Ich habe jetzt einen sehr guten Film gefunden, der auch meine Erlebnisse sehr genau schildert, obwohl es sich um Filmausschnitte aus anderen Jahren handelt.
 
DAS GORLEBENGEFüHL

Es war lange fällig: Ich kann nicht mehr nur zusehen, wenn sich Menschen akuten Gefahren entgegenstellen und mit Wasserwerfern weggesprüht werden und wenn geprügelt wird gegen Castor-Blockierer, die gewaltfrei im rechtlichen Sinne lediglich eine Ordnungswidrigkeit begehen.

Castor-Alarm Frühjahr 2001

"Wir stellen uns quer!!!" heißt es nach 4 Jahren wieder im Wendland. Dort soll der Atommüll gelagert werden, der nicht nur vom Atomstrom aus den Steckdosen der Wendländer kommt. Auch wir sind Atomstromland... Deshalb hatte ich mir vorgenommen, beim jetzt geplanten Castor-Transport dabei zu sein, mich auch querzustellen.
Ich hatte zwar grundsätzlich einige Vorstellungen, an welchen Aktionen ich mich beteiligen wollte (gewaltfrei, friedlich, aber konsequent) - und es ergab sich, daß ich ein sehr großes Spektrum an Widerstand im Wendland mit erleben und gestalten konnte. Deshalb möchte ich diese Vielfalt dokumentieren.
Ich möchte mich damit bei allen WendländerInnen bedanken, die mir in dieser Woche auf Schritt und Tritt halfen, mich unterstützten und die uns zeigten, daß wir uns nicht nur für eine abstrakte Sache einsetzen, sondern daß wir gemeinsam für das konkrete Überleben kämpfen.

Ich berichte über das Selbsterlebte und ergänze durch einige Hinweise aus Presseberichten und Erzähltem. Ich bitte um vielfältige Ergänzungen im Open-Theory-Projekt (http://www.opentheory.org/proj/castor/v0001.phtml)

Freitag, 23. März 2001

Heute wird es ernst. Der Castortransport ist für nächste Woche festgelegt - wir müssen uns auf den Weg machen. Unsere Bezugsgruppe ist recht klein, nur Kathrin, Katharina und ich haben uns fest zusammen gefunden und planen einen Beteiligung an den Aktionen von X-1000-mal-quer - einer prinzipiell gewaltfreien, sich selbst organisierenden Bewegung, die 1997 durch eine konsequente Sitzblockade in Dannenberg Aufsehen erregte. Im Unterschied zu 1997 ist von vornherein geplant, die Proteste auszuweiten (nicht nur auf der Straße von Dannenberg nach Gorleben, sondern bereits an der Bahnstrecke von Lüneburg nach Dannenberg) und zu dezentralisieren (mehrere Camps mit vielfältigen Organisations- und Aktionsformen sind geplant). Wir drei haben nichts besonderes vor, allerdings wollen wir den Namen unserer Vorbereitungsgruppe hier in Jena auf einem Transparent verwenden. Deshalb treffen wir uns heute Abend bei K. zu Hause und malen noch ein Transpi mit der Aufschrift:

REGENERAKTIV
statt
RADIOAKTIV

Wir lassen es nicht allzu spät werden, denn morgen soll es zeitig losgehen.

Auch die Polizei bereitet sich vor: Für die 15 000 Einsatzkräfte werden 1 600 Wohncontainer bereit gestellt. Die Beamten beschweren sich über schimmelnde Wände und schlechte Matratzen. Bereits dies führt zur Forderung der Polizeigewerkschaft, maximal einen Castortransport pro Jahr zuzulassen.

Wenns ihnen schon so schlecht geht: auch die geplanten Camps der Protestbewegung werden erst "kritisch beäugt" (Stand 22.3.) und das Camp in Wendisch Evern sowie weitere wurden vom Landkreis Lüneburg bereits "wegen unkalkulierbarer Gefährdungslage" verboten. Daraufhin besetzen SchülerInnen Sporthallen in Dannenberg und Kirchen öffnen sich. Ansässigen Antragstellern für Passierscheine, wie Ärzten, wird bereits jetzt angekündigt, daß am Tag des Transports auch für sie kein Bahnübergang passierbar sein wird. Noch fand nicht einmal die erste öffentliche Demonstration statt - da werden bereits Grundrechte der Bürger massiv eingeschränkt. Schultaschen (bzw. Plastebeutel) von Kindern werden von der Polizei kontrolliert. Nicht einmal bei den Konfliktmanagern der Polizei kann eine Anwohnerin erfahren, wo sie nun friedlich demonstrieren darf und wo nicht. Der Verfassungsschutz beobachtete die Anti-Atom-Initiativen (ist Atomenergie Verfassungsgut??) und erwartet 10 000 bis 15 000 Atomkraftgegner.

