Umfassende Bereiche: Dialektik


 

Methodische Fragen

Ich habe zwei wichtige Fragen:

Ich will die gesellschaftliche Realität nicht so hinnehmen, wie sie ist. Wissenschaftliche Erkenntnis ist i.a. dadurch bestimmt, daß man alles erklärt. Erklären bedeutet: die Gründe nachweisen, das Vorhandene als be-gründet nachweisen. Dabei passiert es dann aber, daß man alles begründen kann - und sich kaum noch was zu kritisieren wagt. (So, wie es ist, ist es doch wissenschaftlich wohl begründet...).

Andererseits will ich auch nicht Wollen gegen Wissen stellen. Irgendwie muß das Wollen sich auf Wissen über das Vorhandene gründen. Ich will etwas realisieren, d.h. real machen, das es erst in meinen Wünschen gibt. Dazu brauche ich Ansatzpunkte im Realen. Ich muß wissen, wo ich "anfassen" kann, wo eventuell Hebel liegen, die mir zugänglich sind. Und ich sollte auch wissen, wie ich sie so bewegen kann, daß sie das bewirken, was ich will. Versuch und Irrtum - "aus dem Bauch heraus" handeln, ist da nicht die günstigste Methode. Also versuch ichs doch mal übers Nachdenken.

Meine Fragen sind:

  1. Wieso kann ich überhaupt hoffen, daß etwas Anderes, Neues möglich ist?
    (Herkunft des "Mehr", Quelle für "Anderes", Begründung des Möglichen, des nicht-mit-dem-Vorhandenen-Identischen...)
  2. Wie muß ich die Welt verstehen, damit ich die Ansatzstellen für sinnvolles Handeln finden kann. (Frage des Wesensverständnisses).

1. Woher kommt das "Mehr"?

Wenn Wissenschaft nur das Benennen, Klassifizieren und exakte Widerspiegeln (d.h. Festhalten) des Vorhandenen ist, bekomme ich nie heraus, woher ich Hoffnung auf Neues, Anderes als das Vorhandene schöpfen kann.

Es gibt zwei Auswege:

1.1. Der Widerspruch:

Jedes Konkrete ist begrenzt (und endlich). Eine Grenze zu haben, braucht in der Definition schon die Abgrenzung gegenüber dem Anderen. Indem das Etwas sich gegen ein Anderes abgrenzt, hat es ein Anderes, sogar konkret sein Anderes schon. Wenn ich etwas bestimme, mache ich das, indem ich sage, was es nicht ist.

Ein Haus ist keine Wiese...

(Das wußte schon Spinoza: "Bestimmen heißt Negieren").

In der Hegelschen Dialektik haben wir ein Etwas, das nicht sein Anderes ist. Aber: wenn wir von "seinem" Anderen sprechen, so ist das nicht jedes beliebige Andere ringsherum. Es muß eine Einheit zwischen dem Etwas und seinem Anderen geben - und die ist in einer jeweils umfassenderen Einheit gegeben. Bei Hegel ist diese umfassender Einheit im Logischen immer schon vorher gegeben, weil er schon weiß, wo er in seinem System ankommen wird: beim Absoluten Objektiven Geist - Gott. Diese absolute Totalität scheint "von oben herab" und konstitutiert die tiefer liegenden Einheiten. Aus ihnen kommen im richtigen Moment die jeweils passenden "Anderen" zu ihren "Etwassen". Dadurch verändert sich jedes Etwas, indem es über die Wechselwirkung (Widerspruch) mit seinem Anderen zu einem neuen Etwas´ wird: E A E´.

Die innere Widersprüchlichkeit E A ist die erste, oder einfache Negation ("Bestimmen gleich Negieren"). Das Etwas selbst wird eine neues E´- und entspricht der Negation der Negation (als "Aufhebung" im dreifachen Sinne: - überwinden, - aufbewahren, - hochheben auf neue Stufe).

Für Hegel sind das alles Denkinhalte. Der objektive Geist entwickelt sich vom Abstraktesten (den absolut inhaltsleeren Worten "Sein" und "Nichts") über diese dialektische Abfolge in vielen Stufen bis hin zu seiner höchsten Form, dem Absoluten. Materialistisch interpretiert haben auch die Materiebereiche innere Widersprüche und diese werden in der Entwicklung der einzelnen Materiearten stufenweise gelöst und es entstehen neue usw. Im Materiellen nehmen wir allerdings i.a. kein Absolutes Ziel an. Es ist daher zusätzlich etwas Einheitsstiftendes vorauszusetzen. "Einheit der Welt besteht in der Materialität" wurde dann oft gesagt.

