Umfassende Bereiche:


Hat die Evolution ein Ziel?

Schelling, Wilber und neue Fragen

"Alles fließt" - sagt noch gar nichts aus, wie und wohin etwas fließt. Und das möchte ich schon wissen, wenn ich mein Leben in diesem Fluß selbst steuern möchte.

Alles könnte nur so hin- und herschaukeln und nur mein Boot schwanken lassen, aber die Wasserfläche wäre nur ein festverorteter See.

Alles könnte einfach nur im Kreis fließen, wie auf einem der Bilder von M.C.Escher - in der Natur fällt mir dazu gar kein Beispiel ein.

Von einem lebenden Organismus aus betrachtet, realisiert er mit seinem Stoffwechsel einen kreislaufartigen Prozeß. Hier fallen durch die materiellen Voraussetzungen (Nahrungsaufnahme, Abfallabgabe) aber sofort die Überschreitungen des Organismuskörpers ins Auge. Zum System des lebenden Organismus gehört in diesem Sinne mehr als der Körper dieses Organismus - nämlich ein Teil seiner Umwelt - mit dazu.

Im informationellen Bereich sieht das schon anders aus. Das Konzept der Autopoiese untersucht, daß Lebewesen - oder allgemeiner gesagt: informationsverarbeitende Systeme - durchaus keine passiven Empfänger der Reize von außen sind, sondern selbst entscheiden, wie sie welche Reize verarbeiten und ob sie überhaupt auf sie reagieren. Diese Eigenschaft der Autonomie wird auch Selbstreferenz genannt.

Dies erklärt manches Verhalten bei der Kommunikation und beim Lernen. Was mich nicht interessiert, lasse ich gar nicht erst ran an mich oder rein in mein Gedächtnis. Oder ich rede wie ein Buch und der andre schaut mich nur gelangweilt an...

Hier gelangt ein eher kreisförmiger Prozeß in den Mittelpunkt der Überlegungen. Wenn jetzt aus der puren Informationsverarbeitung auf die Evolution des Lebendigen geschlossen wird (also die Informationsverarbeitung als das Wesentlichste dabei gesehen wird), wird unverständlich, wieso Organismen aus diesen Kreisen der Selbstreferenz ausbrechen. Mit diesem in sich geschlossenen Organismusbegriff ist keine Entwicklung zu erklären - dazu müssen wir zurück zum stoffwechselnden Lebewesen und zu den dabei auftretenden Wechselwirkungen mit der materiellen anorganischen und organischen Umwelt. Hier muß sich der Organismus bewähren - ehe er überhaupt kommunizieren kann...

Die menschliche Evolution wird einerseits durchaus noch wesentlich von materiellen Prozessen bestimmt und vorangetrieben (materielle Produktivkräfte).

Andererseits erlangen hier Bewußtseins- und kommunikative Prozesse eine wesentlich stärkere Bedeutung. Hier erweist sich die Selbstreferenz der Kommunikation als sehr großer Stabilitätsfaktor, was einerseits angesichts der hochkomplexen Verflechtungen lebensnotwendig ist (es können nicht aller paar Jahre neue Wirtschafts- und Lebensmethoden "ausprobiert" werden) - andererseits verhindert sie grundsätzliche Innovationen, die eigentlich notwendig wären, bevor die materiellen (ökologischen) Grenzen uns in neue Lebensformen zwingen (die dann eher katastrophal aussehen und weniger selbstbestimmt gestaltet werden können, als wenn wir uns freiwillig dazu entschließen könnten).

Aber das nur zur Einführung.

Die philosophische Entwicklungstheorie sagt etwas aus über die Prinzipien der Entwicklung, die in allen Materiebereichen typischerweise die gleichen sind. Wichtig ist hierbei das Entstehen irreversibler (!) Veränderungen durch wechselseitige Beeinflussungen verschiedener Bereiche (Ko-Evolution). Diese Irreversibilität verhindert erst einmal die Kreislaufförmigkeit (die es ja in der Natur nicht gibt, wie ich feststellte).

Zusätzlich muß jetzt noch die Erklärung dessen kommen, daß sich immer wieder etwas Neues bildet. Dies geschieht, sehr verallgemeinert, vor allem durch zwei Prozesse:

a) innere Umstrukturierung, Funktionswechsel usw. auf Grundlage der inneren Plastizität (Möglichkeitsfeld);

b) die Synthese vorher getrennter Systeme in einem bestimmten Punkt der Entwicklung, wobei Neues entsteht.

Ob dieses Neue eine Höherentwicklung im Vergleich zu den zeitlich früheren Systemen ist, ist dann die nächste Frage. Innerhalb der Entwicklung geschehen auch Prozesse des Niedergangs und der Stagnation. Immer nur sind es wenige Bereiche die Neues entwickeln.

