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Schellings Dialektik IV
Die Dialektik der Weltalter

Die "Weltalter" "(SW VIII: 195 ff.), an denen er in München ab ca. 1811 arbeitete, "sollten nichts anderes seyn als eine Geschichte dieser drei großen Abmessungen der Zeit." (K.F.A. Schelling, ebd.: V). Damit meinte er die Periode der Vergangenheit (Naturgeschichte), die Geschichte der Geisterwelt (Gegenwart) und die Zeit der Zukunft der Dinge. Dabei meint er keine aufeinander folgenden Bereiche eines linearen Zeitstrahls (zur Zeittheorie bei Schelling siehe auch Schlemm 2010b), sondern:

"Die wahre vergangene Zeit ist die vor der Zeit der Welt gewesene, die wahre zukünftige ist die nach der Zeit der Welt seyn wird." (SSW 13: 187)

Der Plan für dieses Werk blieb während der Arbeit nicht gleich. Ich schildere im Folgenden einige Gedankenzüge aus dem handschriftlichen Nachlass, wie er in der Werkausgabe (SW) erfasst ist.

Da die menschliche Seele nach Schelling durch Mitwissenheit an der Schöpfung ausgezeichnet ist, kann sie" den langen Weg der Entwicklungen von der Gegenwart bis in die tiefste Nacht der Vergangenheit zurück verfolgen" (ebd.: 200). Ihr ist es möglich, in sich selbst und der Welt das "Ur-Bild der Dinge" zu erkennen und sich von ihm aufrufen lassen zur Veredelung seiner Selbst und der Welt. In uns selbst liegt das Wissen, aber müssen es erst herausarbeiten in einem inneren Dialog zwischen den zwei Wesen in uns: dem fragenden und dem antwortetenden - in dialektischer Weise (ebd.: 201). Die Dialektik erfüllt dabei nur eine Hilfsfunktion, die innere Antwort selbst kann durch sie nicht erzeugt werden.

Eine weitere Begrenzung der Dialektik ergibt sich daraus, dass es nicht lediglich darum geht, "eine bloße Folge und Entwickelung eigener Begriffe und Gedanken" darzustellen, sondern es geht um "die Entwickelung eines lebendigen, wirklichen Wesens ist, die in ihr sich darstellt." (SW VIII: 199) Speziell gegen Hegel gerichtet heißt es hier:

"Aber sie möchten da, wo nur die That entscheidet, alles mit friedlichen allgemeinen Begriffen schlichten, und eine Geschichte, in der wie in der Wirklichkeit Scenen des Kriegs und des Friedens, Schmerz und Lust, Errettung und Gefahr wechseln, als eine bloße Folge von Gedanken vorstellen." (ebd.: 207) In einem "Erlanger Vortrag" (1821) schildert Schelling, inwieweit Dialektik zu ihrer Grenze kommt: "Nämlich die beste Propädeutik ist eben, diesen nothwendigen Widerspruch, in den das erwachende Bewußtseyn, die erwachende Reflexion geräth, von den ersten Wurzeln an durch alle seine Verzweigungen bis zur Verzweiflung zu verfolgen, wo dann der Mensch gleichsam gezwungen ist, die Idee jenes höheren Ganzen zu fassen, in welchem die widerstreitenden Systeme durch ihr Zusammenbestehen jenes höhere Bewußtseyn erzeugen, in dem er wieder frei ist von allem System, über allem System. Dieses Geschäft ist eigentlich das der bloßen Dialektik, welche keineswegs die Wissenschaft selbst, wohl aber die Vorbereitung zu ihr ist." (SW IX: 214) Das Ergebnis der dialektischen Vorarbeit ist die Idee der höheren Einheit "über allem System". Auf diese Weise kommt Schelling zu einem Modell, in dem "das Eine unzertrennliche Urwesen" (ebd.: 217) die Einheit der ewig bejahenden, der ewig verneinenden Potenz und ihrer Einheit ist. Diese drei Momente können in der Natur jede für sich sein. Jedes Moment bildet selbst in Prinzip, bzw. eine "Natur".