Warum aber sind die Widersprüche nie gelöst? "Die Materie ist unerschöpflich" - klingt wie ein unbegründbares und damit unglaubwürdiges Axiom. So einfach wollen wir es uns nicht machen.

Es steht also die Frage: Woher kommt das Andere, das "Mehr"? Anders ausgedrückt: Wieso gibt es in der Wirklichkeit immer noch etwas bisher unverwirklichtes, aber Mögliches? Aus der Differenz zum umfassenden Absoluten können wir das "Andere" nicht ableiten, wie Hegel.

Hegel hatte durch das vorgegebene Ziel (bei Schelling hieß es noch deutlich, daß das Absolute "außer aller Zeit" gegeben sei) auch die Situation, daß es zu jedem Etwas nur sein, also genau ein Anderes gab. Radiative Entwicklung, Möglichkeitsfelder, Varianten sind in seiner Systematik nicht vorgesehen.

Wenn man der Hegelschen Dialektik streng folgt, sieht man in der Realität also auch nur ein Widerspruchspaar : Eines und sein eines Anderes. Und erwartet, daß das Andere zumindest der Keim für das Neue sein muß (Bourgeoisie und Arbeiterklasse...).

Aus dem Widerspruch allein können wir also das Mögliche, das Mehr nicht ableiten und erklären. Man sieht das auch daran, daß durchaus auch eine Kreisbewegung als widersprüchlich angesehen werden kann. Im Autopoiesis-Konzept wird betont, daß die Teile erst durch das Ganze hergestellt werden, wobei aber die Teile das Ganze konstituieren. Teile und Ganzes sind widersprüchlich, ihre Wechsel-Beziehung läßt das Ganze aber entstehen und sich immer wieder stabilisieren (negative Rückkopplungsschleifen).

Also versuchen wir noch etwas - müssen aber etwas tiefer in die Trickkiste greifen:

1. 2. Das konkret-Allgemeine läßt ein "Mehr" zu

Im allgemeinen Sprachgefühl gibt es folgende Entsprechungen (gleich wieder vergessen, das ist zu einseitig !!!):

 
Materielles
zu
Ideellem
verhält sich wie:
Einzelnes
zu
Allgemeinem
verhält sich wie:
Konkretes
zu
Abstraktem

 

(Jedes "konkrete Ding" sei ja einzeln und konkret-materiell. Beim Denken enstehe dann die Verallgemeinerung, die abstrakte Ideen erzeuge.)

Tatsächlich jedoch hat ein Komplex vieler Einzelner immer auch allgemeine Eigenschaften - das Allgemeine existiert objektiv real in Form gemeinsamer Eigenschaften. Allgemeines kann deshalb nicht auf Ideelles reduziert werden.

(Ob Allgemeines real existiert, ist der Inhalt des sog. Universalienstreits seit dem Mittelalter: die Realisten anerkennen die objektive Existenz des Allgemeinen - die Nominalisten meinen, das Allgemeine sind nur ideelle Namen, die das Subjekt dem Einzelnen überstülpt. In der Biologie geht es oft darum, ob es "Arten" objektiv real gibt, oder ob das bloß Klassifizierungsnamen sind.)

Außerdem ist nicht unbedingt alles Einzelne konkret und alles Allgemeine abstrakt. Es gibt durchaus ideelle Einzelheiten und konkretes Allgemeines.

Erst einmal klingt es ungewohnt, von konkretem Allgemeinen zu sprechen. Es gibt zwei Formen des Allgemeinen: abstrakt-Allgemeines und konkret-Allgemeines.

Zur Erklärung:

 

Einzelnes
abstrakt-Allgemeines
konkret-Allgemeines
Welt = viele Einzelne
(abstrakt) gemeinsame Eigenschaften aus einfachem Vergleich

- formal-logisch
(konkret-)inhaltliche Bestimmung der Wechselwirkungen im Gemeinsamen
... die sich doch überlappen
Hier kommt die formale Logik zum Zuge: inhaltsleere Variablen-Mathematik und
- informatik...
zur inhaltlichen Bestimmung müssen hier außerlogische, nichtformale Informationen zusätzlich einfließen.
wenn man jeweils eine dieser Seiten verabsolutiert, gelangt man zum:
Empirimus,

Positivismus
Rationalismus,

Formalismus/formale Logik
Dialektik von

Einzelnem und Allgemeinem...
Herrschaft des Abstrakten, z.B.
- Tauschwert ohne Beachtung des Nutzens

- Zahlen in Naturwissenschaft

Das abstrakt-Allgemeine subsumiert das Einzelne unter sich und löscht seine Qualitäten damit aus. Im konkret-Allgemeinen bleiben die Qualitäten des Einzelnen erhalten.
Alles ist "eingefangen" , das Ganze ist die Summe der Teile.

