Zur Diskussion gestellt:

Gewaltfrei oder militant, wichtig ist der Widerstand!?!
Andere Fragen als die nach Gewalt oder Militanz müssen im Mittelpunkt politischer Strategiedebatten stehen

Ein Diskussionspapier der Gruppe Landfriedensbruch (Basisgruppe Reiskirchen)

Die Frage der Gewaltanwendung prägt viele Versuche, Bündnisse für politische Ziele zu schmieden - und oft zerstört sie den Willen zur Gemeinsamkeit. Daraus stellt sich die Frage, ob diese Bedeutung berechtigt ist. Diese soll den Kern dieses Diskussionspapieres ausmachen: Ist die Frage der Anwendung von Gewalt ein solch wichtiger Knackpunkt, daß er zum Scheidepunkt werden muß? Es geht also NICHT um die Frage, ob Gewaltfreiheit sinnvoll ist oder nicht, sondern darum, ob sie ein dominantes Merkmal ist, d.h. ob sie berechtigterweise zu einem grundsätzlichen und damit ausgrenzenden Diskussionspunkt gemacht wird.

Dieses geschieht von zwei Seiten: Zum einen von Seiten des Staates sowie vieler Medien, zum anderen von Seiten sich als gewaltfrei definierender, aber auch anderer politischer Gruppen. Ihre jeweiligen Argumente sollen zunächst geklärt werden, um die Debatte zu verstehen.

Argumente für eine Dominanz der Gewaltfrage ... und Widerlegungen

An dieser Stelle können nicht alle Punkte aufgezählt werden, die gegen Gewaltanwendung sprechen. Es geht vielmehr um die Frage, ob die Gewaltfrage so bedeutend ist, daß sie zu der oder einer der grundlegenden Fragen gemacht wird, an denen sich die Frage von Aktionsstrategien oder Bündnissen entscheidet.

"Wir können eine gewaltfreie Welt nicht mit Gewalt erreichen": Gleichbedeutend wären: Der Zweck heiligt nicht die Mittel, oder: Wer gegen Gewalt ist, darf sie nicht anwenden. So oder auf ähnliche Weise wird die Forderung nach gewaltfreier Aktion oft begründet. Dieses Argument klingt zunächst plausibel und wird deshalb in den Vordergrund gestellt. Bei näherer Betrachtung ist es allerdings wenig gehaltvoll. Zum einen fehlt eine Begründung dieser Behauptung, meist wird sie als sich selbst begründendes Axiom hingestellt, das keiner zusätzlichen Begründung bedarf. Das aber ist schon als solches fraglich. Jede strategische Position muß hinterfragbar sein. Zum zweiten, und viel offensichtlicher, würde die Grundaussage selbst ad absurdum führen, wenn sie mit anderen Inhalten gefüllt würde: Kann Umweltschutz nur auf umweltgerechte Art und Weise durchgesetzt werden? Dann dürfte es schwierig sein, überhaupt noch zu agieren. Kann eine herrschaftsfreie Welt nur erreicht werden über Strukturen, die herrschaftsfrei sind? Der Wille dazu und die Arbeit daran sind wichtig, aber ihre Erfüllung als Voraussetzung zu nehmen für politische Aktion, heißt in der Praxis, nicht agieren zu können. Zusammengefaßt muß klar sein: Politische Positionen zu verwirklichen, ist überall wichtig - in jeder politischen Aktion, in Gruppen und im Alltag. Ihre Verwirklichung aber bereits als Voraussetzung einzufordern, macht politisch handlungsunfähig. Letztlich fordern gewaltfreie Gruppen das auch gar nicht. Sie wollen allein, daß ihr Anliegen als einziges so bewertet wird.