Wie hängen diese drei Naturen nun zusammen und wodurch sind sie jeweils bestimmt? "Wäre die erste Natur im Einklang mit sich selbst, sie würde bleiben; es wäre ein beständiges Eins und käme nie zum Zwei, eine ewige Unbeweglichkeit ohne Fortschritt." (ebd.: 219). Wir wissen aber, dass es dabei nicht geblieben ist, denn "[s]o gewiß Leben ist, so gewiß Widerspruch in der ersten Natur." (ebd.). Es entsteht nun die Frage, wie diese Widersprüchlichkeit entstanden ist, denn während der " Uebergang vom Widerspruch zu der Einheit [...] natürlich" ist, ist "ist ein Uebergang von der Einheit zum Widerspruch [...] unbegreiflich" (ebd.). Es ist "eine blindlings die Einheit brechende Gewalt", eine "blindlings geschehende Entscheidung" (ebd.: 220), die den ersten Widerspruchspol setzt, welcher dann mit dem anderen fortlaufend alterniert. Dieser erste Moment ist für Schelling das Sich-Selbst-Zurücknehmen Gottes (ebd.: 233), worin sich eben seine Stärke und Macht ausdrückt. Im Verneinen jedoch steckt das Streben nach Bejahung.

"Ein Wesen kann nicht sich verneinen, ohne eben damit Sich sich selbst innerlich, also zum Objekt seines eignen Wollens und Begehrens zu machen. Der Anfang aller Wissenschaft liegt in der Erkenntniß seiner Unwissenheit; aber unmöglich ist, daß der Mensch sich selbst als unwissend setze, ohne sich dadurch die Wissenschaft innerlich, zu einem Gegenstand seines Begehrens zu machen." (ebd.: 224 f.) Damit wird auch die Spannung für die spätere Entwicklung gesetzt. Das Nicht-Seiende strebt notwendigerweise danach, zu sein. Schelling nennt deshalb ein solches Moment "Potenz" und das Sein, das als Nichtsein gesetzt ist, aber nach seinem Sein strebt, ist die erste Potenz. Dieses Sein im Nichtsein ist die zweite Potenz. Es zeigt sich, dass das bejahte Sein das verneinte Sein voraussetzt: "Wäre das Nein nicht, so wäre das Ja ohne Kraft. Kein Ich ohne Nicht-Ich, und insofern ist das Nicht-Ich vor dem Ich." (ebd.: 227) Mit diesen beiden Potenzen ist nun der Ur-Gegensatz gegeben. Verneinung und Bejahung. "So liegt der Tag in der Nacht verborgen, nur überwältigt durch die Nacht, so die Nacht im Tag, nur niedergehalten vom Tag, doch daß sie sich alsbald herstellen kann, wie die zurückdrängende Potenz verschwindet. So das Gute im Bösen, nur unkenntlich gemacht vom Bösen, so das Böse im Guten, nur beherrscht von ihm und zur Unwirksamkeit gebracht." (ebd.: 227) Im Wesen sind sie jedoch eins - "sie selbst neigen sich zur Einheit [...], denn es kann sich die verneinende Kraft nur als verneinende empfinden, wenn ein aufschließendes Wesen ist, und dieses kann als das bejahende nur wirken, indem es das verneinte, zurückgedrängte befreit." (ebd.: 227 f) Die beiden ersten gegensätzlichen Potenzen setzen "außer und über sich ein Drittes, welches die Einheit ist. Dieses Dritte muß an sich selbst außer und über allem Gegensatz seyn; die lauterste Potenz, das gegen beide Gleichgültige, von beiden Freie und am meisten Wesentliche." (ebd.: 228)

Wir haben nun folgende Aufeinanderfolge von Potenzen, die keine Rangfolge darstellen, sondern "Aber in ihrem Gipfel angekommen, geht die Bewegung von selbst zurück auf ihren Anfang. Denn jedes von den Dreien hat gleiches Recht das Seyende zu seyn" (ebd.)

