Adorno und Bloch
"über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht"

 

 
 

Welche Positionen könnten weiter auseinander liegen als jene des Kritischen Theoretikers Theodor W. Adorno und des konkreten Utopikers Ernst Bloch? Es heißt, Adorno sei „im Unterschied zu Bloch [...] gewissermaßen der Theoretiker der gesellschaftlichen Dystopie“. (Münz-Koenen 1997: 18) gewesen.

Klassisch geworden ist ein Gespräch zwischen den beiden Kontrahenten aus dem Jahr 1964 (zitiert als „Gespräch“, auch nachzuhören).

„Etwas fehlt...“

Höflich aufeinander eingehend, geschliffen formulierend erfüllen sie uns den Wunsch, selbst miteinander über ihre Differenzen und auch ihre Übereinstimmungen zu sprechen. Manchmal stimmen der eine dem anderen zu („Ja, ich stimme dem sehr zu...“), sagt aber dann tatsächlich etwas Anderes. Der eine betont eine „Schrumpfung des utopischen Bewußtseins“ (Adorno), der andere vermutet eher, dass „die Zeit [...]eher eine Aufwertung des Utopischen gebracht hat“ (Bloch). Von dem einen ist bekannt, dass er in den kleinsten Alltäglichkeiten „Spuren“ des Utopischen aufsucht (Bloch, z.B. in „Prinzip Hoffnung; vor allem auch sein erstes Werk mit dem Titel „Spuren“), der andere fordert einen klaren qualitativen Umbruch: „Was Utopie ist, als was Utopie vorgestellt werden kann, das ist die Veränderung des Ganzen“ (Adorno).

Blochs Schriften suchen und finden in den vielfältigsten Lebensäußerungen, in Tagträumen wie auf Jahrmarktsplätzen, jene Risse im Leben, in denen „etwas fehlt“ und die über das Gegebene hinausweisen. Adorno versucht dann zu ergründen, warum die alltäglichen Wunschträume nicht in gesellschaftsverändernde Forderungen münden. Er findet eine Antwort:

„... das kommt davon, daß die Menschen den Widerspruch zwischen der offenbaren Möglichkeit der Erfüllung und der ebenso offenbaren Unmöglichkeit der Erfüllung nur auf die Weise zu bemeistern vermögen, daß sie sich mit dieser Unmöglichkeit identifizieren und diese Unmöglichkeit zu ihrer eigenen Sache machen und daß sie also, um mit Freud zu reden, sich „mit dem Angreifer identifizieren“ und daß sie sagen, daß das nicht sein soll, von dem sie fühlen, daß es gerade ja sein sollte.“ (Gespräch)
Damit setzt auch Adorno voraus, dass die Menschen durchaus fühlen, dass es anders sein sollte. Bloch bezeichnet die sich dabei zeigende „Invariante der Richtung“ als Sehnsucht, die die durchgehende und vor allem die einzige ehrliche Eigenschaft aller Menschen ist“ (Gespräch).

Adornos „Utopie in Spiegelschrift“

So entgegengerichtet sind also Adornos und Blochs Ansichten zur Utopie gar nicht. Es wird eingeschätzt, die Dystopie bei Adorno sei „eine Variante utopischen Denkens, hinter deren Hoffnungslosigkeit und ausgesprochenem Utopieverzicht sich eine geradezu metaphysische Hochschätzung des Utopischen verbirgt.“ (Münz-Koenen 1997: 18) Die „Negative Dialektik“ wird als „Utopie in Spiegelschrift“ entziffert (ebd.: 113).

Was das bedeutet, illustriert eine kleine Begebenheit, die über Bloch berichtet wird:

„In einem Gespräche mit Franz Masereel [...] wurde Bloch vom Künstler erwidert, dieser könne nicht in der Welt, wie er sie vor sich sieht, Bilder einer glücklichen Zukunft hervorbringen. Blochs Antwort: Masereels Werke seien doch voll Empörung, und darin liege die Hoffnung, daß man sich empören könne.“ (Schmidt 1985: 119 f.)
Zum Ausdruck dessen, dass immer „etwas fehlt“, wird bei Adorno die Kunst, die eine „utopiestiftende Rolle“ bekommt. (Münz-Koenen 1997: 129)
„Kunstwerke begeben sich hinaus aus der empirischen Welt und bringen eine dieser entgegengesetzte eigenen Wesens hervor, so als ob auch diese ein Seiendes wäre.“ (Adorno ÄT: 10)
Hier zeigt sich wieder eine Verwandtschaft mit Bloch, der im künstlerischen Vor-Schein ein „Zu-Ende-Treiben der Personen, Situationen, Schicksale auf ihr Wesenhaftes hin“ (TE: 179) sieht, wodurch belichtet wird, „was gewohnter oder ungestumpfter Sinn noch kaum sieht...“ (Bloch PH: 247) Auch Ingeborg Bachmann wagt es, 7 Jahre nach dem Ende des Hitlerfaschismus, in ihrem Gedicht „Früher Mittag“ dem Verdikt von Adorno, nach Auschwitz sei es barbarisch, ein Gedicht zu schreiben, zu widersprechen:
Nur die Hoffnung kauert erblindet im Licht.

Lös ihr die Fessel, führ sie
Die Halde herab, leg ihr
die Hand auf das Aug, daß sie
kein Schatten versengt!

Für Adorno selbst gab es einen interessanten Erfahrungsraum für so etwas wie Utopie:

„Zwischen Ottorfszell und Ernsttal verlief die bayerische und die badische Grenze. Sie war an der Landstraße durch Pfähle markiert, die staatliche Wappen trugen und in den Landesfarben spiralig bemalt waren, weiß-blau der eine, der andere, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, rot-gelb. Reichlicher Zwischenraum zwischen beiden. Darin hielt ich mit Vorliebe mich auf, unter dem Vorwand, an den ich keineswegs glaubte, jener Raum gehöre keinem der beiden Staaten, sei frei, und ich könne dort nach Belieben die eigene Herrschaft errichten. Mit der war es mir nicht ernst, mein Vergnügen darum aber nicht geringer. [...] Das Land aber, das sie umschlossen und das ich, spielend mit mir selbst, okkupierte, war ein Niemandsland. Später, im Krieg, tauchte das Wort auf für den verwüsteten Raum vor den beiden Fronten. Es ist aber die getreue Übersetzung des griechischen – Aristophanischen, das ich damals desto besser verstand, je weniger ich es kannte – Utopie." (zitiert in Debes, Otterbacher)

Auch die mich in mehreren Blogbeiträgen umtreibende Frage nach einer positiven Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft (bzw. Welt), die ich u.a. im Topos der Hegelschen „Sittlichkeit“ sehe, findet sich bei Adorno. Er findet eine wunderschöne Formulierung für das, was meine suchenden Gedanken umkreisen: „das Unterschiedene hat teil aneinander“...

„Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander“ (Adorno SO: 153)

Der Tod als Anti-Utopie

Wie kommt nun aber Adorno zu dem bekannten „Ausmalverbot“ für Utopien? Wir werden sehen, dass er auch hier Bloch recht nahe steht.

Für beide ist das Problem des Todes beim Thema Utopie ganz wesentlich. Für Bloch gilt:

„Der Tod stellt in der Tat die härteste Gegenutopie dar. Der Brettschlag am Ende macht mindestens allen unseren individuellen Zweckreihen ein Ende, entwertet also auch das Vorher.“ (Gespräch)
Und Adorno ergänzt:
„Utopisches Bewußtsein meint ein Bewußtsein, für das also die Möglichkeit, daß die Menschen nicht mehr sterben müssen, nicht etwas Schreckliches hat, sondern im Gegenteil das ist, was man eigentlich will.“ (ebd.)
Erst durch diesen Bezug auf den Tod kommt für Adorno das Widerspruchsvolle in die Utopie hinein: „Es gibt in der ganzen Utopie etwas tief Widerspruchsvolles, nämlich daß sie auf der einen Seite ohne die Abschaffung des Todes gar nicht konzipiert werden kann, daß aber auf der andern Seite diesem Gedanken selber – ich möchte sagen – die Schwere des Todes und alles, was damit zusammenhängt, innewohnt.“ (ebd.)

Und erst aus dieser Widersprüchlichkeit zieht Adorno die oft zitierte Konsequenz, „daß man nämlich die Utopie nicht positiv ausmalen darf.“ (ebd.)

Das Ausmalverbot

Der „metaphysische Grund dafür, daß man von Utopie eigentlich nur negativ reden kann“ , ist dass ein „Versuch, nun einfach zu beschreiben, auszumalen: so und so wird das sein, [...] ein Versuch [wäre], über diese Antinomie des Tode hinwegzugehen und zu reden von der Abschaffung des Todes, als ob der Tod nicht wäre.“ (ebd.)