Gewaltfreiheit ist die wirksamste Strategie: Mit dieser oder ähnlich formulierten Aussagen wird behauptet, daß politische Wirkung von der Tatsache der Gewaltfreiheit ausgeht. Als Beispiel wird oft M. Gandhi angeführt, ohne auf die konkreten historischen Umstände und sich nicht automatisch wiederholende Vorgänge (z.B. die Berichterstattung der Massenmedien damals) zu schauen. Tatsächlich spricht nämlich wenig dafür, daß solche Vorgänge wiederholbar sind. Aktuell spricht alles dagegen: Gewaltfreie Bewegungen werden marginalisiert - siehe z.B. oppositionelle Gruppen in Jugoslawien bzw. den ex-jugoslawischen Staaten, deren Existenz meist nicht einmal bekannt wurde, während als AkteurInnen immer wieder die verschiedenen gewaltorientierten Gruppen (NATO, jugoslawische Regierung, UCK usw.) in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Ähnliches gilt auch für den bewaffneten Widerstand international, z.B. der Zapatistas in Chiapas, die gegenüber nichtbewaffneten Aufständen wesentlich mehr Aufmerksamkeit erhielten (vergleiche z.B. die Intercontinental Caravan von indischen BäuerInnen Mitte 1999, die in der Presse und politischen Debatte kaum vorkam).

Die politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre zeigen eher, daß vielfältige Aktionskonzepte die höchste Aufmerksamkeit und Mobilisierungswirkung erreichen - offenbar auch deshalb, weil sich dann viele Menschen ihren passenden Bezug zur Aktion suchen. Die rein militante, dann oft inhaltslose Aktion (z.B. 1. Mai in Berlin) ist genausowenig geeignet, öffentliche Wirkung zu erzeugen (wird eher als Randale dargestellt, ohne politische Ziele transportieren zu können) wie die gewaltfreie Aktion.
Militanz/Gewalt beeinträchtigen das öffentliche Image: Das ist kaum zu bestreiten. Allerdings gibt es zwei Einwände. Der erste ist, daß Militanz oft das öffentliche Interesse und damit eine Imagebildung überhaupt erst schafft - wenn auch in der Regel negativ. In etlichen Fällen konnte diese öffentliche Aufmerksamkeit dann für eine inhaltliche Debatte genutzt werden. Daß das nicht häufiger geschieht, liegt eher an der Inhaltslosigkeit und Unorganisiertheit gewaltanwendender Gruppen oder an der Tatenlosigkeit weiterer Zusammenhänge, die öffentliche Debatten in der Folge von Militanz nicht für die Vermittlung von Inhalten nutzen. In jedem Fall aber bleibt festzustellen, daß es heute meist nur um die Frage geht: Kein Image oder ein schlechtes, letzteres allerdings zunächst nur in den Augen der Herrschenden. Das ist auch wenig überraschend - angesichts der aktuellen Politik kann Widerstand nur auf die Abwehrreaktion der zur Zeit Mächtigen in Politik, Wirtschaft und Medien treffen.

Das zweite Gegenargument lautet, daß das öffentliche Image gar nicht das entscheidende Ziel politischer Arbeit ist, weil es sich an der Gruppe bzw. dem Verband und nicht an der Aktion festmacht. Das Image einer Gleisdemontage verändert sich nämlich nicht durch die Durchführung derselben. Und die Notwendigkeit der damit transportierten Forderung z.B. nach Abschaltung der Atomanlagen oder Stopp der Atommülltransporte wird auch nicht in Frage gestellt. Imageverluste müssen, wenn überhaupt, die beteiligten Personen oder Gruppen in Kauf nehmen. Sie, nicht ihre Forderung, wird öffentlich diskutiert und eventuell diskrediert. Das kann bedauerlich sein. Ein positives Image für Gruppen oder Verbände aber darf ebensowenig ein Ziel von politischer Aktion sein wie Ehre für die Mitwirkenden.
Hinzu kommt, daß schon die Grundannahme, Gewalt/Militanz könnten imageschädigend sein, sehr fragwürdig ist. Wer macht Image? Wenn sich eine Gruppe z.B. durch Mitwirkung bei Anti-Kriegs- oder Anti-Castor-Aktionen bei den Herrschenden (Regierungen, Medien, Konzerne usw.) unbeliebt macht, so wäre das nur dann bedauerlich, wenn die Gruppe es als Ziel hat, dort beliebt zu sein. Das, nicht die militante Aktionsform, wäre dann zu hinterfragen.