Alles ist gleich, nichts ist anders, nichts kann neu werden...

Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile; das "mehr" (die kleinen Huckel), können Keime für neue selbst-organisierte Strukturen sein!

  Dies beantwortet die Frage: Sind alle Utopien tot? Können wir noch auf Neues hoffen? Hat das Neue eine Entstehungschance aus doch noch vorhandenem Anderen innerhalb des Gleichgemachten?

Diese ganze Erklärung ist selbst auch hochgradig abstrakt. Also lassen wir es jetzt konkret werden:

Ich untersuche als Seinsbereiche die Ebenen: a) Individuum, b) Gruppen/Gemeinschaften (könnten sein: Familien, Vereine, Freundeskreise, soziale Schichten, Klassen, Geschlechter....) und c) Gesellschaft (c1) als Gesellschaftsformation, c2) als Gesamtmenschheit). Auf jeden dieser Bereiche kann man mit unterschiedlichen "Brillen" schauen, unter verschiedenen Aspekten, die auch wieder untereinander zusammenhängen betrachten: i) Ökonomie, ii) Kultur, iii) Politik... u.a.

 
Bildlich dargestellt:
Schematisch dargestellt:

 

Eine Fleißarbeit könnte jetzt die Beziehungen von jedem Faktor (jeder Ebene bezüglich jedes Aspekts) zu jedem Faktor auflisten und analysieren. Zumindest wird man zu jeder getroffenen Einzelaussage eine Ergänzung aus den jeweils anderen Bereichen finden können. Erweitert und differenziert man die einzelnen Faktoren noch weiter (Kultur: in Psychologie, Moralisches, Ästhetisches usw.), so wird man aus dieser Art Kombinatorik doch eine ziemliche Vollständigkeit erreichen.

Aber ist die Summe aller existierenden Beziehungen ausreichend für mein Ziel? Ist es außerdem tatsächlich so, daß die "Dicke der Striche" immer gleichgroß ist?

2. Das Wesen des Ganzen

Wir suchen nicht wie Hegel den Abschluß eines vollständigen Systems in einem Absoluten. Wir wollen uns in der gegenwärtigen Welt orientieren, uns dabei der Erfahrungen aus der Vergangenheit bedienen und Orientierungen für unser in die Zukunft reichendes Handeln erarbeiten.

Viele der Menschen, die überhaupt noch zukunftsorientiert und nicht nur pragmatisch denken, suchen für die fernere Zukunft eine neue Einheit von Mensch und Natur. Insofern lenkt dies als tendenzielles Ziel (Vision, Leitbild) durchaus auch unsere Denkrichtung. Notwendig ist jedoch auch die illusionslose Analyse des Ist-Zustandes. Auf der Grundlage dieser beiden Extreme (Wunschvision - Analyse des Vorhandenen) werden dann Handlungsstrategien und Programme entwickelt und das alltägliche Handeln eingeordnet, orientiert.

Beispiel einer Methode der Zukunftsgestaltung: Szenario-Werkstatt (nach A.Frosch):



 
aktuelle Probleme und Stärken
6. wie werden die Teilziele erreicht?
5. Welche Teilziele sind zu erreichen?
4. Wie sollen die Ziele erreicht werden?
3. Was soll insgesamt erreicht werden?
2. Wie wollen wir sein - wer sind wir?
1. Wünschenswerte und machbare Zukunft
 
(Hier fehlt ein Bild, das darstellt, links das Trendszenario dominiert
und rechts das Visionsszenario.
Die Rolle der Beteiligten verschiebt sich in den einzelnen Phasen wie unten angedeutet.)
Mitarbeiter - Mitarbeiterinnen / Führung-Leitung / Mitarbeiterinnen - Mitarbeiter

  Für die Ist-Analyse reicht aber das Aufsummieren aller Faktoren mit allen Wechselwirkungen, die stattfinden, nicht aus. Wir müssen

aus dem Einzelnen

das Gemeinsame herausfinden: das abstrakt-Allgemeine

und dabei das konkret-Allgemeine feststellen.


Die Wechselbeziehungen sind erstens nicht gleich stark und ändern sich zweitens noch im Laufe der Zeit.





Hypothese:

 
 
frühe Zeiten in der Menschheitsentwicklung:
gegenwärtige Menschheit:
 
 
Die dominierende Subjektebene wird die der Gruppe gewesen sein und für deren Konstitution spielte die Kultur eine sehr große Rolle.
Die ökonomischen dominieren über alle anderen Aspekte (siehe "Globalisierung"...)

