Komplexität

Komplexität kennzeichnet die potentiell in einem System enthaltenen Ordnungszustände (Binswanger, S. 168f.). Dabei sind verschiedene Komponenten verknüpft (lat. complexus = Verknüpfung) und ein komplex geordnetes Zusammengesetztes entsteht. Im Unterschied zur Betonung der Ordnung weist das Komplizierte (lat. complicare = verwickeln) auf Verwirrung, Unordnung, Erschwernis hin. Wenn etwas immer komplizierter wird, ohne gleichzeitig neue Ordnungszustände zu erreichen, hat das noch nichts mit Komplexität zu tun.

In komplexen Systemen sind ihre Komponenten so ausgewählt und geordnet, daß sie umfassende Prozesse realisieren, die in einer ungeordneten Ansammlung der Teile nicht entstehen könnten ("Emergenz": In der geordneten, komplexen Einheit entsteht mehr als aus der Summe der Teile).

Dadurch erhalten sich die Wesensmerkmale des komplexen Systems auch, wenn die einzelnen Teile zwischenzeitlich wechseln.

Hochentwickelte komplexe Strukturen erhalten sich selbst stabil, indem sie als Ganze ihre innere Struktur so organisieren, daß innere Teile untereinander und mit äußeren Strukturen wechselwirken. Die Prozesse der Wechselwirkung durch Teile im Innern erhalten das Ganze stabil. Die Teile müssen deshalb unterschiedlich sein, damit sie untereinander etwas auszutauschen haben (Spezialisierung, Differenzierung), aber sie müssen gleichartig genug sein, um miteinander Wechselwirkungen einzugehen.

In komplexen Systemen beeinflussen die Prozesse sich gegenseitig so, daß sie nicht in einfache lineare "Wenn-Dann"-Folgen aufgelöst werden können. Komplexität bedeutet deshalb Multikausalität, Mulitvariabilität, Vieldimensionalität und Offenheit. In komplexen Systemen liegt ein hohes Maß an Unbestimmtheit vor, was technisch zu Instabilitäten führt. Diese Varianz ist aber gleichzeitig die Ursache für ihre Selbst-Anpassungsfähigkeit und Flexibilität.

Alle unternehmerischen Aktivitäten spielen sich in komplexen Umwelten ab und gestalten selbst Komplexität. Auch wenn komplexe Zusammenhänge auf den ersten Blick eher kompliziert-verwirrend aussehen, darf das Maß an Komplexität nicht zu stark reduziert werden:

"Ein komplexerer Organismus wird wahrscheinlich eher mit unterschiedlichen Umweltbedingungen fertig. Variation und erste Auslese sorgen wahrscheinlich nicht für eine Tendenz zu höherer Komplexität, doch werden komplexere Organismen, die sich auf unterschiedliche Umwelten einstellen können, mehrere aufeinander folgende Wellen der Auslese eher überstehen als solche Varianten, die sich lediglich an die erste Umweltveränderung besser angepaßt haben" (Calvin, S. 284).

Um Komplexität zu beherrschen und ggf. zu steigern, brauchen die Methoden nicht immer "komplizierter" zu werden. Es ist oft geradezu typisch für komplexe Prozesse, daß aus der wiederholten Anwendung (und nichtlinearem Aufeinanderwirken) von einfachen - aber geeignet ausgewählten - Regeln komplexe Strukturen und Verhaltensweisen entstehen ("Selbst-Organisation").

Komplexe Systeme

erfordern ganzheitliche, systematische Betrachtungen

  • offen, verflochten mit der Umwelt
  • steigende Bedeutung der Information

 

 

  • analytisches und synthetisches Denken verbinden
  • Berücksichtigung vernetzter Strukturen (Nichtlinearität)
  • Interdisziplinarität

Komplexität zu managen erfordert eher ein "Feeling" für prozeßhafte Ganzheiten als das Reagieren auf Zahlenkolonnen aus linearen Berechnungen, die nichtlineare Wechselwirkungen prinzipiell eher ausblenden.

Hier enden auch die Fähigkeiten der zentralisierten Weisheit aus Kommandoständen der Wirtschaft. In komplexen Systemen müssen Entscheidungen unter sich rasch verändernden Bedingungen erfolgen. Es läßt sich sogar mathematisch ausrechnen, daß sich bei solchen Entscheidungen unter nur bedingter Sicherheit oder Risiko das Entscheiden und das Realisieren nicht mehr zu trennen sind (Kreschnak).

Komplexe Systeme leben von den sich selbst vermittelnden Aktivitäten der Komponenten. Dies wird beispielsweise in Multi-Agenten-Systemen und Produktions-Planungs- und Steuerungssystemen (PPS) mit Kompetenzanreicherung in dezentralen Centern erreicht (u.a. Reiß, S. 141). Die Verknüpfung zwischen den agierenden Komponenten muß eine strukturelle Kopplung darstellen. Das bedeutet, daß eine Komponente nie für das Bestehen und das Selbstverständnis des jeweils anderen notwendig sein darf.

