Evolutionäre Erkenntnistheorie und Kritik daran

Konrad Lorenz (1903-1989) ist ein österreichischer Verhaltensforscher, der auf dem Gebiet der Biologie hervorragende Forschungsergebnisse erzielt hat. Er hat sich aber nicht nur mit Verhaltensforschung bei Tieren beschäftigt, sondern er hat auch versucht die Kantsche Erkenntnistheorie weiterzuentwickeln indem er die evolutionäre Entstehung des Erkenntnisapparates erklärt. Lorenz ist somit einer der Begründer der sogenannten Evolutionären Erkenntnistheorie (im Folgenden EE), die ich hier kurz vorstellen und einschätzen möchte.

Laut der EE hat sich der Erkenntnisapparat, der aus den Sinnesorganen und dem Verstand besteht, evolutionär entwickelt und ist deswegen an die Welt, in der wir leben, angepasst. Das Denken und die Sinneswahrnehmung wird als Komplex gesehen und nicht voneinander getrennt betrachtet.
Im Laufe der Evolution musste sich unser Erkenntnisapparat mit der Welt auseinandersetzen und sich an sie anpassen. Durch die natürliche Selektion muss sich gerade solch ein Erkenntnisapparat durchgesetzt haben, der die Welt am besten erkennt und deshalb können wir davon ausgehen, dass allem, was wir erkennen, etwas Wirkliches in der außersubjektiven Welt entspricht. Die Evolution des Erkenntnisapparates bedeutet dabei, dass sich nicht nur unsere Sinnesorgane evolutionär entwickelt haben, sondern auch unser Verstand.
Die a priori unseres Denkens, die vorrausgesetzten Tatsachen ohne die wir sinnliche Erfahrungen gar nicht verarbeiten könnten, so wie Kausalität, Raum und Zeit, sind in dem neuro-biologischem Geflecht unseres Gehirns und Zentralnervensystems festgehalten. Sie sind jedoch nicht willkürlich, wobei wir nur ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit erhalten würden, sondern haben sich evolutionär so entwickelt, dass sie ein wirkliches, allerdings stark vereinfachtes Bild liefern. Stark vereinfacht ist dieses Bild, weil es nur die Teile zeigt, die zur Arterhaltung notwendig sind, für die aufgrund des Selektionsdruckes für die sich "Organe" entwickelt haben.
Das bedeutet also, das unser Erkenntnisapparat aufgrund seiner evolutionären Entstehung nicht mehr erkennen kann als für den Arterhalt von Bedeutung ist. Das, was er abbildet, muss jedoch einigermaßen korrekt sein, denn sonst hätte die Menschheit nicht bis jetzt überleben können.

Soweit zur EE selbst, nun zu meiner Kritik daran.
Der größte Fehler, den die EE meiner Meinung nach macht, ist, dass sie versucht Philosophie mit Biologie zu erklären. Es gibt in der Welt verschiedene Strukturniveaus, von denen das unterste der Subatomare Bereich ist, anschließend kommen der Atomare und der Molekulare Bereich, die Welt der Makrokörper, die Galaxis und die Metagalaxis. Jeder höhere Bereich schließt alle niederen ein, die niederen sind jedoch vom höheren unabhängig. Die Übergänge zwischen diesen Strukturniveaus sind diskontinuierlich, das heißt, dass wesentliche Beziehungen einer Ebene nicht allein durch Beziehungen in einer anderen Ebene erklärt werden können.
Genauso kann man die Wissenschaft gliedern, wobei die Wissenschaften, die sich mit der leblosen Natur beschäftigen, also Physik und Chemie, die Basis bilden, anschließend kommt die Biologie, die sich mit dem Leben beschäftigt, und als höchstes diejenigen Wissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen; sprich die Gesellschaftswissenschaften, Psychologie und Philosophie.
Diese Unterscheidung trifft die EE auch (!), will aber trotzdem den Erkenntnisprozess (der also den Menschen betrifft) mit der Evolution (Biologie !) erklären. Warum? Das Neue entsteht durch Integration von bis dahin unabhängigen Systemen zu einer höheren Einheit, wobei die Teilsysteme verändert werden, bis sie alle zusammen das Neue ergeben. Die EE schließt daraus, dass das Neue Ganze aus der nächst-niedrigen Stufe heraus erklärbar ist, weil es sich daraus ableitet. Dabei wird aber vernachlässigt, dass die Übergänge diskontinuierlich sind und genau das Wesentliche des Neuen Ganzen nicht mehr mit der nächst-niedrigen Stufe erklärbar ist.
Es versucht keiner ernsthaft das Leben mit reiner Physik oder Chemie zu erklären. Genauso wenig kann man den Menschen auf seine Biologie reduzieren, wenn man versucht den Erkenntnisprozess zu erklären.