 

Es lassen sich unwesentliche und unwesentliche Zusammenhänge unterscheiden.

Nur selten wird ein Faktor alle anderen dominieren, wobei genau diese Situation auftreten kann und dann eine Art gesellschaftliche Totalität konstituiert, in der die anderen Faktoren als eigenständige nur noch wenig wirksam sind und wenig wahrgenommen werden (einseitige Theorien entstehen...).

Anders gesagt, gibt es im Rahmen der Vergesellschaftung jeweils historisch bestimmte typische "Attraktoren", die den Zusammenhalt konstituieren.

Für den Kapitalismus analysierte Marx folgerichtig vor allem die ökonomischen Beziehungen, da hier die kapitalistischen Beziehungen alle anderen unter sich subsumieren.
Genau diese Situation der Dominanz des Ökonomischen kritisiert Marx in seiner "Kritik der Politischen Ökonomie". Sozialismus/Kommunismus sollte diese Dominanz überwinden und nicht etwa noch ausgeprägter übernehmen! (Ein wenig scheint dies noch durch in der sozialistischen Losung vom "Primat der Politik". Leider wurde darunter nur das Diktat der Partei verstanden und nicht die Selbst-Organisierung der Menschen.)

Was ist nun aber das Wesentliche für die Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit? Wie bekommt man das heraus?

Das Wesen ist eine noch konkretere Bestimmung als das konkret-Abstrakte. Im konkret-Abstrakten werden alle qualitativen Beziehungen aufgelistet - nun wird noch zwischen wesentlichen und unwesentlichen unterschieden.

aus dem Einzelnen

das Gemeinsame herausfinden: das abstrakt-Allgemeine

und dabei das konkret-Allgemeine feststellen und dann noch:

die wesentlichen Zusammenhänge (Gesetze) aufspüren.

Im Wesen vereinigen sich diejenigen Beziehungen, die die Grundqualität des betrachteten Seinsbereiches kennzeichnen, sein "So-Sein". Jeder Seinsbereich ist ein durch seine inneren Widersprüche prozessuierender. Wesentlich sind genau diejenigen Widerspruchsmomente, die diese Bewegung hervorrufen.


Einige Begriffe definieren sich hier gegenseitig:

Insofern gibt es für EIN System auch nur EIN Wesen. In der Realität ist nichts durch nur EIN Wesen bestimmt. Es gibt ja aber auch keine isolierten Systeme. Die Welt ist systemartig, durch unterscheidbare Wesensunterschiede differenziert strukturiert - aber die Strukturen sind niemals isoliert. Jedes System ist eine Element innerhalb umfassenderer Systeme - jedes Element ist selbst ein System.

Reale Erscheinungen sind stets Ganzheiten mit Anteilen von vielen Systemen und Wesenszügen.

Bei der Analyse der Realität können wir wesentliche Zusammenhänge erkennen, indem wir bewegende Widersprüche auffinden. Dabei werden wir - wenn wir uns nicht mit halben Antworten zufrieden geben - immer weiterführende Zusammenhänge mit anderen Seinsbereichen und Aspekten finden, müssen uns aber zwecks konkreter Aussagen auf jeweils konkrete Bereiche einlassen.

Wie ermitteln wir das Wesen von Seinsbereichen? In seiner Systemganzheit. Aber "nicht in irgendeiner ihm übergeordneten Systemganzheit, sondern konkret in jenem Komplex, den es unmittelbar in seiner Bewegung konstituiert und in dem diese Bewegung sich zurückbeugt" (Wagenknecht, S. 106).

Wichtig ist zu jeder Aussage die Ergänzung zu der gewählten Einschränkung und Differenzierungsabsicht. Deshalb gehört zu jeder Aussage auch die Offenlegung des Erkenntnisinteresses (auch vor sich selbst!) dazu.

In unserem früheren Bild ausgedrückt, müssen wir unseren Blickwinkel mit einbeziehen, wenn wir Aussagen über unsere Sicht auf das konkret-Allgemeine und Wesentliche machen. Wir subsumieren nicht alles in einem "Grau in Grau", aber die differenzierten Aussagen bedürfen eines Bezuges zur Bewegung des Seins, aus der sie das "Mehr" schöpfen wollen.


Um die Bestrebungen, etwas Anderes zu erreichen, etwas Neues zu entwickeln, sinnvoll vernetzen zu können (ohne sie wieder unter eine einzige Identität zu subsumieren), benötigen wir den Bezug zu systematischem Denken und dem Erkennen wesentlicher Zusammenhänge.



 


siehe auch:



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