„Zum Kältestrom-Wärmestrom in Naturbildern“
Ernst Bloch und die moderne Wissenschaftsphilosophie

Vortrag auf der Internationalen Fachkonferenz
„Von der Physik zur Politik“
vom 22.-25.4.2005 im Ernst-Bloch-Zentrum Ludwigshafen
von Annette Schlemm

 

Moderne Wissenschaftskritik. 1

Ernst Blochs Ansprüche an die Erkenntnis. 2

Entfärbte Weltbilder. 3

Die imperialistische Vereinnahmung. 4

Des Pudels kahler Kern. 4

Entdialektisierung. 5

Vom Gesetzesfahrplan zur Tendenz. 7

„Alleszertrümmerung“ oder Aufhebung?. 8

Moderne Wissenschaftskritik

Die Kritik der neuzeitlichen Wissenschaft hat sich bereits großes Gehör verschafft. Ökologische, feministische, wertkritische und postmoderne Kritiken sind bekannt. Auch Ernst Bloch hatte speziell gegenüber der modernen Naturwissenschaft große Vorbehalte – aber er schüttete dabei nicht das Kind mit dem Bade aus. Für ihn gehörten zwei Erkenntnisweisen eng zusammen:

Es gibt zwei Arten, sich stoffgemäß zu verhalten. Die eine ist kühl und entzaubernd, die andere voller Vertrauen. Die eine zerreisst den Schein der Dinge, die andere ergibt sich dem wirklichen Gang der Dinge und ist gewiss, dass er gut zu werden verspricht. Beide Haltungen sind gleich wichtig, sind in jedem echten Marxisten, wechselwirkend, vereinigt. (Bloch LM: 170)

In der Praxis gelingt das Miteinander dieser Haltungen oft weniger gut.

Über dem Arbeitstisch einer Diplomandin im Fachbereich Relativitätstheorie der Uni Jena hing ein Plakat mit dem Foto eines Kometen mit dem darunter geschriebenen Zitat aus dem Brief einer Amateurastronomin: „Kometen sind keine mathematischen Objekte – sie sind auch schön!!!“. Aus dem ersten Entwurf der Diplomarbeit wurden alle Textabschnitte mit der Einordnung des speziellen Themas in einen umfassenden kosmologischen Kontext gestrichen mit der Begründung, dass das nicht zur Wissenschaft gehöre – da hätten nur die konkreten Berechnungen Platz. Die Diplomandin ließ sich belehren und verließ nach dem Diplom die forschende Physik.

Erst später fand ich eine recht passende Beschreibung dieser Art Naturwissenschaft. Bloch nannte sie ein „Zahlenspiel, unter dem man sich die Welt zurechtlegt, nicht versteht“. Bei diesem Zahlenspiel wird die Exaktheit dadurch erkauft, dass man die Momente der Welt ausschaltet, die außerhalb des abstrakten Bereiches liegen (ebd.: 23).

Das folgende Bild kann die Wissenschaft in ihrer idealen Form, als neugieriges Erweitern der menschlichen Heimat, darstellen.

Demgegenüber kann Dalis „Schädel des Zurbaran“ auch als Symbolisierung der negativen Züge der institutionalisierten Wissenschaft gelten.

Ernst Bloch hatte solche sich ergänzenden Betrachtungsweisen schon in einem anderen Zusammenhang mit den Worten „Wärmestrom“ und „Kältestrom“ bezeichnet (Bloch EM: 141). Diese beiden Strömungen sind in der Materie selbst angelegt, weil Materie einerseits „nach Möglichkeit“ bestimmt ist und andererseits immer „in Möglichkeit“ – sich ins Offene hinaus weiter entfaltend - ist (Bloch MP: 143; Bloch PH: 238; Bloch EM: 229). Aus diesem Grund begegnen wir dem Wärme- und dem Kältestrom auch in den Naturbildern wieder (Bloch MP: 316).

Ernst Blochs Ansprüche an die Erkenntnis

Ernst Blochs Ansprüche an die Erkenntnis ergeben sich aus seinem Weltbild. Wenn die Welt selbst ein Experiment ihrer selbst ist, so kann Erkenntnis nichts Starres abbilden.