Was ist überhaupt Gewalt?

Diese Frage wird von Seiten gewaltfreier Aktionsgruppen fast nie genau geklärt. Und das hat Methode. Gewaltfreiheit ist nicht nur ein Ideal, sondern auch eine Imagefrage. Daher wird Gewaltfreiheit auch "verkauft", wobei Aktionsformen je nach öffentlicher Reaktion als gewaltfrei eingemeindet oder eben ausgegrenzt werden - öffentliche Distanzierungen gewaltfreier Gruppen gegenüber anderen sind leider schon häufiger vorgekommen, meist gegenüber der bürgerlichen Presse oder dem Staat, denen damit ein erheblicher Vorteil in der öffentlichen Interpretation verschafft wird. Bemerkenswert ist, wie z.B. in der Frage der Atomkraft oder Gentechnik Aktionsformen, die noch vor einigen Jahren von gewaltfreien Gruppen klar abgelehnt wurden, heute als gewaltfrei bezeichnet werden - und zwar deshalb, weil sie in der Öffentlichkeit positiv rüberkamen und sich so imagemäßig gut nutzen ließen. Das gilt z.B. für Gleissabotage oder Genfeldzerstörung. Diese Vorgänge machen deutlich, daß eine besondere Rolle der Gewaltfrage schon aus Definitionsproblemen kaum umsetzbar wäre.

Gewalt ist nicht gleich Gewalt

Ein politisch unakzeptabler Fehler vieler gewaltfreier Gruppen ist ihre völlige Undifferenziertheit gegenüber verschiedenen Ausgangspunkten von Gewalt. Hier hat das Fixieren auf diesen für sie wichtigsten Punkt zu einer gleichartigen Betriebsblindheit geführt wie das bei vielen anderen Zusammenhängen auch der Fall ist, wenn z.B. Ökos, Eine-Welt-Gruppen, Fraueninitiativen u.a. auf ähnliche Weise alles nur an ihrem Thema festmachen und dabei andere politische Ziele als weniger wichtig abtun. Von Seiten gewaltfreier Gruppen ist die Losung oft: Gewaltfrei = gut, militant = schlecht. Die Ziele, die mit gewaltfreier oder militanter Aktion verfolgt werden, geraten dabei oft in den Hintergrund.

Zudem wird nicht zwischen struktureller Gewalt bzw. Gewalt "von oben" sowie der Gewalt, die befreiende Ziele hat und sich gegen strukturelle Gewalt richtet (soziale Notwehr), unterschieden. Die Positionen mitteleuropäischer gewaltfreier Ideologien wären z.B. in Diktaturen sowie im Fall von Krieg oder ähnlichem krasser, direkter Unterdrückung völlig abwegig. Schon im Kleinen haben sie keinen Bestand, wenn es z.B. um das Abwehren sexistischer oder rassistischer Gewalt geht usw. Viele gewaltfreie Gruppen verteufeln Gewalt als solches. Damit machen sie sich zu ideologischen Hilfstruppen des Staates, der nicht um die Legitimation seiner Gewalt kämpfen muß - er hat das Gewaltmonopol. Wenn Gewalt in jeder Form gleich bewertet wird, gibt es auch keine Grundlage mehr zwischen Angriff und Verteidigung, Aggression und Notwehr, Übergriff und Selbstverteidigung.

Wichtiger als andere Fragen?

