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Ich bin Ich!

Johann Gottlieb Fichtes Schrift "Die Bestimmung des Menschen"

 

 
 Somniu.
Clar que sí, somniem constantment.
Espereu Massa.
Clar que sí, hem aprés a espar i ho esperem tot.
Voleu Massa.
Clar que sí, volem, massa, més, tot, ávidament.
Teniu Massa Pressa.
Sí, clar que sí, caminar, arribar, recomencar, tenim pressa.

Lluis Llach

 

 

Die Welt ist dunkel und wir kämpfen ums Überleben. Wieder einmal sehen wir keinen Ausweg.

Die Experten haben uns den Weg gezeigt - ins Exil und die Sackgasse. Jetzt behaupten sie, genau dort sei der einzig mögliche Platz für uns.

Wir und unser Platz im Leben - genau das ist das jahrtausendealte Thema der "Liebe zur Weisheit", der Philosophie. Menschen zeichnet es vor den Tieren aus, daß jeder, ausnahmslos jeder, irgendwann einmal über sich und die Welt nachdenkt. Ob er dabei Wissen erlangt, gar Weisheit und ob er daran Freude hat, diese Tätigkeit gar lieben lernt, hängt von vielem ab.

Wer sich - fast beneidenswert - wohlfühlt in der Welt und wer sich - gebrochen oder nie gewachsen - angepaßt hat an die Mißlichkeiten, wird nicht zur Philosophie kommen.

"Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinne, entsteht das Bedürfnis der Philosophie", schrieb Georg Friedrich Wilhelm Hegel, der wohl größte Denker der klassischen deutschen Philosophieepoche am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts.

Beim Ringen um das Lebensnotwendige durch den Stoffwechsel mit der Natur (Arbeit) und beim Kampf um eine akzeptable Verteilung der Güter in der Gesellschaft gibt es immer Differenzen. Menschen denken - im Gegensatz zu Tieren - darüber nach. Wer zufrieden ist, zu den Gewinnern der Verteilung gehört, wird darüber nachdenken, wie er diese Situation als immer und ewig notwendig und sinnvoll begründen kann. Der Benachteiligte wird nach Verbesserungen und Auswegen suchen.

Im gemeinsamen Ringen um bessere Lebensbedingungen gegenüber der Natur und in der Begründung gesellschaftlicher Konzepte entwickelten die Menschen im europäischen Kulturraum das wissenschaftliche Denken zur Ergründung von systematischen Zusammenhängen in Natur und Gesellschaft.

Wissenschaftliche Kenntnisse halfen ihnen dabei, immer effektiver mit der Natur umzugehen und ihre eigenen Gemeinschaften zweckgerichtet zu organisieren. In diesem Sinne bekommt der Spruch von Francis Bacon: "Wissen ist Macht" seine Bedeutung.

Wissen erklärte fast alles und was noch nicht zu erklären und zu begründen war, würde seine Geheimnisse den neugierigen Menschen schon noch preisgeben.

Und in dem Maße, wie Naturerscheinungen als auseinander ableitbar und Wissensgebiete logisch miteinander zusammenhängend nachgewiesen wurden, wurde das Netz der einander begründenden Notwendigkeiten immer dichter. Etwas war erkannt, wenn es als notwendig mit etwas und möglichst vielem zusammenhängend nachgewiesen wurde. Die Welt erschien schließlich als Netz fest verknüpfter Notwendigkeiten.

Die Wissenschaften zielen auf die Erkenntnis von Gesetzen (wesentlichen und allgemein-notwendigen Zusammenhängen).

"Die Natur schreitet durch die unendliche Reihe ihrer möglichen Bestimmungen ohne Anhalten hindurch; und der Wechsel dieser Bestimmungen ist nicht gesetzlos, sondern streng gesetzlich," erläuterte dies Johann Gottlieb Fichte (in "Die Bestimmung des Menschen", Reclam Leipzig, 1976, S. 13).

Der einzelne Mensch konnte dann nur "ein Glied in der Kette der strengen Naturnotwendigkeit" (S.18) sein. Die Freiheit kann nur darin bestehen, "alles zu tun, was die Natur fordert" (S. 22).