Die wirkliche Gefahr wird unterschätzt: Es gibt nicht einmal - wie in einer EU-Richtlinie gefordert - einen Sonderplan für eventuelle Castor-Unfälle. Übrigens: 90% der Polizisten sollen gegen Castoren sein! Aber Dienstpflicht ist Dienstpflicht... (P.S. wenn das ihre KollegInnen im Osten auch so gesehen hätten, würde die Mauer heute noch stehen!)

Samstag, 24.März 2001

Dies war die erste Nacht mit wenig Schlaf. Bereits um 5 Uhr holt uns Reiner mit dem Auto ab. Er will sich an der Demonstration in Lüneburg beteiligen und kann uns deshalb hinfahren und will uns dann auch zum Camp nach Wendisch Evern bringen. Die Stimmung ist gut, ein Schläfchen, ein Schwätzchen und nach ca. 5 Stunden sind wir in Lüneburg. Pünktlich zum Treffpunkt der Demonstration - auf dem Parkplatz des Uni-Campus.

 

So langsam füllt er sich, alle lachen sich an, den kalten Wind spüre ich kaum noch. Einradfahrer, ein Gerippe mit Polizeiausrüstung und viele andere lustige Ideen machen Stimmung. Nach einer Stunde beginnt der Sternmarsch zum Clamartplatz, auf dem die Auftaktkundgebung der Widerstandswoche gegen den Castor stattfindet. Wir kommen mit Müh und Not noch auf dem Platz, auf dem sich zwischen 10 000 oder 17 000 Menschen befinden. Songs von den "Toten Hosen", eine rote Fahne vom martialischen Reiterstandbild, unser Transpi irgendwo dazwischen. Ich treffe Herrmann mit dem Bücherstand, jemand erkennt einen Bekannten aus Göttingen. Wir stehen eine Weile beim Stand der unverdrossenen MLPD, bevor wir uns weiter umschauen. Sogar für einen Kaffee in der Innenstadt von Lüneburg reicht die Zeit dann noch. Die erste Rednerin der Kundgebung drückt tüchtig auf die Tränendrüse - 15 Jahre sind seit Tschernobyl vergangen, in denen auch ich kapiert habe, daß es keine "friedliche Kernenergie" geben kann. Das Wetter ist ziemlich kühl-windig. Wir bleiben in Bewegung und spüren, daß die tausenden hier keine radikalisierten reisenden Überall-Demonstrierer sind, wir finden uns mitten in der hiesigen Bevölkerung wieder.

In guter Stimmung laufen wir zurück zum Parkplatz. Im Abgehen hören wir noch einen Lautsprecher mit der Information, daß die Camps nicht gestattet sind, daß aber eine (genehmigte) Dauerdemonstration mit "Sleep In" vorgesehen sei. Immer noch gut gelaunt setzen wir uns ins Auto und fahren los in Richtung des in Wendisch Evern geplanten Camps. Dort finden wir nur einige Fahrzeuge in einer Parkbucht und erfahren, daß wir tatsächlich kein Zelt aufbauen dürfen, sondern uns höchstens auf und unter Planen hinsetzen können. Das ist ja nun wohl keine Lösung für die nächsten Nächte. Wir werden auf die weiteren Camps an der Strecke zwischen Lüneburg in Richtung Dannenberg verwiesen. Vielleicht können wir ja woanders campen. Gut, daß uns R. mit dem Auto noch herumfahren kann, bevor er wieder nach Jena zurück muß. Mich erwischt noch ein Reporter von einer "Hannoverschen" und bekommt zu hören, daß ich es unverschämt finde, friedlich und gewaltfrei protestieren Wollende so zu schikanieren...