Kriterien zur Entscheidung, ob das Neue auch das "Höhere" ist, werden verschieden diskutiert. Da auch neue Funktionen entstehen, ist der Vergleich der besseren Funktionserfüllung nicht ausreichend.

Man kann jeweils das als das Höhere ansehen, "was den Weg zu neuen Ebenen ermöglicht, nicht verschließt, sondern vorbereitet" (Schlemm, 1996, S. 186).

Ken Wilber zerstört in einem Gedankenexperiment eine Systemebene. Was dann alles kaputtgeht, war das Höhere, das Niedere bleibt bestehen (Wilber, A Brief History of Everything, 1996, S. 32).



Ken Wilber ist einer der wenigen populären weltanschaulichen Autoren, die die Entwicklung substantiell in ihre Theorie aufnehmen.

Seine Dialektik beschreibt schön verständlich die bei Hegel so komplizierte "Negation der Negation". Bei Wilber ist dies das immer wieder aufgezeigte Prinzip der "Transcendence and Inclusion". Ein Zustand wird überschritten ("aufgehoben" im einfach negierenden Sinne) und gleichzeitig wieder mit"eingeschlossen" ("aufgehoben" im Sinne der Aufbewahrung ).

Jetzt kommt die spannende Frage nach Quelle und Ziel der Entwicklung.

In meinem Konzept (Buch) gehe ich eigentlich immer nur von gerade realen Zuständen aus und davon, daß die Materie selbst schöpferisch ist. Als sich ständig bewegende, prozessiuierende verhält sie sich so, daß sie die Irreversibilitäten, das Neue ständig selbst erzeugt. Die Art und Weise, wie sich das macht, läßt sich in den Evolutionsprinzipien, bzw. der Dialektik - wie sie auch Wilber deutlich sieht - beschreiben.

Diese Sicht ist der konkreten, zu einem bestimmten Zeitpunkt exitierenden Welt, relativ fest angeheftet. Die Materie hat eben die Schöpferkraft in sich, bewegt und entwickelt sich ewig (in einer durch sie erzeugten Zeit) - es gibt keinen Anfang und kein Ende...

Etwas anders sieht dies Ken Wilber.

Er bezieht auf Whitehead, der als "ultimative Kategorien" Kreativität, Eins und Vieles benötigt. Wilber reduziert das auf zwei Kategorien, weil das Eins und das Viele bei ihm im Begriff des Holons (wie "System") integriert sind: Kreativität und Holon.

Ich selbst denke nicht, daß man dies trennen muß. Ein Holon enthält in sich wegen der Dialektik seiner mannigfaltigen (Widersprüche als Quelle der Bewegung/Entwicklung erzeugenden) Elemente die Kreativität. Die Kreativität gehört zur Materie dazu und braucht nicht von einem Spirit angetrieben oder angezogen zu werden... Ich reduziere diese Kategorien also auf eine: die der - wie bei Ernst Bloch verstandenen - kreativen Materie.


Ken Wilber dagegen bleibt bei der Zweiheit: Holon und Kreativität. Jetzt macht er noch einen Kunstgriff: Er interpretiert die Kreativität um in "Spirit", um einen Anschluß zu finden an traditionelle Denkweisen (S.25). Im Sinne von Spirit kann er vielfältige Ansätze in der Weltkultur auffinden, die genau die ihn interessierenden Prozesse beschreiben, aber eben in der "Spirit"-Sprache.

Bei Wilber hat der "Spirit" zwei Funktionen: Einerseits ist der Spirit das Ziel der Evolution auf allen Gebieten ("Spirit is the highes level, Spirit trancends all, so it includes all."). Gleichzeitig aber begleitet der Spirit die Evolution in jeder ihrer Etappen. Er übersetzt Hegels Zu-Sich-Kommen des Weltgeistes als "spirit-in-action".

Bei meinen derzeitigen Schellingstudien ist mir das gleiche Vorgehen aufgefallen. Bei Schelling ist das Absolute - sehr verkürzt gesprochen - das Ergebnis des Spiels der Kräfte in der Welt - andererseits begleitet es die Prozesse ständig. Hier nennt er es in seinen früheren Schriften (später nicht mehr so konsequent) "Identität", um den Prozeßcharakter zu betonen.

Bei Schelling kommt die Konsequenz dieser Denkweise deutlich zum Tragen: Die Philosophie hat sich um das (außer aller Zeit bestehende) Absolute zu kümmern, das zeitliche Sein ist ein "nichtiges", Uninteressantes. Insofern kann es nach Schelling gar keine "Philosophie der Entwicklung" geben.

Manche Interpreten, die bei Schelling besonders seine "historische Denkweise" (wegen seinem Projekt "Die Weltalter") betonen oder ihn jetzt zum Urzeugen einer modernen Selbstorganisationstheorie machen, entnehmen ihm nur die dazu tatsächlich gut passenden Teile, erfassen nicht das Wesen seines Denkmodells.