Ich erinnere mich, dass ich schon beim ersten Lesen dieses Textes ziemlich erstaunt war über diese Argumentation. Ich hatte eher politische Gründe für das Ausmalverbot vermutet oder eine Anerkennung der Tatsache, dass die Zukunft offen und nicht determiniert ist. Ich denke auch, dass viele, die die Konsequenz der Argumentation ständig im Munde führen, Probleme bekämen, die Begründung, die Adorno hier gibt, selbst nachzuvollziehen. Vielleicht bin ich deshalb so „utopisch“ veranlagt, weil für mich das Problem des Todes (noch?) nicht in dieser Weise steht, wie ich es bei Bloch und Adorno herauslese.

Adorno geht also davon aus, „daß man von Utopie eigentlich nur negativ reden kann“. Dies ist nun aber – und Bloch macht mit einer Zwischenfrage darauf aufmerksam – nicht so zu verstehen, als wäre dies eine „Abwertung“ der Utopie, sondern es beschränkt die Utopie auf die „bestimmte Negation dessen, was ist“ (Adorno im Gespräch). Bloch stimmt Adorno darin zu, dass es unangemessen ist, die Utopie als seiend oder „in „Abschlagszahlung“ als erreicht“ darzustellen.

„Man ist also betrogen. Es ist entspannt worden, und es gibt eine Verdinglichung [...] als wäre schon viel mehr als In-Tendenz-Sein, als wäre schon der Tag da.“ (Bloch im Gespräch)
Ja, genau das hatte Bloch in der DDR erlebt – die neue Macht legitimierte sich mit dem Versprechen des Einlösens der Utopie. Und dem stellte sich Bloch entgegen: „Also Bilderstürmerei gegen solche Verdinglichung ist jetzt in dem Zusammenhang völlig richtig. Und das Ungenügen muß wach gehalten werden.“

Typisch für das Einlöseversprechen war die Ausrufung der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ durch Ulbricht (wohl 1967, mehr zum politischen Kontext). Diese Ausrufung war nicht nur ein ideologisches Konstrukt, sondern entsprach durchaus dem Lebensgefühl vieler Menschen. Was sich da alles entwickelte, wird gerade an den Verlusten deutlich, die nach 1990 von vielen erlebt wurden. Das Ungenügen allerdings konnte sich nicht innerhalb einer weiteren Entwicklung des Sozialismus einbringen, sondern wendete sich gegen ihn.

Ein Problem mit Blochs Vorwurf der „Verdinglichung“ und die „Abschlagszahlung“ sehe ich darin, dass dies bedeuten könnte, sich niemals tatsächlich an eine Verwirklichung utopischer Sinngehalte wagen zu dürfen. Ich bin mir sicher, dass nach einer Verbesserung der Lebenslage der Menschen, als einem Stücken Verwirklichung und damit auch „Verdinglichung“ von Utopie, die Utopie von selbst fortläuft hinein in die Zukunft – in das weiterhin Mögliche, aber noch nicht Verwirklichte. Das Ungenügen kommt dann aus der neuen Utopie.

Bestimmte Negation

Ernst Bloch stimmt Adorno darin zu, dass „die wesentliche Funktion, die dann Utopie hat, [...] eine Kritik am Vorhandenen“ ist. Aber als Dialektiker weiß er, dass diese Kritik selbst einen Standpunkt hat, der hinter den Schranken liegt: „Wenn wir aber die Schranken nicht schon überschritten hätten, könnten wir sie als Schranken nicht einmal wahrnehmen.“ Adorno stimmt ihm zu: „vom Falschen, d.h. von dem als falsch Kenntlichen aus bestimmt sich das Wahre“. Wenn Adorno dann ergänzt, dass wir zwar nicht genau wüssten, was das Richtige ist, aber sehr genau wissen, was das Falsche ist, so würde ich ihm widersprechen. Für die einen ist es nur die „Gier der Manager“, für andere das „Zinssystem“ und wieder andere sehen nur die falsche Partei an der Macht. In der politischen Praxis ist es leider gerade der Streit über die Ursachen der Probleme, über das, was „falsch“ ist, was zu Differenzen bis Gegensätzen in der Strategie und den jeweils vertretenen Zielen führt.

