Rückgewinnung von Lebensressourcen

 
 

 
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Angesichts der knebelnden Wirkung der Verschuldung von Staaten (der durch Schuldendienst verkauften Zukunft) ist der Kampf um Entschuldung vielleicht der revolutionärste Kampf der Gegenwart. Auch der Kampf um die Rückgewinnung von Gemeindeland (Allmende) hat größte Bedeutung für die Subsistenzfähigkeit und würde vor Erpreßbarkeit zur kapitalistischen Ausbeutung schützen. Marx betonte die jeweils hochentwickeltsten Produktionsmittel, weil er auf die hohe Technisierung mit hohen Produktivkräften zur Befreiung der Arbeit und von der Arbeit Wert legte. Andererseits erkannte er als Kern der kapitalistischen Gesellschaft die Trennung der Menschen von ihren Produktionsmitteln. Darauf muß man heute zurückgreifen: die Menschen dürfen nicht substantiell erpreßbar sein, wenn sie sich diesem Ausbeutungsverhältnis entziehen sollen. Diese Erpreßbarkeit beginnt nicht erst mit hochentwickelten Produktionsmitteln, sondern mit den einfachsten Lebensgrundlagen. Eine Wiedergewinnung der Subsistenz ist deshalb vorrangig, "sonst hängen alle Forderungen nach Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie in der Luft" (Bennholdt-Thommsen, Mies, S. 164). Die Bewegung der Landlosen in Brasilien wurde seit 1979 zu einer Massenbewegung, die für eine viertelmillion Menschen Land besetzte und seitdem im wesentlichen genossenschaftlich und erfolgreich nutzt. Obwohl dabei tausende ihrer Aktivisten ihr Leben lassen mußten, "hat (das) kapitalistische System längst nicht alle seine Gegner besiegt, sondern schafft sich täglich neue. Überall auf der Welt wird nach Alternativen gesucht. Wir suchen mit" (Weiss 1997).

Auch für die hochindustrialisierten Länder ist es wichtig, "Ressourcen statt Sozialhilfe" (Weinhausen 1998) zu fordern: "Wenn der geldliche Reichtum sich in Luft aufzulösen beginnt, ist eine Aneignungsbewegung für stofflichen Reichtum vonnöten." Es deutet sich an, daß Protestkampagnen, z.B. gegen das Multilaterale Investitionsabkommen (siehe S.140) nicht nur unmittelbar Erfolge oder Mißerfolge erzielen können, sondern "überschießend" grundlegende Prozesse des Nachdenkens (z.B. über die Rolle der Investoren, d.h. der Kapitalisten, in dieser Welt) anstoßen. Diese Anstöße müssen aber in Richtung ökosozialer Bewegungen weiterentwickelt werden (vgl. Sarkar 1998). Das Aufleben der Dörfer nach dem Bürgerkrieg in El Salvador bedeutet z.B. auch kein Zurück zu früheren oder rein kapitalistischen Zuständen, sondern es wird versucht, neue demokratische Gemeinschaften zu bilden, die sich an einer ökologisch verträglichen Wirtschaftsweise orientieren (u.a. Heller 1997).

Bewußte Alternativen werden aus verschiedenen Gründen in Angriff genommen. An manchen Stellen geht es um das reine Überleben. Die Zapatistas in Mexiko können gar nicht anders leben als unter dem Motto "Besetzen - Widerstehen - Produzieren", wodurch nicht automatisch und überall, aber doch wirksame "Zellen einer freien sozialistischen Gesellschaft" entstehen können (Thielen 1998). Andere neue Lebensformen greifen auf alte Traditionen zurück. In Burkina Fasso begann die Wüste vor 30 Jahren immer weiter vorzurücken, die jungen Leute verließen die Dörfer, die Gegend verelendete. Ein Landwirtschaftslehrer gründete mit jungen Leuten sog. Naam-Gruppen, die den alten Stammesstrukturen nachgebildet waren - aber neue Aufgaben der gegenseitigen Hilfe und Solidarität übernahmen (Bauer 1992).

Angesichts der genannten Grundlagen einer von mir gewünschten nach-ökonomischen Gesellschaft kommen natürlich viele Einzelfragen danach, wie denn das konkret funktionieren solle... Einerseits kann ich es mir hier einfach machen und darauf verweisen, daß ich ja gerade KEIN Modell fabrizieren will, das für alle Gültigkeit besitzt, sondern dies den einzelnen Menschen in ihren Gemeinschaften überlassen will. Andererseits kann ich aber auch auf die Keime hindeuten, die bereits unübersehbar deutlich machen, daß diese Visionen durchaus schon als Leitbild unser Handeln orientieren können. An dieser Stelle ist es auch nicht mein Ziel, die Ansätze anders zu wirtschaften und zu leben im Einzelnen zu bewerten, obwohl dies angesichts ihrer Ausbreitung und der Notwendigkeit der Auswertung ihrer Erfahrungen wichtig ist.

Allgemein läßt sich auch die Frage nach der Struktur der Gesellschaft nur grob beantworten. Einerseits benötigen komplexe Gesellschaften eine Kohärenz, eine Bindung der Individuen, die über face-to-face-groups hinausgeht (Organisation), andererseits soll diese nicht herrschaftsförmig vermittelt sein, sondern "von unten" bestimmt werden (SELBST-Organisation). Nachdem die Menschen jahrzehntausende lang in recht unbekannten Gesellschaftsformen gelebt hatten , wurde die Einheit der Gemeinschaften/Gesellschaft seither von Herrschaftsformen bestimmt. Zuerst herrschten persönliche, direkte Herrschaftsformen vor, später entstanden "sachliche Mächte" als sog. strukturelle Herrschaftsformen (Kapitalherrschaft). Wenn in humanen und ökologisch verträglichen Zukünften diese Herrschaftsformen abgeschafft sein sollen, muß das nicht bedeuten, zu isolierten Individuen und Gruppen zu kommen, die alles "selbst" tun und bestimmen. Gerade hochkomplexe Einheiten sind weder von einer umfassenden gegenseitigen Beziehung jedes Einzelnen mit jedem anderen Einzelnen (mittleres Bild in Abb. 5.2) - noch vom "Versklavungsprinzip" (alle richten sich nach einem Befehlsgeber oder einer Vision, linkes Bild) gekennzeichnet, sondern von einer Substrukturierung in netzartigen Gebilden wie im rechten Bild:

Abbildung 5.2: Verknüpfungsformen (verändert nach Vester, vgl. Schlemm 1996a, S. 83)

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10 Jahre später: Das Thema Commons

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