aus: Schlemm, Annette
(1999): Utopien nach den Bomben auf
Jugoslawien? Philosophische Dialektik im Spannungsfeld zwischen militantem Pessimismus
und militantem Optimismus. In: Naturwissenschaftliches Weltbild und
Gesellschaftstheorie. Evolution in Natur und Gesellschaft - Gemeinsamkeiten und
Gegensätze, Leipzig, S. 103-123.
Möglichkeit und Freiheit
Determinismus als
"Theorie von der Bedingtheit und Bestimmtheit der Objekte und Prozesse im
Gesamtzusammenhang mit anderen Objekten und Prozessen"[1]
steht nicht im Gegensatz zur Freiheit, sondern hält die Frage nach dem
Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit offen.
Die Hegelsche
Philosophie sieht das nur Existierende, Daseiende als niedere Erscheinung an
und sucht das vernünftig Wirkliche zu bestimmen. Hegel betrachtet es geradezu
als Aufgabe des Erkennens, "das Zufällige
zu überwinden"[2], ohne es
beseitigen zu wollen. Hegel kennt zwar eine reale
Möglichkeit - diese ist von Bedingungen abhängig. "Was
daher real möglich ist, das kann nicht mehr anders sein; unter diesen
Bedingungen und Umständen kann nicht etwas anderes erfolgen"[3].
Die reale Möglichkeit vermittelt den Übergang zu einer jeweils neuen
Wirklichkeit, die das eigene Innere der umittelbaren Wirklichkeit verbraucht.
Die dabei verzehrte unmittelbare Wirklichkeit ist die Bedingung. Sie ist ein zufälliger, äußerer
Umstand, der ohne Rücksicht auf die Sache existiert.
Hegel lehnt eine
Möglichkeitsvielfalt ab: "Weiter geschieht es dann in praktischer
Beziehung auch nicht selten, daß der üble Wille und die Trägheit sich hinter
der Kategorie der Möglichkeiten verstecken..."[4].
In der Notwendigkeit zeigt sich, daß die Aneinandergebundenen "nur Momente eines
Ganzen"[5]
sind - woraus
sich nach Hegel konkrete Freiheit ableitet. Letztlich bleibt Freiheit die
Übereinstimmung zwischen dem, was ist und dem was sein und geschehen soll.
Ein Versuch, die
Zwangsläufigkeit im üblichen Kausalitätsverhältnis aufzubrechen, ist die
Bestimmung von Kausalität als
" eine elementare und konkrete Vermittlung des Zusammenhangs und nicht als
notwendiges Hervorbringen einer bestimmten Wirkung durch eine bestimmte
Ursache"[6].
Ernst Bloch kritisiert
die Hegelsche Möglichkeit als nur "kleine Vorstufe der Wirklichkeit, mit
dem Wirklichen gleich verschwindend"[7].
Bloch stellt die
Möglichkeit als logisch zentrale Kategorie, als Offenheitskategorie in den
Mittelpunkt. Das führt dazu, daß sein "Ganzes" eben nicht, wie oben
für Hegel gezeigt, alles als Momente in sich enthält, sondern selbst erst im
Prozeß entsteht und immer offen für neues Entstehen bleibt.
Auch Bloch verwendet
den offeneren Begriff der Bedingungen, statt der Ursachen. Bedingungen bringen
demnach ihre Wirkung nicht unumgehbar zustande. Ihr Vorhandensein schließt das
Vorhandensein der von ihr bedingten Folge nicht unbedingt mit ein: Bedingung
ist Wirkgrund des Zukünftigen in einem mehr oder weniger ausgemachten
Schwebezustand. Im Bereich des Gesellschaftlichen hängen die Bedingungen zum
großen Teil vom eingreifenden Subjekt ab.
Die Bedingungen sind
es einerseits, die durch ihre Partialität das Offenhalten gewährleisten -
andererseits jedoch ermöglicht gerade ihre Berücksichtigung im Handeln
Einflußmöglichkeiten.
Bloch scheut sich
nicht vor der Vielzahl von Möglichkeiten:
"Es bleibt in menschlicher Geschichte wie in außermenschlicher Natur das Meer weiterer, offener Möglichkeiten,
gerade als erst partiale Bedingtheit für Verwirklichung, offen in Tendenz und Latenz"[8].
Diese Offenheit und
Vagheit wird durch die Bestimmungslosigkeit des negierenden Nichtseienden und
der Relationen (zwischen Existenz-Daß und Essenz-Was) verbürgt. "Diese
Unbestimmtheit des Nicht splittet die Relation... Ihre Eindeutigkeit wird
aufgehoben"[9].