Am nächsten Infopunkt, in Dahlenburg, werden wir zum nächsten Camp bei Köhlingen gelotst. Wir finden es auch - hier stehen schon einige größere Zelte für die Hamburger und Bremer, aus der Küche dampft es. Allerdings ist dieses Camp sehr weit von der Strecke entfernt, es ist unklar, ob es nicht auch noch verboten wird und wir haben keine Lust, unser Zelt hier mit aufzubauen. In den nächstliegenden Häusern könnten wir in einem alten Stall campieren. Der erste "Bevölkerungskontakt" hier zeigt uns die Aufnahmebereitschaft der Wendländer. Der Bauer hat zwar Bedenken wegen der Maul- und Klauenseuche, aber Jena liegt weit genug weg von der Gefahrenzone. Trotzdem gibt er uns weitere Adressen und Telefonnummern aus der Gegend. Wir entscheiden uns, erst einmal noch weiter zu fahren. Überall das Gleiche: Camps verboten, aber die Aussage, die Kirchen würden sich den "Atomasylanten" öffnen. Inzwischen haben wir uns weit von Lüneburg entfernt und Dannenberg liegt nicht mehr weit. Also liegt es nahe, gleich bis Dannenberg durchzufahren. Der erste scheinbare Infopunkt der Widerständler erweist sich aus der Nähe als Infopunkt der Polizei, wo wir dann doch nicht nach Unterkunft nachfragen. Die Kirchentür ist noch geschlossen, die des Gemeindehauses steht weit offen - es ist jedoch noch gähnend leer. Also ziehen wir weiter und landen schließlich auf der Infowiese, beim bunten Zirkuszelt - gegenüber der Esso-Tankstelle, die sich als zentraler Anlaufpunkt erweist.

Natürlich gehen wir gleich erst mal zur "Schlafbörse", erfahren, daß eine besetzte Turnhalle einlädt, es aber auch genügend Privatunterkünfte gibt. Wir bekommen gleich eine Adresse in die Hand gedrückt, die uns 3 bis 5 Betten verspricht. Dannenberg liegt auf jeden Fall günstig für alle Anti-Castor-Aktivitäten. Deshalb fahren wir los. Im Auto erkennen wir nicht gleich, daß das Haus ca. 4 km vom Stadtzentrum entfernt ist. Nach kurzer Beratung, ob wir nicht doch lieber zur Turnhalle wollen, bleiben wir jedoch hier. Wir werden herzlich eingeladen in ein eigenes Zimmer mit 3 bequemen Matratzen. Warm und trocken. 3 Stunden hat die Obdachlosigkeit gedauert - nun sind wir besser versorgt als geplant. R. nimmt gleich mein Zelt nach Jena zurück und wir können uns einstimmen. Wir richten uns ein, machen uns mit der Gastgeberin und Hund und Katz im Haushalt bekannt und bekommen einen heißen Tee zum Abschluß des Tages.

Die Konfliktmanager der Polizei tragen einen Button am Hemd der Uniform: "Wir können auch anders".

Das Symbol der Bäuerlichen Notgemeinschaft (siehe Bild nebenan) antwortet:

"Wir können nicht anders!"

 

Weitere Losungen im Wendland:

"Die Politik versagt,
die Menschen handeln!"

 

"Die Saat geht auf!"
(Motto der bäuerlichen Stunkparada mit ca. 400 Traktoren)

 

Der Staat zeigt Härte,
die Menschen zeigen Charakter

 

P.S. Von 150 Konfliktmanagern der Polizei bleiben bis zum 24.3. nur 15 übrig. Der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft kündigt an, die Protestierenden/Blockierenden würden "hart angefaßt". (Presse am 24.3.).

 

Der Verfassungsschutz bescheinigt der Anti-Atom-Bewegung eine "neue Aufbruchstimmung".

Die "Worte der Besinnung" des Seelsorgers in der örtlichen Zeitung beinhalten: "In der nächsten Woche werde ich vor dem Spiegel stehen und zu mir sagen: "Was machst du heute?"

Sonntag, 25.März 2001

Was machen wir heute? Wir sind nicht wie geplant in Wendisch-Evern. Aber wir haben einladende Dannenbergerinnen kennengelernt und das Angebot bekommen, mit ihnen zur Stunkparade, dem legendären Trecker-Treck der Bäuerlichen Notgemeinschaft, zu kommen. In der Treffpunkt-Wohnung erfahren wir, daß der Treck erst später losfährt, weil es Probleme macht, die Menge der eintreffenden Trecker zu koordinieren. Wir wollen unterwegs auf einen vorbereiteten Wagen des Frauenhauses aufsteigen. Nach einem kleinen Trommelkurs wandern wir zum übernächsten Dorf, Splietau, und die Frauen machen trommelnd Stimmung. Es ist lange unklar, wann der Treck kommt - er fährt viel später als geplant los. Es ist ziemlich kalt, aber alle harren aus und immer mehr Menschen säumen die Straßen. Heißer Tee wird herumgereicht. In der Kneipe richten sich die Journalisten mit ihren Laptops ein.