Grundsätzlich jedoch gibt es mehrere Stellen, bei denen das Spiegelbildliche deutlich wird. So bei Bloch:

„Jegliche Kritik an Unvollkommenheit, an Unvollendetem, Unerträglichem, nicht zu Duldendem setzt zweifellos schon die Vorstellung von, die Sehnsucht nach einer möglichen Vollkommenheit voraus.“
Und bei Adorno:
„... in dem, was du sagst, steckt ja drin, daß wir den Begriff von dem, was du mit Brecht genannt hast, Etwas fehlt – eigentlich gar nicht haben können, wenn es nicht Fermente, Keime dessen, was dieser Begriff eigentlich besagt, gäbe.“
Letztlich stammt auch Adorno die Kritik aus dem Vergleich mit dem Möglichen. Dieses Mögliche wird dabei vorausgesetzt.
"Wenn es wahr ist, dass ein Leben in Freiheit und Glück heute möglich wäre, dann wäre die eine der theoretischen Gestalten der Utopie [...], dass man konkret sagen würde, was bei dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte der Menschheit möglich wäre - das lässt sich konkret und das lässt sich ohne Ausmalen und das lässt sich ohne Willkür sagen".
Da haben wir also unsere Aufgabe: konkret sagen, was beim gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte der Menschheit möglich wäre – ohne es auszumalen. Ich denke, da sind wir durchaus dran. Eine Antwort darauf, was beim gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte möglich wäre, ist die „Freie Gesellschaft als Selbstentfaltungsnetzwerk“.

Zum „Ausmalen“ habe ich eine zwiespältige Position. Natürlich kann man nicht bis ins Einzelne voraussehen und dann letztlich auch vorschreiben wollen, wie das Leben ganz genau abläuft. Aber eine Struktur, in der „alles alle unterstützt“ (F.Bergmann), in der jedes Individuum sich durch die Teilhabe an der Selbstentfaltung anderer selbst entfaltet usw. sollte schon auch vorstellbar sein, um wünschbar zu werden für die Menschen. Bloch sagt: „Wie viele schreckliche Wirkungen sind entstanden dadurch, daß Marx sogar zuwenig „ausgepinselt“ hat [...]“. Nur die Vorstellung, wie es auch anders sein kann, motiviert dazu, sich gegen das Vorhandene einzusetzen. Dieser Vorstellung könnte schon auf die Sprünge geholfen werden, wenn wir auf dementsprechende vor-scheinartige Kunstwerke verweisen könnten. Letztlich sind sie sicher auch da – welche sind es denn?

Das „Keimform-Projekt“ geht sogar noch weiter und diskutiert erste Ansätze des Neuen im realen Leben. Führen diese Ansätze einer Verwirklichung des bisher Utopischen zu einer „Verdinglichung“? Ich denke nicht, denn sie sind per se sich ständig verändernde netzwerkartige Strukturen, die immer wieder aus autonom-koordinierten Handlungen von Menschen heraus neu entstehen.

Als Fazit muss ich also die im ersten Satz unterstellte Entgegensetzung zurücknehmen. In ihren tieferen Überlegungen stimmen Adorno und Bloch mehr überein, als gemeinhin angenommen wird.


Literatur:

Adorno, Theodor W. (ÄT): Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970.

Adorno, Theodor W. (SO): Zu Subjekt und Objekt. In: Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969. S. 151-168)

Behrens, Roger: Antworten auf vier Fragen zur Aktualität der kritischen Theorie Theodor W. Adornos. http://alt.rogerbehrens.net/adornofragen.pdf (abgerufen 01.02.2011)

Bloch, Ernst (PH): Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe Band 5. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 1985.

Bloch, Ernst (TE): Tübinger Einleitung in die Philosophie. Werkausgabe Band 13. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 1985.

Debes, Herbert, Otterbacher, Kurt: Das Ganze ist nicht alles. http://www.glanzundelend.de/auswahl/adorno.htm (abgerufen 01.02.2011)

Gespräch: Etwas fehlt... Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno. Gesprächsleiter: Horst Krüger. In: Gespräche mit Ernst Bloch. Hrsg. von Rainer Traub und Harald Wieser. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1980, S.58-77.

Münz-Koenen, Inge (1997): Die Diskursivität utopischen Denkens bei Bloch, Adorno, Habermas. Berlin: Akademie Verlag.

Schmidt, Burghart (1985): Ernst Bloch. Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung.


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