Selbst wenn, was mit obigen Ausführungen widerlegt werden sollte, die Gewaltfrage eine besonders große Bedeutung hätte, wäre noch ein weiterer Punkt zu untersuchen - nämlich der, ob sie denn wichtiger ist als alle oder zumindest die meisten anderen Fragen. Solche anderen Punkte innerhalb von Aktionsstrategien könnten sein:

  • Dominanzverhalten, u.a. die Männer- oder Erwachsenendominanz innerhalb von Aktionsstrategien oder Bündnissen.
  • Radikalität von Zielen, Verbindung von Ein-Punkt-Aussagen mit grundlegenden gesellschaftspolitischen Zielen.
  • Umweltgerechte Durchführung von Aktionen.
  • Und vieles mehr.

Die Motivation gewaltfreier Gruppen und des Staates, die Gewaltfrage zur zentralen Frage zu machen, ist einfach zu erklären. Der Staat will seinen eigenen Vorteil (Gewaltmonopol) aufrechterhalten, auch die Spaltung politischer Bewegungen ist in seinem Interesse. Die Gruppen, die den Begriff der Gewaltfreiheit im Titel führen oder in den Vordergrund rücken, dokumentieren damit ihr Interesse, dieses Thema als das wichtigste zu sehen. Diese Position bringen sie dann in Bündnisaktionen ein. Zudem findet sich in Veröffentlichungen vieler gewaltfreier Aktionsgruppen oder TheoretikerInnen die Erwartungshaltung, daß Gewaltfreiheit an sich bereits ein sanft-revolutionäres Potential birgt - eine Annahme, die theoretisch und aus der praktischen Erfahrung heraus wenig überzeugend wirkt.

Letztlich machen gewaltfreie Gruppen aber nichts anderes als die meisten anderen politischen Gruppen auch: Sie konzentrieren sich im Kern auf eine, ihre eigene Fragestellung - was völlig legitim ist. Öko-, Frauen-, Eine-Welt-Gruppen, Gewerkschaften usw. verhalten sich nicht anders. Und auch von diesen kommen in Bündnissen immer wieder Positionen, daß ihr Thema für alle das wichtigste sein soll. Oft haben ihre Positionen sogar eine klarere Berechtigung als die Gewaltfrage, z.B. die feministische Kritik an den patriarchalen Strukturen auch in politischen Zusammenhängen oder die Forderung nach umweltgerechter Durchführung von Aktionen. Nur - und ohne die Berechtigung der Forderungen absprechen zu wollen - wenn jede Gruppe ihr Hauptanliegen zum Knackpunkt über Sein und Nichtsein machen würde, wären Bündnis-Aktionen wohl nicht mehr möglich.

Konsequenzen

Vielfalt zulassen: Die Anwendung von Gewalt bzw. die Strategie der Militanz ist keine dominante Fragestellung. Sie ist eine der vielen zu diskutierenden Punkte, wenn es um Aktionsformen geht - neben anderen Fragen wie der nach politischen Grundaussagen (Motto oder der Titel einer Aktion), Zeitpunkt und Ort usw. Im allgemeinen gehört die Gewaltfrage aber nicht zu den Fragen, bei denen eine Einigung auf eine einengende Strategie nötig ist, weil ohne Probleme verschiedene Stile neben- und miteinander möglich sind. Wieweit die verschiedenen Aktionsformen miteinander agieren oder auch nebeneinander erfolgen können, welchen Abstand (zeitlich und/oder räumlich) sie zueinander halten, ist eine Frage strategischer Absprachen innerhalb vielfältiger Aktionsstrukturen. Diese Form der Vielfalt gilt für die Frage der Militanz genauso wie für viele weitere Fragen, in denen nebeneinander verschiedene Positionen bestehen können. Gruppen können ihre Unterschiedlichkeit sogar benennen - so wie das z.B bei den Castor-Aktionen von verschiedenen Gruppen sehr offensichtlich gemacht wird. Dort gibt es offen dargestellt die Vielfalt mit unterschiedlichen Ansätzen in der Militanzfrage (Gruppen wie X-tausendmal quer mit ihrer offen verfochtenen Gewaltlosigkeit neben aggressiv-militanten Gruppen und solchen, die beide Positionen akzeptieren, wie z.B. der oft zitierte Spruch "Gewaltfrei oder militant - wichtig ist der Widerstand" zeigt). Ebenso herrscht solche Vielfalt bei anderen Fragen, z.B. von der auf den Castortransport beschränkten politischen Position bis zu allgemein gesellschaftskritischen Parolen und Forderungen.