Dieser Ontologie des „Noch-Nicht-Seins“ entspricht auch eine Erkenntnisweise, die in ihren Denkformen darauf Wert legt, das Subjekt in Bewegung zu lassen. Dies zeigt sich beispielsweise in der logischen Form „S ist noch nicht P“. Ich  kann hier keine vollständige Rekonstruktion der Blochschen Begriffswelt angeben, nur jene Punkte beleuchten, die für die Erkenntnis wesentlich sind. Entwicklung ist demnach keine Auswicklung von schon Vorhandenem, sondern setzt ständig Neues. Sie setzt voraus, dass es an jedem Punkt noch nicht verwirklichte objektiv-reale Möglichkeiten, Keimendes, Verstecktes, bzw. Erwartbares gibt – die Latenzen. Die „durchbrechende Bewegung“ bzw. die  „Energetik der Materie in Aktion“ stellt die Tendenz dar.

Obwohl derzeit vorwiegend die Menschen an der Front des derzeitigen Geschehens stehen, ist die Natur „kein Vorbei“. Damit unterscheidet sich Bloch wohltuend von Ökologen, die eine Unterordnung der Menschen unter eine statische oder in Kreisläufen sich verewigende Natur fordern.

Als „Schoß aller Gestaltungen“ besitzt auch die Materie etwas Subjektives, Handlungsmächtiges. Bloch nennt das Schöpferische in der Natur auch „Subjektkern“ oder „hypothetisches Natursubjekt“, damit auch der Begriff der Dialektik (als Subjekt-Objekt-Dialektik) anwendbar wird. 

Gibt es auch – entsprechend dem arbeitenden Subjekt als dem Erzeuger der Geschichte – ein Subjekt in der Natur, eines, das der Motor von Naturdialektik sein könnte? Gewiss, es ist nicht zur Natur hinzugedacht, es ist zwar nicht so erscheinend wie das Subjekt in der Geschichte, aber es ist dieses, das sich eben in den dialektischen Subjekt-Objekt-Beziehungen der Natur sucht und darin kundgibt. (Bloch LM: 414)

Dies ist weniger eine ontologische Aussage über eine Dialektik in der Natur – sondern unsere Aktivität als Menschen setzt voraus, das aus der Natur uns etwas entgegen wirkt. Es geht Bloch um eine „Vermittlung mit dem Produktionsherd des Weltgeschehens insgesamt“.

Als Moment menschlicher Praxis muss Erkenntnis diesen Voraussetzungen entsprechen. Das kann sie nicht, wenn sie lediglich Überlistungswissen ist, wenn sie die Welt als statische Gegebenheit ansieht. Erkenntnis muss der Entwicklung der Welt folgen und selbst Moment dieser Entwicklung sein, Bloch nennt es „erkennendes Fortbilden“ in einer Mensch-Natur-Allianz. Er bemerkt:

Es kann derart nichts erkannt werden, ohne daß dieses sich bewegt. Und es wird nur erkannt, um zu verändern, folglich ist dieses Eingreifende von vornherein im Blick. (Bloch TLU: 255)

Gemessen an dieser Bestimmung von Erkenntnis ergeben sich in den derzeit ausgeübten Praxen der Wissenschaft grundlegende Mängel.

Entfärbte Weltbilder

Das, worüber wir etwas wissenschaftlich wissen, ist nicht mehr das, was uns als Menschen bewegt. Wir berechnen die Kometenbahnen in größter Exaktheit, aber wir sehen nicht mehr die Schönheit der Kometen.

Bloch charakterisiert die gegenwärtige Wissenschaft an vielen Stellen vorwiegend negativ.

 

Die Menschen als Erkenntnissubjekt sind keine fühlenden, sinnlichen Individuen mehr, sondern sie dienen höchstens zur „Registratur abstrakter Gesetzmäßigkeiten“ (ebd.: 23). Wir beschneiden dabei auch die Objekte – wir konzentrieren uns auf das gesetzmäßig Wiederholbare und dabei wird Neues, Sprunghaftes, Unberechenbares, historisch Konkretes, qualitativ und wertmäßig Akzentuiertes eher als störend, als „Impertinenz der Gegebenheit“ (ebd: 24) betrachtet. Es gehen also weder die Erkenntnissubjekte noch die Erkenntnisobjekte in der Vollständigkeit ihrer Qualitäten und Verhaltensweisen in die wissenschaftliche Erkenntnis ein. Weder die Vielfalt der sinnlichen Wahrnehmungen geht vollständig in das systematisierte Wissen ein, noch die umfassende Dialektik aller miteinander verbundenen, widersprüchlichen Momente. Der Zweck des Wissens ist wesentlich an instrumentelle Nutzbarkeit gebunden.