Schließlich sind es nicht 250, wie vor 4 Jahren, sondern 400 Trecker, die das Dorf erreichen. "Unser" buntgeschmückter Frauenwagen ist ziemlich weit vorn. Eine Leiter wird herausgeschoben und wir steigen auf.

Danach können wir uns das schöne Wendland von oben betrachten. Hunderte "X"e aus Holzbohlen, Blumenrabatten, Plasteschleifen und vielen, vielen anderen Formen kennzeichnen den Widerstand. Während der Fahrt trommeln die Frauen weiter und werden von der Straße her begrüßt. Mir ist es eher unangenehm, von oben herabzuwinken. Aber bald sind all die Leute da unten wie gute Bekannte, wir gehören zusammen. Der Trecker hinter uns hupt den Trommelrhythmus mit. Fast triumphal ist der Einzug am Ziel in Hitzacker... Erst hier können wir die einfallsreich geschmückten anderen Trecker und ihre Anhänger bewundern. Ein "Atomklo", Fischer als Strohpuppe, viele Losungen und Aufschriften fallen ins Auge. "Fällt der Bauer tot vom Traktor, ist in der Nähe ein Reaktor", "Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht!"... 1000 Leute tummeln sich zwischen den Treckern. Eigentlich ist es eine richtig schöne, sogar genehmigte, Demonstration. Probleme gibt es erst, als die massiv anwesenden Polizeikräfte eine Ausfahrtstraße abriegeln und auch den Rückbring-Shuttlebus massiv behindern. Wir klettern einfach auf den Hänger eines abfahrenden Treckers. Da wir aus Sicherheitsgründen sitzen müssen, werden wir von draußen nicht gesehen und eine weitere Gruppe von Menschen springt auf den Hänger - und beinahe auf uns. Aber auch sie finden noch Platz.

Der Stunkparade waren massive gerichtliche Entscheidungen über Einschränkungen der Streckenführung vorangegangen. Auch die 50-Meter-Demo-Verbotszone (ab 3 Personen ist man eine "spontane Demonstration"!) entlang der Transportstrecke wird vom Verwaltungsgericht wegen der Befürchtung "einer Eskalation von Gewalttaten...wegen der aufgeheizten Stimmung" bestätigt. Ohne Rechtsgrundlage werden Küchenwagen für die Camps gestoppt. Nur das Gerücht über eine Verfügung über ein eventuelles Campverbot im 5-km-Umkreis (die nie erlassen wird) gilt der Polizei als Handlungsgrundlage! Sogar eine Fraktionssitzung der bündnisgrünen Landtagsfraktion in Pisselberg wird verboten - einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Blockierer machen trotzdem "ihr Ding". Die ersten 500 sind auf den Gleisen und versuchen den Bahndamm zu unterhöhlen.

Leider gibt’s heut noch eine Schlagzeile: Ein Autofahrer aus der rechten Szene fährt in die DemonstrantInnen und überfährt eine 54-jährige Frau.

Montag, 26.März 2001

Ich finde es total spannend, nicht - wie geplant - nur in Camps und recht isoliert von der Bevölkerung zu agieren, sondern direkt zu erleben, wie der Widerstand vor Ort lebt. Auch die DannenbergerInnen lernen uns direkt kennen und erfahren die Unterstützung von außerhalb persönlich. Die Unterstützung besteht hier allerdings nur im "Dabeisein" - deshalb entschließen sich K. und Ka. heute, doch noch nach Wendisch Evern zu fahren. "Jetzt erst recht" wollen sie das Konzept von X-1000-mal-quer unterstützen. Ich möchte lieber hier bleiben, und X-1000-mal-quer dann später hier in Dannenberg verstärken, denn es ist zu erwarten, daß bis dahin nicht mehr alle aus Wendisch-Evern dabei sein werden.

Es spricht die Polizei:

Die Antwort der Wendländer:

Damit ist unsere Bezugsgruppe erst einmal auseinander gefallen. Aber hier gehören sowieso alle irgendwie zueinander. Ich habe gestern auf der Stunkparade eine Frau kennengelernt, die auch zu Gast bei unserer Gastgeberin ist und bin heute eine Weile mit ihr zusammen. Ihre Spezialität ist das Ansprechen der Polizisten an den Sperren - jedoch kann sie sich nicht in größere Gefahrenbereiche begeben. Heute sind Mahnwachen an den Bahnübergängen geplant.

In 50 Meter Entfernung dürfen wir ja stehen - aber heute wollen sich die BürgerInnen Dannenbergs bewußt querstellen. Immer wieder gelangen sie auch auf die Bahngleise. Ich komme mit Ingrid gerade an, als die Polizeiketten die DemonstrantInnen langsam zurückschieben. Ingrid spricht mit den Polizisten.