Es gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten, wie ein System auf Einflüsse von außen (auch irreversibel) reagieren kann: die Widerspiegelung und die Wechselwirkung. Die Widerspiegelung ist ein Prozess ohne Qualitätsänderung im System, die Wechselwirkung hingegen ein Prozess mit Qualitätsänderung.
Informationen tauchen nur in Widerspiegelungsprozessen auf, weil sie an die Entropie (Grad der "Unordnung") gebunden sind und die Entropie bei Qualitätssprüngen sprunghaft ansteigt. Das heißt, dass Informationen in Wechselwirkungsprozessen zwar vorhanden sein können, sie aber nicht steuern.
Laut EE sind Erkenntnisse, die unsere Vorfahren a posteriori (= nach der Erfahrung = aus der Erfahrung gewonnen) gewonnen haben im Laufe der Evolution zu a priori (= vor aller Erfahrung) geworden. Das heißt, dass aus der Evolution eine Anpassung folgt, die mit Information und damit mit Erkenntnisgewinn gleichgesetzt wird. Anpassung ist jedoch ein Prozess mit Qualitätsänderung und bedeutet darum nicht nur Informationsgewinn. Deswegen kann Evolution nicht einfach mit Erkenntnisgewinn gleichgesetzt werden.

Es gibt 3 bedeutende Unterschiede zwischen der tierischen und der menschlichen Erkenntnis: die Zielbewusstheit des Stoffwechsels mit der Natur, also das Herstellen und Aufheben von Dingen, der gesellschaftliche Charakter des Erkenntnisgewinns der Menschheit und die Fähigkeit mit Hilfe von Sprache Objekte zu benennen und zu abstrahieren. Das Ziel der Wissenschaft ist es, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und dabei auch die systematische Wahrnehmungsverzerrung durch den biologischen Wahrnehmungsapparat zu überwinden. Ein Beispiel für die Überwindung dieser biologischen Vorraussetzung ist unsere Raumvorstellung. Das uns angeborene Raummaß ist anisotrop, das heißt, dass die Richtungen nicht gleichberechtigt sind. 10 m in der Tiefe wirken für uns viel weiter entfernt als 10 m in der Ebene, beim Adler ist es genau anders herum. Die Raumvorstellung, mit der die Wissenschaft arbeitet, macht aber keinen Unterschied zwischen den Richtungen, sie sind alle gleichberechtigt.
Ebenso erklärt die EE, dass wir für "Wellenlängen", die für den Arterhalt unwichtig sind, kein "Organ" entwickelt haben. Wir können jedoch mit technischen Mitteln inzwischen sehr viele Dinge sichtbar machen, die für unsere Sinne verborgen sind, so wie zum Beispiel Wärme- oder UV-strahlung und mikroskopisch kleine Einzeller.
Die EE beschränkt sich auf die Erklärung der Entstehung der kognitiven Fähigkeiten. Da sie aber überhaupt nicht auf die Überwindung der biologischen Grenzen eingeht, kann sie nicht erklären und verstehen was Wissenschaft wirklich ist.

Wir sehen also, dass die EE versucht die evolutionäre Entstehung des menschlichen Erkenntnisapparates und unserer a priori zu erklären, dabei aber mehrere meiner Meinung nach gravierende Fehler macht und das Wesentliche des menschlichen Erkenntnisprozesses nicht erfasst.


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