Alle Wahlfreiheit ist nur scheinbar: "Im unmittelbaren Selbstbewußtsein erscheine ich mir als frei; durch Nachdenken über die ganze Natur finde ich, daß Freiheit schlechterdings unmöglich ist..." (S. 23).

Mir bleibt keine Wahl: "Es wird, nachdem ich dies einsehe, das Beruhigendste sein, auch meine Wünsche ihr (der unerbittlichen Gewalt der strengen Notwendigkeit) zu unterwerfen, da ja mein Sein ihr völlig unterworfen ist" (S. 28).

Wer marxistische Schulungen kennt, wird sich vielleicht an ein typisches Argumentationsmuster erinnern: Kommunisten hätten allen anderen Menschen und der Masse der Proletarier die Kenntnis über die gesellschaftlichen Gesetze voraus und könnten deshalb die anderen führen beim Kampf um die Macht und den Aufbau der neuen Gesellschaft. Diese erkenntnistheoretische Legitimation der Führungsrolle der Avantgarde wurde niemals theoretisch hinterfragt.

Ich will nicht darauf hinaus, daß es keine Notwendigkeiten und Gesetze gäbe, aber etwas komplizierter ist die Wirklichkeit schon und führt politisch zu etwas anderem.

Johann Gottlieb Fichte kannte bis zu seinem 28. Lebensjahr auch nur diese Art von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie.

Sein Leben lehrte ihn jedoch eine andere Praxis. Er mußte sein Studium abbrechen und sein Leben als Hauslehrer fristen. Er konnte nicht zufrieden mit den Verhältnissen sein - sah aber erst einmal keine Ausweg.

Bis er 1790 Texte von Immanuel Kant las.

Kant hatte erkannt, daß unser Wissen nicht nur die äußeren Dinge wie ein Spiegel einfängt, abbildet und speichert, sondern daß in unserem Gehirn bereits Vorprägungen (Kategorien a priori, d.h. verknüpfende Ordnungsfaktoren im Verstand vor aller sinnlichen Erfahrung) enthalten sind, die die Sinneseindrücke von außen systematisch filtern und verzerren.

Er unterschied deshalb die "Dinge an sich" da draußen - und die "Gegenstände", die in unserem Wissen als derartig beeinflußte Bilder auftauchen. Für Kant blieb nun eine Lücke: Die Gegenstände erkennen wir als gesetzmäßig. Die Dinge an sich bleiben unerkennbar - und lassen einen Raum für die Freiheit des Willens des Menschen!

Dies war für Fichte die befreiende Entdeckung.

Seine Wende im Denken beschrieb er im Jahr 1800 in seiner Schrift "Die Bestimmung des Menschen". Mir gefällt sie deshalb besonders gut, weil hier ein Philosoph einmal nicht nur fertige Ergebnisse seines systematischen Denkens präsentiert, sondern uns teilnehmen läßt an der Euphorie des denkenden Suchens und Findens. Er setzt uns nicht kraft seiner Autorität eine nur noch zu lernende Systematik vor, sondern läßt uns (zumindest in dem ersten Teil dieser Schrift mit dem Titel "Zweifel") seine eigenen Irrtümer mitgehen und den Befreiungs- und Lerneffekt selbst erleben.

Fichte war nun bereits Persönlichkeit genug, nicht nur Kant abzuschreiben. Er argumentierte geschickt von seinen eigenen früheren Ausgangspunkten aus.

Wenn er als Mensch naturbestimmt ist - und feststellt, daß er sich nicht wohlfühlt mit der Unterwerfung unter die Naturnotwendigkeiten, so muß doch auch dieses Unwohlsein notwendig aus seiner Natur folgen, in ihr angelegt sein. "Aber darf ich es mir darum am Ende nicht gestehen, daß dieser Ausgang meinen tiefsten Ahndungen, Wünschen, Forderungen widerspreche?" (S. 28).

Und nun fällte er eine Entscheidung, die er nicht mehr streng logisch aus irgendwelchen Tatsachen oder Wissen ableitete. "Der Rang, welchen in jenem Lehrgebäude jede ursprüngliche Naturkraft einnimmt, will ich selbst einnehmen" (S. 29).