  1. Potenz: A: Das Sein als Nichtseiendes, Verneinendes
  2. Potenz: A2: Das Sein als Seiendes, Bejahtes
  3. Potenz: A3: Seiendes als Einheit von Verneinung und Bejahung.
Dieser ewige "Umtrieb" wäre jedoch nicht frei. Zur Freiheit gelangen diese einander abwechselnden, "besinnungslosen" und "unwillkürlichen" Momente nur, wenn sie gemeinsam und freiwillig entscheiden, nicht zu sein und zwar zugunsten von etwas Höherem (ebd.: 232 f.). Dieses Höhere kann nicht wieder selbst Potenz sein, sondern es muß "frei seyn von aller Begierde, völlig sucht- und naturlos", d.h. "über allem Seyn" sein (ebd.: 234). Das Ziel ist "Freiheit oder der Wille, sofern er nicht wirklich will" (ebd.: 235), also "die reine Gleichgültigkeit (Indifferenz)" (ebd.: 236) und das heißt letztlich: Gott, beschrieben als "ewige Freiheit, das lautere Wollen selbst" (ebd.: 239). .

Natürliche Organismen, auch Menschen, haben neben ihrem Anteil an Göttlichkeit - wie schon in der "Freiheitschrift" entwickelt - eine weitere Grundlage: "Dieß ist das Erbtheil der Kreatur von Ewigkeit, daß sie, die in dem lauteren Feuer des Geistes nicht leben könnte, eine gegen dieses leidende Unterlage hat, die jedoch nach innen voll Kraft und Leben ist." (ebd.: 242)

Letztlich zeigen sich diese Zusammenhänge in der Welt als "ein Vor und ein Nach" (ebd.: 247), in der zeitlichen Aufeinanderfolge von Epochen, die den jeweiligen Potenzen entsprechen. Der Übergang zur Geschichtlichkeit wird nun zur "eigentlich wissenschaftlichen" Methode, die über der nur dialektischen steht (ebd.: 259).

Nach Wüstehube (1989: 82 ff) lassen sich die wichtigsten Weltalter als aufeinander folgende Geschichtszeiten interpretieren:

  1. Pantheistische Urzeit: Einheit Gottes mit der Natur
  2. Dualismus: Trennung von Gott und Natur
  3. Überwindung des Dualismus durch ein System der Freiheit.
Da es um die Überwindung eines Dualismus geht, der in der "Urzeit" nicht vorhanden war, sollen uns besonders historische Studien dieser ganz frühen Zeit dazu verhalfen, die ersten beiden Phasen zu überwinden - dies wird zum Inhalt der weiteren Arbeit von Schelling ("Philosophie der Mythologie").

Die Dialektik, das ist zu betonen, hat bei Schelling erstens die Begrenzung auf das Vorwissenschaftliche, zweitens gibt es für ihn keine dialektisch-logischen Gesetze mit einer allgemeingültigen Geltung:

"Hieraus erhellt wohl, daß in der wahren Wissenschaft jeder Satz nur eine bestimmte und so zu sagen örtliche Bedeutung hat, und daß er der bestimmten Stelle entnommen und als ein unbedingter (dogmatischer) hingestellt, entweder Sinn und Bedeutung verliert oder in Widersprüche verwickelt." (ebd.: 209) Am Schluss möchte ich noch ein längeres bedenkenswertes Zitat zur menschlichen Zeit-Folge bringen: "Der Mensch, der nicht sich selbst überwunden, hat keine Vergangenheit, oder vielmehr kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr. Wohlthätig und förderlich ist dem Menschen, etwas, wie man sagt, hinter sich gebracht, d.h. als Vergangenheit gesetzt zu haben; heiter wird ihm nur dadurch die Zukunft und leicht, auch etwas vor sich zu bringen. Nur der Mensch, der die Kraft hat sich von sich selbst (dem Untergeordneten seines Wesens) loszureißen, ist fähig sich eine Vergangenheit zu erschaffen; eben dieser genießt auch allein einer wahren Gegenwart, wie er einer eigentlichen Zukunft entgegensieht; und schon aus diesen sittlichen Betrachtungen würde erhellen, daß keine Gegenwart möglich ist, als die auf einer entschiedenen Vergangenheit ruht, und keine Vergangenheit, als die einer Gegenwart als Ueberwundenes zu Grunde liegt." (ebd.: 258)

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