Diese offene
Kategorisierung entspricht der Eigenschaft der Materie, "nach Möglichkeit"
zu existieren und "in Möglichkeit" zu sein. Ihre Daseinsformen müssen
sich "nach den Möglichkeiten" richten, ihnen entsprechen, sind durch
hinderliche Schranken begrenzt. Gleichzeitig tragen sie Möglichkeiten in sich,
als "helfende materielle Bedingungen zum Hervortreten der Form"[10].
Dies entspricht der Hegelschen Ineinanderfolge von Wirklichkeit (mit
Möglichkeit anderer Wirklichkeit) ... andere Wirklichkeit (mit Möglichkeit
wieder anderer Wirklichkeit)... - aber real verzeitlicht, nicht ideell
festgehalten.
Das Nach- und
In-Möglichkeit-Seiende der Materie macht die Ansatzpunkte des Handelns
deutlich. "Der subjektive Faktor ist hierbei die unabgeschlossene Potenz,
die Dinge zu wenden, der objektive Faktor ist die unabgeschlossene
Potentialität der Wendbarkeit, Veränderbarkeit der Welt im Rahmen ihrer
Gesetze, ihrer unter neuen Bedingungen sich aber auch gesetzmäßig variierenden
Gesetze"[11]. Die
materielle Vermittlung sichert, daß auch "ein Offenes durchaus nicht
beliebig" ist. "Auch das Kannsein ist gesetzlich"[12].
Das Mögliche ist deshalb nichts schlechthin Beliebiges, sondern mit der
Wirklichkeit vermittelt. Die entstehende Variablität ist keine "äußerliche
sondern gesetzmäßig-sachhaft vermittelte Variabilität" und "geordnete
Entwicklungsfülle der offenen Welt".
Hegelsche
"Möglichkeit" |
Blochsche
"Möglichkeit" |
Bestimmtes
Negierendes bringt Prozeß voran (Hegel, Phän., S. 62) |
Unbestimmtes
Negierendes bringt Prozeß voran (Bloch EM, S. 41) |
Möglichkeit nur
abstraktes Moment der Wirklichkeit |
Materie "nach
Möglichkeit" und "in Möglichkeit" |
"Idealismus" (M nur abstrakt, als reale wird
sie zur Notwendigkeit) |
M als Eigenschaft
der Materie |
Reale Möglichkeit =
Notwendigkeit: "weil die Umstände so sind", Bedingungen sind immer
gerade vollständig; ggs. Bindung als
"Momente eines Ganzen" |
Partiale Bedingtheit
auch im Realen, Verzeitlichung der Verschachtelung: W (M(W´)) ®
W´(M´(W´´))...; Das Ganze ist nie
fertig ("offenes System") |
"übler Wille
und die Trägheit verstecken sich hinter der Kategorie der Möglichkeiten" |
"Meer von
Möglichkeiten" |
Aufgabe des
Erkennens, "das Zufällige zu überwinden" |
Experimentum Mundi! |
Vergleich der Begriffe
"Möglichkeit" bei Hegel und Bloch
Nach der neueren
Evolutionstheorie[13]
existiert für jeden Wirklichkeitsbereich als Moment umfassenderer Bereiche ein
Möglichkeitsfeld. Das Muster der Entwicklung ist deshalb nicht nur eine lineare
Folge, nicht nur eine zweiwertige Alternative, sondern ein offener Raum, der
u.U. durch Differenzierungen und Radiationen ausgefüllt wird und den Prozeß
"aufsplittet", verzweigt. Jede der dabei wirkenden Möglichkeiten
stellt eine Negation des Vorhandenen dar, sie bleiben aber so lange unbestimmt,
bis sie in der Entwicklung eingeholt wird.
Ž
"Keine der gegebenen Alternativen
ist von sich aus bestimmte Negation, wofern und solange sie nicht bewußt
ergriffen wird"[14].
Auch der Verzicht auf bewußtes Handeln setzt ganz bestimmte Negationen, i.a.
die am wenigsten gewünschten frei.
Entwicklungsprozesse
beinhalten unterschiedliche Phasen, in denen diese allgemeinen Zusammenhänge in
unterschiedlicher Weise auftreten. In relativ stabilen Phasen der Evolution
reproduziert sich das jeweilige System i.a. autopoietisch (entsprechend den
gesetzmäßigen Zusammenhängen). Dabei verändern sich innere und äußere Bedingungen
(sie werden "aufgebraucht") bis zu einem Punkt, an dem die bisherige
Reproduktionsweise nicht mehr stattfinden kann. Eine "sensible Phase"
für grundlegende qualitative Veränderungen ist erreicht und kleinste
Fluktuationen in den Bedingungen ("Schmetterlingseffekt") können
konkrete Auslöser und Auswahlfaktoren für qualitative Sprünge sein. Im neuen
System entstehen neue Wesenszüge, Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeitsfelder.