Klare Postionen benennen: Aktionen sollten klare Positionen benennen - am besten radikale, denn öffentliche Aktionen dienen der Formulierung der "reinen", also von politisch-taktischen Überlegungen freien Forderungen. Neben dem speziellen Anlaß oder Motto einer Aktion können allgemeinpolitische Positionen von vorneherein mit dem Anlaß verbunden sein und Grundlage der Bündnisbildung sein. Beispiele: Eine Aktion gegen einen Abschiebeknast im speziellen verbunden mit der Forderung eines Abschiebestopps oder offenen Grenzen insgesamt. Die Aktion gegen den Castor-Transport verbunden mit der Forderung nach Atomausstieg. Usw. Wenn eine solche Zielrichtung die Grundlage der Aktion ist, sollte das klare Profil auch nicht aufgegeben werden, z.B. um Organisationen zu gewinnen, die diese Positionen nicht mittragen würden. Der Mut zu klaren Positionen ist unabdingbare Grundlage politischer Wirkungsfähigkeit.

Gewaltfreiheit ist legitim, aber nicht dominant: In diesem Papier ist versucht worden, den Dominanzanspruch der Gewaltfreiheit zu widerlegen. Das ändert aber nichts daran, daß gewaltfreie Positionen legitim sind. Gerade im Sinne einer gewollten Vielfalt, d.h. die Autonomie der Gruppen stärkenden Aktionsstrategie müssen gewaltfreie Aktionen nicht nur geduldet, sondern ihnen aktiv Raum geschaffen werden, damit sie in ihrer besonderen Form auch zur Geltung kommen. Das bedeutet, daß Aktionsplanungen so vorgenommen werden müssen, daß Gewaltfreiheit sichtbar wird, also z.B. nicht durch militante Aktionen zur gleichen Zeit am gleichen Ort unkenntlich wird. Die Debatte über Sinn und Zweck von Gewaltfreiheit hat nämlich weder einen Anspruch auf Dominanz noch darf sie ignoriert werden. Sie hat den gleichen Anspruch auf Verwirklichung wie alle anderen Aktionsformen - und muß sich bei der Entscheidungsfindung über konkrete Abläufe und Orte auf die Absprachediskussion mit allen anderen einlassen. Jede Form von Dominanz ist falsch: Sowohl die der Gewaltfreien gegenüber den anderen, die gewaltbereit sind oder die Anwendung von Gewalt akzeptieren, als auch umgekehrt die gegenüber den Gewaltfreien und ihren Aktionsformen. Denn schon von der Mobilisierbarkeit her schafft eine Aktionsstrategie, die verschiedene Aktionsformen zuläßt, deutliche Vorteile, da sich alle Menschen mit ihren bestimmten Neigungen und Einstellungen bewußt "ihre" Aktion aussuchen oder selbst eine entwickeln können. Der Castor-Widerstand, dessen politisch-inhaltliche Qualität hiermit nicht gelobt werden soll, bietet dafür ein positives Beispiel.

Vielfältige Aktionsstrategien entwickeln: Wirksame Aktionsstrategien sind zur Zeit eher Mangelware - zumal wirksam ein relativer Begriff ist, d.h. er hängt von der diskutierten Zielsetzung ab. Diese ist aber ebenfalls nur selten klar, so daß eine entsprechende Analyse der Qualität von Aktionsformen anschließend ebenfalls unterbleibt. Dieser Mangel politischer Bewegung muß überwunden, d.h. über Aktionsformen und -strategien künftig mehr und intensiver, vor allem aauch als Erfolgsbewertung und bezogen auf dann folgende Aktionen diskutiert werden. Streit und Kritik dienen dabei der Verbesserung von Inhalt und Strategie, nicht der Ausgrenzung.