Nicht die Naturkraft bestimmt alles, sondern "ICH bin ICH und setze alles Nicht-Ich!", wie er später sagen wird. Den Fehler der bisherigen starren Sicht auf die Naturnotwendigkeiten gibt er auch an: Für Intelligenzen gibt es "mannigfaltige Handlungsmöglichkeiten, unter denen allen,... ich auswählen kann, welche ich will...".

Er gab zu, daß keine von den beiden Denkweisen hinlänglich begründet ist, sondern offenbarte als Entscheidungskritierum nicht etwa "Vernunft", "Wissen" oder "Logik", sondern sein Herz:

"Das System der Freiheit befriedigt, das entgegengesetzte tötet und vernichtet mein Herz" (S. 33)

Fichtes weitere Argumentation bezieht sich vor allem auf den Prozeß zwischen Subjekt und Objekt bei der Erkenntnis. Auf Kantscher Grundlage betonte er, daß "alles Wissen lediglich ein Wissen von dir selbst ist, daß dein Bewußtsein nie über dich selbst hinausgeht..."(S.57). Er leugnete die Welt der Objekte als selbständig existierende Dinge, um die Menschen von den Ängsten von den äußeren Notwendigkeiten zu befreien: "Du wirst nun nicht länger vor einer Notwendigkeit zittern, die nur in deinem Denken ist... (S. 74).

Schelling betonte gleichfalls die Bedeutung der Betonung der Freiheit des Menschen: "Gebt dem Menschen das Bewußtseyn dessen, was er ist <d.h. sein kann, welche Möglichkeiten er noch hat... A.S.>, er wird bald auch lernen, zu seyn, was er soll" (1795).

Diese Bedeutung eines überschießenden, utopischen Bewußtseins für die gewollte Veränderung des Seins wurde im dogmatischen Marxismus verkannt und vernachlässigt. Die (polemische) Betonung der tragenden Rolle des materiellen Seins gegenüber der idealistischen Mystifizierung des ideellen Geistes der altgewordenen und enttäuscht sich mit den neukapitalistischen Gegebenheiten abfindenden Schelling und Hegel ist bei Marx und Engels noch verständlich. Substanziell ging dem Haupttrend des Marxismus dadurch Wesentliches verloren (anders-denkerische Enklaven wie die Praxisphilosophie bekamen zu wenig Einfluß).

Daß ein einsames, alles setzendes ICH nicht ganz befriedigen kann, merkte auch Fichte. Deshalb rundete er sein Denken ab mit dem Glauben, daß die durch das ICH subjektiv erzeugten Vorstellungen auch etwas zu bedeuten haben müßten. Diese Bedeutung bindet er an eine übersinnliche Welt - die aber ganz gegenwärtig ist (S. 118) und das Wissen durch menschliche Taten an moralische Pflichtmäßigkeit bindet. Von dieser Pflichtmäßigkeit wissen wir durch unser Gewissen.

Insgesamt schoß er zwar (mit der Ablehnung der äußeren objektiven Welt) etwas über das Ziel hinaus, aber die gedankliche Befreiung des Menschen aus dem Netz wirklicher (oder auch gesellschaftlich behaupteter, wie der Legitimation bestehender Machtverhältnisse,) Notwendigkeiten stellte historisch einen Sprung in eine neue Welt dar.

Viele seiner Äußerungen können fast konkrete Lebenshilfe auch in der heutigen Zeit sein:

  • "Was (das vernünftige Wesen) werden soll, dazu muß es sich selbst machen, durch sein eigenes Tun." (1798, Sittenlehre)
  • "Es ist eine Naturbestimmung der Pflanze, sich regelmäßig auszubilden, die des Tieres, sich zweckmäßig zu bewegen, die des Menschen, zu denken." (1800, Bestimmung des Menschen)
  • "Der Inhalt seiner (des Menschen) Erkenntnisse wird bestimmt durch den Standpunkt, welchen er im Universum einnimmt." (ebenda)
  • "Nicht bloßes Wissen, sondern nach deinem Wissen Tun ist deine Bestimmung." (ebenda)
  • "Auch schon in der bloßen Betrachtung der Welt, wie sie ist... äußert sich in meinem Innern... die absolute Forderung einer bessern Welt .
    Nur inwiefern ich diesen Zustand betrachten darf als Mittel eines bessern, als Durchgangspunkt zu einem höhern und vollkommenern, erhält er Wert für mich; nicht um sein selbst, sondern um des Bessern willen, das er vorbereitet, kann ich ihn tragen, ihn achten und in ihm freudig das Meinige vollbringen." (ebenda)
  • "Nur die Verbesserung des Herzens führt zu wahren Weisheit." (ebenda).
  • "So lebe und so bin ich, ... denn dieses Sein ist kein von außen angenommenes, es ist mein eigenes, einiges wahres Sein und Wesen." (ebenda)
  • "Er (der Mensch) legt nicht nur die notwendige Ordnung in die Dinge; er gibt ihnen auch diejenige, die er sich willkürlich wählte; da, wo er hintritt, erwacht die Natur; bei seinem Anblick bereitet sie sich zu, von ihm die neue schönere Schöpfung zu erhalten." (1794, Über die Würde des Menschen)

Schelling erweiterte, fundierte diese Denkhaltung später und sicherte sie damit gründlicher ab. Auch sein Ausgangspunkt war Freiheit. "Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist - Freiheit" (1795). Er verlegte ihre Wurzeln jedoch nicht nur in das menschliche Subjekt, sondern sah sie in der Produktivität der gesamten Natur. Freiheit war für ihn auch nicht nur Wahlfreiheit, sondern bezieht sich auf das innere Wesen, dem zu folgen Freiheit bedeutet. Äußere Abhängigkeiten sind zwar vorhanden, bestimmen aber nicht das eigene Wesen (1809, Freiheitsschrift).

Diese genauere Differenzierung ermöglicht auch ein tieferes Verständnis des nicht völlig zugunsten eines Pols auflösbaren Verhältnisses von Notwendigkeit und Freiheit oder analogen Fragestellungen nach dem Verhältnis von (materiellem) Sein und (ideellem) Bewußtsein, von Praxis und Theorie usw.

Fichte, Schelling, Hegel und auch der im gleichen Zeitabschnitt wirkende Dichter Hölderlin stießen sich an den Realitäten ihrer Zeit wund. Hölderlin wurde wahnsinnig, nachdem er dem Recht der Menschen, eingreifend ihre Welt zu verändern, abgeschworen hatte (er hat mit dieser Absage an den schöpferischen Menschen jedoch nicht seine Ruhe gefunden!). Die Denker lösten für sich den Konflikt, indem sie ihr Denken den Realitäten anpaßten. Sie allein konnten die deutschen Verhältnisse nicht ändern. Ihre ICHs haben nicht ausgereicht.

Heute erheben sich neue Stimmen, die laut und deutlich IHRE Rechte einfordern. Indische Frauen kämpfen gegen den Bau von energieproduzierenden Wasserkraftanlagen und schützen Bäume vor der Abholzung mit ihrem Körper. Indianische Einwohner Südamerikas stoppen die urwaldaldabholzenden Bulldozer. Arbeitslose fordern ein würdiges Leben durch Existenzgeld. Neue Lebens- und Wirtschaftsformen werden in allen Gebieten der Erde ausprobiert und zusammengeführt. Ein erneuertes, nach neuen Idealen strebendes, aber das Sein nicht vergessende Denken wird sich an die alten deutschen Klassiker zu erinnern haben.

 

 
 Ihr träumt!
Natürlich, wir träumen ständig.
Ihr erhofft zuviel!
Natürlich, wir haben gelernt zu hoffen und wir erhoffen alles.
Ihr verlangt zuviel!
Natürlich, wir verlangen zuviel, mehr, alles gierig.
Ihr habt es zu eilig!
Ja, natürlich, laufen, ankommen, von vorn beginnen, wir habens eilig.

Lluis Llach







- für Ema, 3.5.96 -


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