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Ich und Schelling

Ich stieß vor ca. zwei Jahren an zwei Stellen auf Schelling.

Einerseits sind einige politisch links orientierte Praxisphilosophen der Meinung, daß der Marxismus eine günstigere Struktur bekommen hätte, wenn sich Marx und Engels auf Schelling statt auf Hegel gestützt hätten.

Andererseits beziehen sich Wissenschaftler bei der Suche nach einer Philosophie der Selbstorganisation wesentlich ausgiebiger auf Schelling als bsw. auf Hegel. Ich hatte mich zwar in meinem Buch auf Hegel gestützt und finde das ausreichend, aber neugierig war ich doch, was denn an dem Schelling noch so dran ist.

Insgesamt denke ich nicht, daß mein Buch von mir falsch konzipiert ist. Für Entwicklungsprozesse ist Hegels Dialektik tiefer durchdacht und die Natur-Produktivität ist im dialektischen (!) Marxismus auch enthalten.

Als vor einigen Wochen Tanja und dann auch ich krank wurden, hatte ich etwas Zeit gewonnen und ich kaufte mir Schriften von Schelling.

Als Vorbereitung las ich etwas über Kant und Biographien und alle Vor- und Nachwörter zu Schellingschen Schriften. Zufällig fand ich dann noch eine Schrift von Fichte im Antiquariat (die auch schon mal zwischen meinen Büchern rumstand), die ich vorher las. Und diese Schrift "Die Bestimmung des Menschen" wurde erst schon einmal eine absolute Entdeckung für mich. Fichte beschreibt darin sehr anschaulich seine "Wende" vom Anhänger einer von Naturnotwendigkeiten bestimmten Weltanschauung hin zu einem befreienden Denken, die ihm auch erst 28-jährig nach dem Lesen von Kant gelang.

Mir wurde erstmalig klar, worin eigentlich die Bedeutung des "Idealismus" besteht: Die Befreiung der Menschen aus den Notwendigkeiten des Materiellen gelang durch die Hervorhebung des Ideellen.

Diese Gedanken wurden von Schelling noch in die Richtung erweitert, daß er das Dynamisch-Produktive des Ideellen auch in die Natur übertrug.

Ich fand also die üblichen Zitate Schellings über die Naturproduktivität bald wieder.

Allerdings sah ich auch gleich, daß diese Weltanschauung damit erkauft war, daß die Produktivität an ein Absolutes geknüpft wird, was ich in meinem Denken nicht gebrauchen kann. Konsequenterweise gelangte auch Schelling bald zu negativen Denkweisen. Alles Wesen liegt bei ihm in der absoluten Substanz, in Gott. Weil diese ja die absolute Freiheit - weil Un-Bedingtheit - verkörpert, ist in ihr alles Mögliche wirklich. Sie ist deshalb keinen Prozessen unterworfen, sondern außerhalb aller Zeit. Die zeitlichen, endlichen, bedingten Dinge der Welt sind dann "nichtig", sie bedürfen keines Engagements mehr: "Wozu also alle Sorgen und das unruhige Streben? Was geschehen soll, geschieht doch" (1804).

Entwicklung, Geschichte ist nach Schelling deshalb auch kein Thema der Philosophie. Reale Entwicklung interpretierte er nicht einheitlich - nur vor 1800 im Sinne eines Fortschritts, danach eher als Regression.

Ich erkannte, daß Schellings Wende ins Mystische nicht erst nach 1809 (nach Carolines Tod und seiner Übersiedlung nach München) erfolgte, sondern spätestens ab 1804 und dachte, daß deshalb für mich die Texte danach nicht wichtig wären.

Wieder eher zufällig stieß ich in der Buchhandlung auf eine billigere Reclamausgabe von Schellings "Freiheitsschrift" von 1809 und begann im Vorwort zu lesen. Mir fiel auf, daß da doch noch ungehobene Schätze schlummern. Jetzt nach den ersten Seiten Schelling-Text muß ich zugeben, daß für mich seine Erklärungen gegen Mißverständnisse seines Denkens auch wichtig sind. Er ist doch nicht Fatalist geworden, sondern denkt immer noch im Sinne der Freiheit. Später wird er noch genauer diskutieren, wie das "Ideale" und das "Reale" zueinander stehen und dies gibt eigentlich einen idealen Rahmen für das Nachdenken über aktuelle Ökologie. Schelling stellt fest, daß das expansive, bewegende, dynamische Prinzip und das Kontrahierende, Maß- und Ordnunggebende immer zusammengehören. Ein Prinzip allein oder im Überschwang führt zur Gefährdung des Seins und diese Gefährdung ist prinzipiell nicht ausschaltbar.

Dies ist für mich extrem wichtig: Philosophie kann mir keinen Heilsweg zeigen - wie ich es einmal wollte. Hegels Dialektik begründet eine "List der Vernunft", die Höherentwicklung scheinbar automatisch absichert. Nein, es hat für mich keinen Zweck zu versuchen, dieser Vernunft ins Gehirn zu schauen, um Orientierungen zu geben. Es bleibt tatsächlich ein offener Kampf, ein Ringen innerhalb ständiger Gefahr. Keine utopische Gesellschaft kann jemals wieder absolut "sicher" sein - sie stellen nur "Wirbel" im Strom des Seins dar, das immer bedroht ist vom Ende.

Diese wichtige Erkenntnis ist zwar ent-täuschend, aber wichtig. Und insofern hat mir Schelling doch etwas Neues gebracht.

 

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