Die imperialistische Vereinnahmung

Wie auch andere Autoren herausarbeiteten, hängt dieser Zustand durchaus mit der herrschenden gesellschaftlichen Praxis zusammen. Ernst Bloch betrachtete vor allem die „mathematisierte Physik als einen Triumph bürgerlicher Wissenschaft“ (ebd.: 24). Die Zuschreibung des Bürgerlichen ergab sich für Bloch daraus, dass das „wissenschaftliche Denken [...] fast genau dem bürgerlichen Handeln und der Welt, in der sich dieser bewegt“ (ebd.: 21), entspricht.

 

Des Pudels kahler Kern

Ernst Bloch blieb jedoch nicht bei dieser ideologiekritischen Betrachtung stehen, für ihn war die äußerliche „Entlarvung“ nicht das letzte Wort. Ernst Blochs Ontologie vereinigt verschiedene „Grade der Wirklichkeit“ – auch die (bürgerliche) Wissenschaft ist nicht nur etwas Ausgedachtes oder von der Gesellschaftsform Festgelegtes, sondern berührt eine bestimmte Sphäre des Wirklichen. Auch die kühle und entzaubernde Art ist eine Art, „sich stoffgemäß zu verhalten“ (Bloch LM: 170).

Ernst Bloch war einer der ganz wenigen, die auch in der Klassischen Mechanik nicht nur einen mechanistischen Fehlgriff im bürgerlichen Interesse sah. Sondern diese Theorie erfasst einen bestimmten Teil der Natur mit einer eigenen Wirklichkeit, nämlich jener des „Gewordenseins und seiner vorläufigen Gebanntheit“.

Die Analyse jener Sphäre der Wirklichkeit begründet den Kältestrom des Naturwissens. Die auf diese Weise „nur physikalisch separierte Materie“ ist eine „berechnete, eine rein außermenschliche, eine vom unteren und oberen Saum der Wirklichkeit, eine am Saum gehaltene“ (Bloch MP: 358).

Des Pudels Kern ist hier allemal kahl: er ist Atomschwingung, kein Licht; Kohlenstoffverbindung, kein Leben; Gehirnprozess, keine Seele;

Ein solches Naturbild darf dann auch nicht behaupten, bereits die „ganze Natur“ oder die ganze Welt darzustellen. Es ist wichtig, herauszuarbeiten, wie die Naturwissenschaft ihre Gegenstände aus der umfassenden Vielfalt der Welt herauspräpariert, um den grundlegenden Unterschied von umfassendem Weltbild und einzelwissenschaftlicher Wirklichkeitsauffassung nicht zu verwischen.

Entdialektisierung

Die neuzeitliche Naturwissenschaft bildet nicht die in sich widersprüchliche Dialektik der Welt ab – sie könnte keine einzige Gleichung aufschreiben, wenn sie nicht die in sich widersprüchlichen Momente auf unterschiedliche Zustandsgrößen verteilen würde.

Gegenstand der neuzeitlichen Einzelwissenschaft, z.B. der Physik, ist nicht die Entwicklung in ihrer Widersprüchlichkeit, sondern die Bewegung veränderbarer Zustandsgrößen, die selbst der Widersprüchlichkeit entbehren. Bloch versteht sehr gut, dass auf dieser Grundlage (auch wenn sie ihm nicht in allen Einzelheiten bewusst war – ich folge hier weitgehend den Untersuchungen von Renate Wahsner - ) auch die Quantentheorie nicht plötzlich wieder dialektisch werden kann. Bloch sah deutlich den Unterschied zwischen den Widersprüchen in der Sache und den Widersprüchen im Erkenntnisprozess selbst, den Problemantinomien (Narski).