Die meisten der in jüngster Zeit gelaufenen Aktionen und Kampagnen zeigen eher ein enormes Defizit politischer Strategie. Selbst Qualitäten, die vor zehn oder mehr Jahren schon Stand der Dinge gewesen sind, sind verloren gegangen (Pressearbeit, Informationsflüsse innerhalb von Bündnissen usw.). Diese wiederzugewinnen, ist Mindestziel. Tatsächlich muß die politische Strategieentwicklung aber darüberhinaus gehen und immer wieder die eigenen Aktivitäten hinterfragen und weiterentwickeln. Besonderes Ziel wird sein, vielfältige Aktionsansätze weiterzuentwickeln, d.h. das Mit- und Nebeneinander verschiedener Aktionsformen, z.B. gewaltfreier und militanter. Es wird noch vieles entworfen und ausprobiert werden müssen, damit sich diese Vielfalt zu einer Stärke entwickelt, d.h. daß die einzelnen Aktionen sich gegenseitig stärken, unterstützen und insgesamt wirkungsvolle, vielfältige Strategien entwickeln. Ein Nebeneinander von Militanz und gewaltfreier Aktion ist möglich und fördert die öffentliche Debatte - das beweisen die Castor-Auseinandersetzungen.

Unkalkulierbar werden und bleiben: Ein wichtiges Ziel von Aktionsformen ist die kreative Unkalkulierbarkeit. Flexibilität und die Fähigkeit, Aktionsstrategien immer weiterentwickeln zu können, sind wichtig. Jegliche dogmatische Selbstbeschränkung, vor allem die nach außen benannte, wird es dem Gewaltmonopol des Staates, aber auch dem konkreten politischen Gegner leichter machen, mit den Aktionen umzugehen. Sichtbar ist das z.B. an den Strategien der Polizei. Diese haben inzwischen Massendemonstrationen spielend im Griff und drängen deshalb VeranstalterInnen in der Regel zu geschlossenem Auftreten (siehe Aktionen in Köln im Juni 1999 oder das Drängen der Polizei, spontane Aktionsformen wie RTS oder Critical Mass als angemeldete Demonstrationen zu organisieren). Daher sollten neue und kreative Aktionen entwickelt werden, die die auf Konformität eingestellte Polizei zur Zeit überfordern würde. Und weiter: Die Polizei würde nach einiger Zeit reagieren, d.h. die Aktionsformen müssen ständig weiterentwickelt werden.

Überzeugen statt Ausgrenzen: Ausgrenzung schafft in der Regel keine Bewußtseinsprozesse und macht seinen Sinn nur dort, wo festgelegte Grenzen überschritten werden (z.B. sexistisches oder rassistisches Verhalten). Wichtiger bei der (notwendigen!) Arbeit an Aktionsstrategien ist die Debatte um die Frage der Aktionsformen, die der internen (Dominanz-)Strukturen, der politischen Ziele und des Umgangs mit der Staatsmacht. In diese strategische Diskussion, die der Weiterentwicklung von Aktionsformen und politischen Zielen dient, sollten sich alle mit ihren Positionen einbringen - nicht jedoch mit dem Ziel der Ausgrenzung, d.h. des Durchsetzens ihrer Position für alle. Politische Bewegung vergißt viel zu häufig eine Debatte über Strategien und Ziele.
Ergebnis ist die aktuelle Phantasie- und Inhaltslosigkeit, die zu ein-punkt-bezogenem Aktionismus oder zur Anbiederung an die Machtstrukturen (NGOs u.ä.) führt.

