining... Wie soll ich das mit meinem menschlichen Leben vereinbaren, mit meinem intellektuellen Leben, mit meiner Einsamkeit, meiner Transzendenz, meinem Verstand und meinem furchtbaren, furchtbaren Ehrgeiz?“ (S. 181)
Auch Jeannine steckt noch voller alter Erwartungen, dass sie durch die Ehe mit einem Mann glücklich zu werden habe – und weiß doch, dass sie irgend „etwas anderes, etwas anderes“ (S. 149) möchte, das sie selbst nicht genau beschreiben kann. Allerdings flieht sie entmutigt - „aus der Unaussprechlichkeit ihrer eigenen Wünsche – denn was passiert, wenn man herausfindet, dass man etwas will, das gar nicht existiert? – und landet im Schoß des Möglichen.“ (S. 151)
Janet jedoch wird angesichts dieses beschränkten FrauSeins zum Mann, d.h. zum Menschen.
  „Jahrelang pflegte ich zu sagen Lass mich herein, Liebe mich, Schenke mir Anerkennung, Bestimme mich, Passe mich an, Bestätige mich, Unterstütze mich. Jetzt sage ich Rück mal ein Stück.“ (S. 167)
Janet hat die Kraft dazu aus ihrer Verwurzelung in ihrer Heimat Whileway. Auf Whileway waren vor ca. 800 Jahren alle Männer ausgestorben und es gibt nur noch Frauen. Sie entwickelten eine eigenständige Kultur und Gesellschaft.
  „Auf Whileaway gibt es kein Zu-spät-nach-Hause-kommen oder Zu-früh-aufstehen oder In-einer-üblen-Gegend-der-Stadt-sein, oder Nicht-in-Begleitung-sein. Man kann nicht aus dem Netz der Verwandtschaft fallen und zur sexuellen Beute Fremder werden, aus dem einfachen Grund, weil es weder Beute noch Fremde gibt...“ (S. 101).
Die Ich-Erzählerin wechselt ihre Standpunkte zwischen Janet, Jeannine und Joanna, drei möglicher Ichs, die „könnten-gewesen-sein“. Ihre Vereinigung finden diese Ichs in Jael, dem „Geist der Autorin“ (S. 197). Gemeinsam besuchen sie die Mannländer, bei denen es nur Männer gibt. Ihr Verhandlungspartner denkt typisch männlich: „Das ist doch der Ärger mit euch Frauen, nichts könnt ihr abstrakt betrachten!“ (S. 210). Sie ertragen ihn nicht mehr. Sie nehmen Rache für das Leid der Frauen, die das eigene Ich verachten lernen mussten (S. 246). Als sich Jael verabschiedet, von Jeannine, der „armen Wie-ich-einst-war“ und Janet, „an die wir nicht glauben und die wir verspotten, die jedoch insgeheim unsere Retterin aus tiefster Verzweiflung ist“, gibt sie ihnen das Versprechen:
  „Und denkt daran: Wir werden alle verändert sein... Wir werden wir selbst sein, wir werden uns selbst gehören. Bis dahin werde ich schweigen. Ich kann nicht mehr. Ich bin Gottes Schreibmaschine, und das Farbband ist leer.“ (S. 253)
Joanna Russ überlässt die LeserInnen ihrem eigenen Leben und hofft darauf, dass ihr Buch eines Tages nicht mehr verstanden wird. „An diesem Tag werden wir frei sein“ (S. 254). Noch ist es nicht ganz so weit.

Bis dahin gehört Joanna Russ´ Buch zu den wichtigsten Mitteln der Selbstverständigung von Frauen über ihre Lage und ihre Möglichkeiten. Aber auch Männern wird ja in der Realität weitestgehend verwehrt, wirklich Menschen sein zu können. Deren Problemsicht würde ich gern in ähnlicher Weise kennenlernen wollen. Auch jenen Männern, die bereits auf dem Weg aus typisch geschlechtspezifischem Rollenverhalten heraus sind, wird „Eine Weile entfernt“ helfen, den anderen Teil des Menschlichen besser kennen zu lernen.

  P.S. Eine kleine Weiterbildung durch die Übersetzerin – zur Verwendung des Wörtchens „man“:
„Das engl. Substantiv >man<, hier von der Autorin polemisierend als Kurzform von engl. >human< (>Mensch<) bezeichnet und mit dt. >man< übersetzt, bedeutet sowohl >Mann< als auch >Mensch<. Diese Gleichsetzung von >Mann< als >Mensch< und die darin liegende Ausschließung von >Frau<, die hier [im Buchtext S. 115, A.S.] kritisiert wird, ist jedoch so nicht in die deutsche Sprache zu übertragen. Das dt. Pronomen >man< hat sich aus dem ahd. Substantiv >man< (nhd. >Mann<) entwickelt, bedeutete aber bald nur noch >irgendein Mensch<, später >jeder beliebige Mensch<. Die ursprüngliche Gleichbedeutung von >Mann< und >Mensch< ist also verglichen mit dem Englischen nicht mehr gleichrangig, sondern in diesem Fall verloren gegangen.“ (S. 115)

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