„Widersprüche zwischen Begriffen, zwischen bloßen physikalischen Hilfsbegriffen sind noch nicht, ohne weiteres, Widersprüche in der Sache“

Zum Abschneiden des qualitativen Sektors in der Wissenschaft habe ich schriftlich eine längere Ausarbeitung vorbereitet, die den Rahmen hier aber sprengen würde. Im Ergebnis komme ich zu einer Differenzierung des Quantifizierungsvorwurfes. Die Naturwissenschaft reduziert nicht alle Qualitäten in rein quantifizierte Größen. Sondern gerade die Mannigfaltigkeit an Zustandsgrößen bewahrt eine große Anzahl qualitativ unterschiedlicher Verhaltensweisen physikalischer Gegenstande. Auch Physik kann nicht auf die Tendenz zur Vereinheitlichung in einer Theory of Everything reduziert werde – auch wenn diese im populären Bereich bekannter ist als der langweilige Labor- und Industriealltag der gewöhnlichen Physik. Tatsächlich lebt die Physik von einer großen Vielfalt qualitativ verschiedener Verhaltensweisen, die sich in Zustandsgrößen ausdrücken und deren Wechselbeziehungen. Die Entscheidung, welche Größen und welche mathematisierten Modelle jeweils verwendet werden, trifft der Physiker in der wirklichen Praxis durchaus notwendigerweise in Abhängigkeit von seinem konkreten inhaltlichen Problem, d.h. bei Strafe des Misserfolgs muss er die wirklichen Gegenstandsqualitäten berücksichtigen. Als teilzeitpraktizierende Physikerin kann ich nicht einfach am Abend philosophierend behaupten, die Physik würde es nur noch mit Zahlen zu tun haben.

Trotzdem bleibt bislang festzuhalten, dass die Einzelwissenschaft durchaus auch nicht die vollständige widersprüchliche Fülle der Welt darstellt. Die Betreuer der zu Anfang genannten Diplomarbeit waren also sogar im Recht, insoweit sie darauf achteten, dass Physik nicht unmittelbar philosophisch-weltanschauliche Fragen zum Gegenstand hat.

Vom Gesetzesfahrplan zur Tendenz

Kommen wir nun zum nächsten Aspekt der neuzeitlichen Naturwissenschaft, die Bloch thematisiert. Es geht um den Gesetzesbegriff. Ernst Blochs Gesetzeskritik bezog sich einerseits auf die Herkunft der Vorstellung von Gesetzen aus gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen, wo Gesetze als „festgehaltene, erzwungene Satzungen“ gelte und andererseits auf die durch die Orientierung an Gesetzen in der Naturwissenschaft gegebene Fixierung am Wiederholbaren, das das von Bloch betonte Neue außen vor lässt.

 

Im „Prinzip Hoffnung“ verwendet er die Kategorie des Gesetzes aber auch positiv. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir auch davon ausgehen können, dass unser Handeln gesetzmäßige Wirkungen erzielt und nicht in der Beliebigkeit verpufft. Es geht dann um die „Veränderbarkeit der Welt im Rahmen ihrer Gesetze“, wobei die bewusste Veränderung der jeweiligen Wirkungsbedingungen von Gesetzen eine große Rolle spielt. „Freiheit... ist kein Amoklauf, sondern tätiger Einklang mit... gesetzmäßigen Bedingungen.“ Unabdingbar ist es jedoch, mit dem Gesetzesbegriff keine „automatisch definierte Zukunft“ mehr zu verbinden

 

 

Mit der Untersuchung der Rolle verschiedener Bedingungen durch Günter Kröber und dem statistischen Gesetzesbegriff von Herbert Hörz wurde der Gesetzesbegriff in der DDR auch in diese Richtung weiter entwickelt.

In seinem Spätwerk „Experimentum Mundi“ geht Bloch von der positiven Verwendung der Kategorie des Gesetzes ab und möchte sie durch jene der Tendenz ersetzen.

 

Denn die Tendenz ist im Gegensatz zum Gesetz noch unentschieden und hält den Platz offen für das  Novum. Dieser Tendenzbegriff ist dann aber weiter zu begründen: In welcher Weise heben sich unterscheidbare Tendenzen für bestimmte Gegenstände ab vom Hintergrund der unendlich in sich widersprüchlich vernetzten Zusammenhänge? Und in welcher Weise stellen die bisher erkannten Gesetze das jeweilige statische Moment von Tendenzen in Entwicklungszusammenhängen dar?