Trotzdem sind komplexe Systeme nicht lediglich eine unstrukturierte Ansammlung vieler Komponenten. Trotz der in ihnen verflochtenen Vielfalt werden sie von sog. Ordnungsparametern bestimmt (Gewinnoptimierung, Vision des Unternehmens). Diese können jedoch nicht "von außen" oder "von oben" her vorgegeben werden, sondern sind nur stabil, wenn sie im System selbst entstehen. Die Prozeßstabilität wird gerade NICHT durch ein Gleichgewicht gesichert, sondern durch die jeweiligen Ordnungsparameter.

Eigenschaft

Erläuterung

Schlußfolgerung

Komplexe Systeme entstehen vorwiegend in instabilen Umwelten (vgl. Selbst-Organisation).

Biotische Evolutionsschübe erfolgten immer während rasanter Umweltveränderungen.

Die bisher betonte Fähigkeit der Steuerung (von außen oder oben) erfordert stabile Umwelten - die aber gerade kontraproduktiv für Entwicklung sind. Besser ist die Implementierung von Flexibilität (Selbst-Regulierung) und Selbst-Organisation.

Aus oft recht einfachen, jedoch iterativ angewendete Regeln entstehen komplexe Muster.

Multi-Agentensysteme mit geregelten Wechselwirkungen

Dezentrale Strukturen der Komponenten mit geeigneten Regeln sind typisch für komplexe Systeme.

Jedes System entwickelt aus sich selbst heraus Ordnungsparameter.

Vision/Leitbilder zur spezifischen Form der Überlebensweise

Eine Beeinflussung ist nur durch gleichberechtigte Beteiligung, nicht durch Vorgaben von "außen/oben" möglich

Autopoietische Systeme sind operativ geschlossen

Primat der inneren Wechselwirkungen

Das System ist "blind" gegenüber direkten äußeren Reizen.

Regelungen erfolgen durch Beeinflussung der Randbedingungen

Nichtlineare Wechselwirkungen sichern, Nichtgleichgewicht aufrechterhalten

Indirektes Management: Bedingungen für Selbstorganisation schaffen

Die die Komplexität sichernden Wechselwirkungen sind stofflich, energetisch, informationell und sozial (wirtschaftlich, kulturell, ökonomisch usw.). In der Evolution ändert sich die Wichtung dieser verschiedenen Elemente. Die uns bekannte stofflich-energetischen Wechselwirkungen entstanden im Prozeß des "Urknalls" aus früheren (uns unbekannten) Wechselwirkungsformen. Die informationelle Wechselwirkung entstand erst mit den lebenden Organismen und soziale Beziehungen noch später (diese sind NICHT auf reine "Information" zu reduzieren!). Die jeweils später entstandenen Formen übernahmen für höhere Komplexitätsstufen jeweils die tragende Rolle (aber nur, wenn die "darunterliegenden" Ebenen wenigstens weiter funktionierten).

Zu beachten sind folgende unterschiedliche Bezeichnungsweisen:

Komplexität

Autopoiese

Selbst-Organisation

Kennzeichnung der möglichen Ordnungszustände bei Systemen mit miteinander verknüpften Komponenten

Prozeß der Aufrechterhaltung komplexer Strukturen

Spontane Bildung komplexer Strukturen/Prozesse bei bestimmten Voraussetzungen -

d.h. entsprechen stationären Nichtgleichgewichtszuständen mit hohem Ordnungsgrad

durch Selbsterzeugung der Randbedingung

- auch bei einfachen Strukturen/Prozessen möglich (z.B. physikalisch)

d.h. erfaßt nicht die qualitativen Umbrüche und die Rolle des "Schmetterlingseffekts"

d.h. auch:
Durchbrechen der früheren Komplexität/Autopoiese, Entstehung einer neuen

Das Deuten der Realität als Komplexität birgt die Gefahr mit sich, daß lediglich abstrakte Muster und Verknüfpungen gesehen werden und die jeweilige qualitative Besonderheit übersehen wird. Aber gerade auf dem Konkretionsniveau der jeweiligen realen Strukturen vollziehen sich die Entwicklungen, die auf der abstrakten Ebene nicht mehr erkennbar sind. Begreifendes Denken im Unterschied zum bloßen Deuten erfordert das Eingehen auf "konkrete Allgemeinheiten" der jeweiligen Untersuchungsebene.

Literatur (mit externem Link):
Binswanger, M., Entropiegesetz als Grundlage einer ökologischen Ökonomie, in: Beckanbach, F., Diefenbacher, H., (Hrsg.): Zwischen Entropie und Selbstorganisation, Marburg 1994
Calvin. W., H., Der Strom, der bergauf fließt. Eine Reise durch die Evolution. München 1998
Casti, J., Das einfache Komplexe, in Internet: http://www.heise.de/tp/deutsch/special/vag/6035/1.html (1996)
Kreschnak, H., Marktwirtschaft und/oder Regulierung, Manuskript 1999
Reiß, M., Organisatorische Entwicklungen, In: Corsten, H., Gössinger, R., (Hrsg.), Dezentrale Produktionsplanungs- und steuerungs-Systeme, Stuttgart, Berlin, Köln 1998, S. 109-141

Selbstorganisations-Management

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© Annette Schlemm 1999