Ž
Dadurch liegt hinter dem Meer an
Möglichkeiten im Vorhandenen noch einmal ein unermeßlicher Ozean von
Möglichkeiten nach solchen
Qualitätssprüngen. Handlungsstrategien müssen derzeit gerade jene Möglichkeiten
in ihren Horizont aufnehmen, denn nur sie können gesellschaftliche Auswege aus
der sich anbahnenden Barbarei der kapitalistischen Endzeit zeigen.
Obwohl die Entwicklung
insgesamt in gesetzmäßigen Zusammenhängen stattfindet, sagt kein Gesetz den Weg
voraus. Ein Gesetz kann immer nur bestimmte Kontingenzen mit Bedingungen
verknüpfen. Außerdem ist nicht zu vergessen, daß vollständige
Entwicklungssprünge (Integration mehrerer Systeme...) nicht durch wesentliche
Zusammenhänge (Gesetze) eines Systems bedingt und bestimmt werden, sondern
durch die Wechselwirkung mehrerer Systeme (Gesetze). Statistische Gesetze[15]
in diesem Sinne stehen also nicht lediglich für "Wiederholbarkeit"
und Notwendigkeit, sondern geben lediglich für spezifische Systeme Tendenzen
und Möglichkeitsfelder an.
Für die Gesellschaft
stellen ihre Bedingungen deshalb keine Determinanten menschlichen Handelns dar,
sondern sie spannen einen Möglichkeitsraum auf[16].
Die partielle
Bedingtheit kennzeichnet die Offenheit des Prozesses gegenüber Zufälligem, das
dadurch gekennzeichnet ist, daß es Bedeutung für die Sache hat, obwohl es ohne
Rücksicht auf sie existiert. Diese Rolle des Zufälligen als Funktions- und Existenzbedingung
selbstorganisierender Systeme wurde aus der Untersuchung von
Evolutionsprozessen schon lange vermutet[17].
Zufälle bringen damit eine Art "Überschuß an Umständen" in den Prozeß
aus den Wechselwirkungen des Systems mit seiner Umwelt.
Diese Rolle der Umwelt
wurde in der Dialektik bisher i.a. vernachlässigt, weil jeweils nur die
Entwicklung einer Totalität betrachtet wurde. Das Hineinnehmen des Äußeren
wurde gleich wieder in der umfassenderen Totalität aufgefangen (das Äußere wird
Innen und umgekehrt). Evolution beduetet aber eine wechselseitige Veränderung
von Umständen und Bedingungen in der Ko-Evolution verschiedener Einheiten.
Ž
Für gesellschaftspolitische Fragen ist
es ganz wichtig darauf zu achten, daß nicht jeweils die Betrachtung einer Ebene
als Totalität (z.B. der individuellen Subjekte oder der Gesamtgesellschaft bzw.
das "Kapital in seiner Subjekteigenschaft") die Eigengesetzlichkeit
und Möglichkeitsfelder der jeweils anderen Bereiche auszulöschen droht, sondern
gerade die Beziehung zwischen relativen Totalitäten in den Blickpunkt geraten
(Vermittlung individueller, gemeinschaftlicher und gesamtgesellschaftlicher
Handlungsebenen unter Wahrung der relativen Totalität jeder einzelnen).
[1] Hörz, H., Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften, Berlin (DDR) 1976, S. 356
[2] Hegel Enz.I., S. 285
[3] Hegel, G.W.F., (WdL II), Wissenschaft der Logik II, Frankfurt am Main 1986, S. 211
[4] Hegel Enz.I., S. 283
[5] Hegel Enz.I., S. 303
[6] Hörz, H., Wessel, K.-F., Philosophische Entwicklungstheorie, Berlin (DDR) 1983, S. 114
[7] Bloch EM, 143
[8] EM, S. 129
[9] Bothner, R., Wider die gängige Meinung, daß Bloch kein Dialektiker sei, in: U-Topoi. Ästhetik und politische Praxis bei Ernst Bloch, Hrsg.: Zimmermann, R.E., Koch, G., Mössingen-Thalheim 1996, S.65
[10] Bloch EM, S. 140
[11] Bloch, E., (PH) Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/Main 1985, S. 286
[12] Bloch, PH, S. 274
[13] vgl. u.a. Schlemm 1996
[14] Marcuse, H., Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. München 1998, S. 235
[15] vgl. Hörz, Wessel 1983, S. 108
[16] Holzkamp, K., Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/Main, New York 1985
[17] Cimutta, J., Die Dialektik von Zufall und Notwendigkeit im Evolutionsgeschehen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 8/1969