Die folgende Abbildung stellt noch einmal einige Punkte zusammen, die für Blochs Weltanschauung wesentlich sind und was sich daraus für Kritiken an der gegenwärtigen Naturwissenschaft ergeben.

Dies genannten Mängel speisen sich nach Bloch aus zwei Wurzeln. Die eine ist die Anpassung der Wissensform an die Form der herrschenden Ökonomie, an die „imperialistische Vereinnahmung“ auch des Mensch-Naturverhältnisses. Andererseits gesteht Bloch der neuzeitlichen Naturwissenschaft aber auch zu, tatsächlich die Darstellung eines bestimmten Natursektors zu sein.

„Alleszertrümmerung“ oder Aufhebung?

Das beeinflusst dann auch die Beantwortung der Frage, ob noch etwas von der bisherigen Wissensform übernehmbar ist, eventuell im Sinne einer dialektischen Aufhebung, oder ob es notwendig ist, „alles zu zertrümmern“, wie Robert Kurz in einer aktuellen Rationalitätskritik fordert. 

Besonders aus feministischer und ökologischer Wissenschaftskritik speist sich eine recht radikale Fragestellung:

Ist es überhaupt möglich, Wissenschaften, die offensichtlich so tief mit westlichen, bürgerlichen und männlich dominierten Zielvorstellungen verbunden sind, für emanzipatorische Zwecke einzusetzen? (Harding 1990: 7)

Bei Alfred Sohn-Rethel wurde betont, dass auch die Erkenntnissubjekte „in diese Welt von der Wurzel her eingemauert“ sind. Es gibt keinen Gegenstand, der nicht selbst kontaminiert wäre von der Gesellschaftsform und es gibt kein Subjekt, dass die gesellschaftliche Determination, auch der Subjekte von einem Beobachterstandpunkt aus konstatieren könnte, ohne selbst betroffen zu sein. Noch konsequenter ist Robert Kurz, der deutlich macht, dass die Ergebnisse der Lebenspraxis der Menschen sich ihnen als gesellschaftliches Fetischverhältnisse abstrakt entgegen stellen. Die Gesellschaftlichkeit der Menschen, ihre „zweite Natur“, ist ihnen genau so äußerlich wie Gesetze die „erste Natur“. Ein aktuelles Zitat belegt diese Tatsache. Ifo-Chef Hans-Werner Sinn meinte zur Rede des SPD-Vorsitzenden, in der dieser die „Macht des Kapitals“ kritisiert hatte:

„Herrn Münteferings moralische Entrüstung über ökonomische Gesetze könnte sich genauso gut gegen das Gesetz der Schwerkraft richten.“ (Sinn 2005)

Es ist aber interessant, dass auch der „Alleszertrümmerer“ Kurz nicht völlig beim Nullpunkt neu anfangen möchte. Ihm ist es wichtig, dass auch bei der Kritik nicht wieder abstrakte Maßstäbe angelegt werden, sondern unser Naturwissen inhaltlich überprüft wird. Als aufbewahrenswert und Ausgangspunkt neuer Entwicklungen empfiehlt sich alles, was sich bisher schon der gesellschaftlichen Formbestimmung weitestgehend sperrend entgegen gestellt hat. Er nennt auch eher gesellschaftsform-, bzw. ideologieneutrale Kulturtechniken wie das Bierbrauen, das Weinkeltern sowie Lesen und Schreiben.

So wird die Aneignung von Artefakten der Geschichte erstens deren barbarische Abkunft nicht verdrängen und verleugnen, sondern sie im Benjaminschen Sinne als „Eingedenken“ bewahren. Zweitens geht diese Aneignung mit einem Prozess des Verwerfens einher, eben weil es keine „unschuldigen“ Inhalte gibt und ein bestimmter Teil davon derart formvergiftet ist, dass er ebenso wie die (und zusammen mit der) Form völlig negiert werden muss. Aber das ist eben drittens erst herauszufinden; dafür kann es kein abstrakt-allgemeines Muster der Aussortierung gegeben, das ja selber wieder nur eine Fetischform darstellen würde.

Auch Ernst Bloch hat Vorschläge dazu gemacht, wie Naturwissenschaft sich zu Allianzwissen entwickeln kann.