Auch bei Bloch und Lukacz finden wir die Diskussion um die Gegensätzlichkeit der beiden Konzepten, von denen eins von der Totalität ausgeht (Bloch), das andere eher auf Widersprüchlichkeit beruht (Lukacz).

Ernst Bloch betont, daß das endliche Anwesende die "utopische Art von Anwesenheit (des Totums)" spürt und dadurch zur Opposition gegen seinen Zustand getrieben wird (Subjekt-Objekt, S. 140). "Diese Art Totalität: die des unvorhandenen Alles, nicht das vorhandenen Ganzen, ist das zusammenhaltende Ziel der dialektischen Bewegung, genau wie das Bedürfnis ihr Antrieb und Motor ist "(ebenda S. 144).

Das mag für die menschliche Geschichte wesentlicher sein, als bisher z.B. im Marxismus angenommen (wogegen aber die Selbstreferenz in der Gegenwart zu überwiegen scheint). Für den Bereich der gesamten Natur führt das aber nicht zu akzeptablen Beschreibungen oder Erklärung von Entwicklung. Schellings derartige Versuche waren ja auch ausreichend gekünstelt und schematisch...



Wir haben also als Alternative zur "angehefteten" Sichtweise, die sich nur auf die aus Widersprüchen herrührende Kreativität aller Materiebereiche verlassen kann (und relative Zielen aus Tendenzen ableitet, die vektoriell an konkrete Ereignisse geknüpft sind), mehrere Worte für etwas gefunden, was Ursache und Richtung der Entwicklung zumindest mit-bestimmen soll:

  • Schelling: das Absolute, bzw. die Identität
  • Hegel, Bloch: die Totalität
  • Wilber: Spirit.

Ohne diese Antwort einfach zu übernehmen (dem Prozeß ein Etikett aufzukleben) gibt mir das dahinterstehende Problem aber doch noch einmal zu denken.

Tatsächlich ist es in jedem Punkt der Entwicklung ja nicht völlig zufällig, wohin die Reise geht.

a) Einerseits gibt es Bestimmungen durch den bisherigen Weg ("Tradierungen": die Menschen können nicht plötzlich 6 Gliedmaßen haben) (zeitlich vertikal: Bestimmung durch Früheres)

b) Die Umgebung (übergreifende Systeme mit eigenen Gesetzmäßigkeiten) schränkt die Möglichkeiten ein (zeitlich horizontal, Gegenwart).

c) Die Existenz des jeweils Höheren erfordert jeweils typische neue Regulierungs- und Organisationsmechanismen (Stabilität und Entwicklungsfähigkeit durch neue Existenz- und Entwicklungsprinzipien, bzw. -gesetze).

Das (quantitativ eigentlich nicht meßbare, weil sich qualitativ verändernde) Möglichkeitsfeld wächst mit jedem Entwicklungsniveau. Gleichzeitig wächst aber auch die Komplexität, d.h. die Notwendigkeit, subtile Zusammenhänge aufrechtzuerhalten. Die "Steuerungskompetenz" muß also tendenziell zunehmen.

Diese zunehmende Steuerungstendenz ist das übergreifende, nicht nur lokal bestimmbare Allgemeine der Evolution. Wenn sich die anorganische Materie weiterentwickelt, wird sie in irgendeiner Form molekulare Strukturen hervorbringen - aus welchen Atomen diese Moleküle auch bestehen. Wenn organische Lebensformen sich weiterentwickeln, entwickelt sich ein informationsverarbeitendes System und wenn die Entwicklung nicht - wie bei ca. 99% aller jemals auf der Erde existiert habenden biologischen Arten - abbricht, kommt es zur Entstehung von Bewußtsein, egal, ob die bewußten Wesen zwei oder vier Beine haben oder im Wasser oder auf dem Land oder in der Luft leben...

Schelling sagt dazu (1809): "Das Spiel der Mächte gestattet nur eine bestimmte Welt, eben die, die der Aufstieg zum Geist ist." Hegel sieht darin die "List der Vernunft".

Diese Eigenart der Entwicklung geht meiner Meinung nach denn doch über die jeweils nur "relativen Ziele" und Tendenzen hinaus - oder muß zumindest deutlicher artikuliert werden.

In diesem Lichte betrachtet bekommen - bei aller Ablehnung esoterischer Weltverabschiedung - die Erwartungen in eine neue geistige Ebene der Menschheit eine neue Bedeutung für mich. Ich sehe zwar die Hauptebene der Entwicklung doch eher im materiell-sozialen Bereich, aber die Einheit von Psychisch-Sozialem-Materiellen darf nicht außer Acht gelassen werden.

19.8.96

siehe auch:

siehe auch:
Ken Wilber Arbeitskreis
Kritik an Ken Wilber (J. Heinrichs)

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