Strategisch werden: Welche Gewalt ist wann angemessen? Jede politische Position oder Aktion muß diskutiert und strategisch vorbereitet werden. Ebenso kann jede Erfahrung der kritischen Analyse dienen, um Strategien weiterzuentwickeln. Dazu gehört auch, daß verschiedene Vorschläge für Aktionsformen und -inhalte eingebracht werden - auch die gewaltfreier Aktionsformen. D.h. sowohl die Kritik an gewaltfreien Positionen, Strategien oder Dominanzen ist zulässig wie auch die an militanten Konzepten oder Verhaltensweisen. In allen Fällen ist auch zulässig, einzufordern, daß Strategien, Positionen oder politische Zielaussagen insgesamt oder innerhalb eines Bündnisses für alle gelten sollen. Aber das wird zu begründen sein. Das gilt auch für die Gewalt. Wer einfordert, eine Aktion müsse insgesamt gewaltfrei ablaufen, muß das aus der Aktion heraus begründen. Unter anderem wird die Frage nach der Angemessenheit zu stellen sein: Welche Form ist wann richtig? Und wann ist ist es wichtig, daß Entscheidungen für alle gelten?

Es spricht vieles dafür, daß der grundsätzliche Verzicht auf Gewalt die Aktionsmöglichkeiten stark einschränkt. In der Folge sind gewaltfreie Aktionsgruppen besser kalkulierbar für die Staatsmacht, deren Anwesenheit jede Aktion potentiell gewalttätig macht, weil sich der Staat nicht auf den Gewaltverzicht einläßt, sondern dieser immer einseitig ist. Und noch schlimmer: Für viele Fragestellungen sind Aktionen gar nicht mehr machbar. Gewaltfreie Aktionen haben ihre Grenze dort, wo staatliche oder sonstige Gewalt nicht mehr gewaltfrei abzuwenden ist. Der Krieg gegen Jugoslawien war nicht nur ein quantitavier Mißerfolg politischer Mobilisierung, sondern auch ein qualitativer: Die gewählten Aktionsformen, stark von gewaltfreien Gruppen wegen ihrem hohen Interesse an antimilitaristischen Positionen geprägt, blieben stumpf gegen eine sich routiniert abwickelnde Kriegsmaschinerie. Ob Militanz, z.B. gegen Rüstungskonzerne, Parteibüros, Ministerien usw. mehr gebracht hätte, ist fraglich - muß aber diskutiert werden.

Insgesamt gilt für die Gewaltfrage nicht anders als andere strategische Fragen auch: Für jede Aktion und jedes politische Ziel, die jeweiligen Rahmenbedingungen und die aktionstragenden Gruppen muß neu diskutiert werden, welche Aktionsformen sinnvoll sind.

Alles ist offen - nur die Struktur und Grundposition eines Bündnisses nicht: Nicht die Gewaltfrage, sondern ganz andere Entscheidungen in einem Bündnisse sind es, die tatsächlich gemeinsam zu entscheiden sind, weil sie unumstößlich alle betreffen und nicht durch ein Nebeneinander der verschiedenen Aktionsformen gelöst werden können. Das betrifft vor allem die Struktur von Bündnissen. Die Frage nach Entscheidungsstrukturen, nach zentraler Organisation oder gewollter Vielfalt muß gemeinsam diskutiert und entschieden werden. Dazu gehört auch die Frage, ob ein Bündnis sich als offene oder zentralisierte Struktur, allein oder als eine von vielen Aktionsideen neben anderen versteht. Denkbar ist, daß Aktionen sogar von verschiedenen Bündnissen organisiert werden, die selbst wieder aus aktionsfähigen Basiszusammenhängen bestehen. Dies alles sollte aber klar und transparent sein, gemeinsam entwickelt und entschieden werden. Notwendig als gemeinsame Debatte ist die Bestimmung grundlegender Aussagen, ohne daß dadurch zwingend eine exakte Textfassung für alle gelten muß - denn in den Details, oft nur stilistischen Fragen, kann wiederum Vielfalt gelten.

Auch notwendig ist die Abstimmung zwischen Aktionsformen, die sich behindern könnten. Orte und Zeiten sind so zu wählen, daß die Vielfalt zur Geltung kommt.

Downloadmöglichkeit für:

Positionspapier zur Frage von Militanz und Gewaltfreiheit

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