Ein Punkt betrifft die Festlegung der Zustandsgrößen. Hier schlägt er vor, über den verstärkten Einsatz von intensiven Größen im Unterschied zu extensiven Größen nachzudenken. Wo er sich noch auf Gesetze bezieht, sollte gerade das Überschreiten ihrer Wirkungsbedingungen thematisiert werden und ihr tendenzieller Charakter herausgearbeitet werden. Und trotz des spezifischen Umgangs mit dialektischen Widersprüchen kann Naturwissenschaft nicht völlig auf das Erkunden der Widersprüche in der Sache verzichten. In seiner Schlüsselfunktion legt solches Wissen als „reale Abbildung“ die Triebkräfte des Geschehnen bloß (ebd.: 137), in seiner Hebelfunktion erweist es sich immer auch als Fortbildung. Wichtig ist es ebenfalls, die Anmaßung von Wissenschaft durch die Berücksichtigung ihrer spezifischen epistemologischen Voraussetzungen zu begrenzen.

Zusammenfassend kann folgendes festgehalten werden:

 

Es ist wichtig, Wissenschaft als Prozess im Rahmen spezifisch menschlicher Tätigkeit, als Arbeit oder Praxis zu fassen. Als Moment der umfassenden menschlichen Lebenspraxis ergeben sich auch die Bestimmungen der Wissenschaft – jeweils auch in ihrer historischen Spezifik. Als allgemeine Bestimmung durch die Menschheitsgeschichte hindurch sollte gelten, dass Praxis Weltveränderung bedeutet und in diesem Rahmen die Wissenschaft die Veränderbarkeit der Welt erkundet. Mit der Bestimmung von Wissenschaft als Erkundung von Veränderbarkeit ist die Suche nach Möglichkeiten und Neuem, die Bloch einfordert, tendenziell enthalten. Wenn wir erforschen, was in welcher Weise veränderbar ist, fragen wir nach den Möglichkeiten, die uns die Welt als Latenz entgegenbringt und denen, die wir entwickelt haben, um verändernd einzugreifen. Da frühere Veränderungen in das Sein eingehen, drängt die Suche nach dem Veränderbaren auch immer wieder auf Neues.

Etwas über die Veränderbarkeit zu erfahren erfordert auf der einen Seite, etwas über die Potenzen und die Widerständigkeit der Welt gegenüber den Einwirkungen der Menschen zu wissen – auf der anderen Seite bezieht sich die Suche nach Veränderungen immer auf Veränderungen durch uns und für uns. Einerseits bildet wahres Denken ab, „was ausser ihm geworden ist und wird“, andererseits geht es um die Abbildung eines an und durch den lebenden Menschen Geschehenden (ebd.: 238).

Auf diese Weise vereinigen sich der Kältestrom im Naturbild, der das Gegebene, das „nach-Möglichkeit-Seiende“ anerkennt, und der Wärmestrom, der das Werdende, das Neue, das „in-Möglichkeit-Seiende“ betont – der Möglichkeit nach auch in der Wissenschaft.

Diese Möglichkeit ist nicht in allen Phasen voll verwirklicht, in langen Etappen sogar verschüttet. Das Freilegen dieser Möglichkeit im Wissen einer befreiten Gesellschaft erfordert eine Rekonstruktion wissenschaftlicher Inhalte – aber auch praktische Tätigkeit, um die dafür notwendige Gesellschaftsform überhaupt erst zu schaffen. Bloch verweist genau so wie Sohn-Rethel oder Kurz darauf, dass es nicht möglich sein wird, ein neues Naturverhältnis zu erreichen, wenn nicht die Verhältnisse zwischen den Menschen endlich ihrer „Vorgeschichte“ entrissen werden. Auf diese Weise verlangt gerade auch der Fortschritt des Naturwissens und das Erreichen der Naturheimat, dass wir uns um unsere gesellschaftspolitischen Belange kümmern.

In diesem Sinne ist es nicht unzeitgemäß, mit Bloch zu fordern:

Das jetzt fällige Wissen ist eines ums beförderte Werden, die Fahne des Verstandes ist rot.“(Bloch AOP 339)

 


Diese Arbeit erschien in: Zimmermann, Reiner E. (Hrsg.): Naturallianz. Von der Physik zur Politik in der Philosophie Ernst Blochs. Hamburg: Verlag Dr. Kovac. 2006. S. 55-81.

 

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