Gesetze außer Kraft gesetzt, die Polizei aufs Volk gehetzt -
dabei leisten wir nur Widerstand, für das Leben in diesem Land!

Ich tue mich mit R. und T. zusammen und wir zeigen, daß wir mehr wollen, als harmlos herumstehen. R. gelingt es zuerst, durch die Polizeikette zu kommen. Ihr Freund ist zu groß und auffällig und wird hartnäckig abgeschirmt. Dadurch kann ich jedoch noch durchrutschen und plötzlich stehe ich zum ersten Mal in meinem Leben auf "verbotenem Bereich". Bis zu den Gleisen kommen wir nicht mehr. Die Polizeieinheiten werden verstärkt. Die Wasserwerfer werden ausgerichtet. Wir warten - diesmal - nur die zweite Aufforderung ab und lassen uns dann mit "einfacher körperlicher Gewalt" wegschieben. Wir wollens den PolizistInnen nicht zu schwer machen und es lohnt hier auch nicht, Märtyrer zu spielen... I. ist immer noch in Gespräche verstrickt. Der Polizist versucht ihr einzureden, er würde Gewalt (Knüppel) nur einsetzen, wenn aus der Menge heraus Steine oder Molotowcocktails geschmissen würden - und nicht auch sonst auf Befehl. Er wünschte sich, die Demonstranten würden die gewaltbereiten Demoteilnehmer selber festhalten und den Polizisten übergeben.

Ich sehe in der Nähe einen Inlineskater und frage ihn, ob entsprechend der Zeitungsankündigung tatsächlich eine Inlineskaterdemo von Gorleben nach Dannenberg stattfinden wird. Ich hatte gestern schon die Tochter unserer Gastgeberin nach Inlineskatern gefragt und sie hat welche für mich. Glücklicherweise kann mich I. mit dem Auto die 4 km bis zum Wohnhaus fahren, um die Skater zu holen. Nach einigen Problemen mit dem Haushund, der uns nach draußen entwischt, fährt sie mich dann auch noch nach Gorleben. Dort bin ich wieder mal auf die Hilfe der Einheimischen angewiesen, um den Treffpunkt der Inliner zu finden. Sie scheinen genau auf mich gewartet zu haben, denn gerade als ich eintreffe, skaten wir gemeinsam los. 100 TeilnehmerInnen sollen es gewesen sein. Ich bin noch nie 20 km am Stück gefahren und gleich gar nicht mit geborgten, schwerfälligen Plaste-Inlineskatern.

Glücklicherweise verläuft unsere Route elbabwärts - während die uns entgegenfahrende Fahrraddemo etwas bergauf fahren muß. Der Zeitplan kommt etwas durcheinander. Die Demorouten führen durch Splietau, wo wir uns an der Sandsackaktion (Sandsäcke gegen Atomstrahlen) beteiligen wollen. Als wir kommen, ist der Ort schon weiträumig abgesperrt und wir müssen über einen Umweg nach Dannenberg weiter fahren.

Ohne mein regelmäßiges Jogging würde ich diese Tour unter trainierten Inline-Skatern wohl kaum durchhalten. In Splietau muß die Polizei Wasserwerfer und Schlagstöcke androhen, bevor die Demonstranten sich vertreiben lassen. Davon höre ich erst abends, denn I. und die anderen Bekannten waren dort gewesen. Wir hören auch, daß in Wendisch Evern die erste Blockade stattfand und Jochen Stay festgenommen worden ist. Wäre ich besser dort dabei gewesen? Mich fasziniert gerade die Breite des Widerstands und mir ist schon aufgefallen, daß auch die DannenbergerInnen sich freuen, jemanden aus dem recht weit entfernten Jena unter sich zu haben. Auch das setzt Zeichen.

BI Lüchow-Dannenberg zur Sandsack-Aktion:

"Unser Plan: Im Anschluß an die Kundgebung wollten wir in Richtung Verladekran gehen, um unterwegs einen symbolischen Schutzwall aus vielen Tausend Sandsäcken aufzuschichten. Diese Säcke sind bedruckt mit Artikel 2, Abs.2. des Grundgesetzes: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit". Ein symbolischer Wall. Für die Polizei ein lächerliches Hindernis - ein Nichts. Wenig später beiseite geschoben. Wie unsere Grundrechte.

Diese Aktion wurde uns verboten. Weil das Bild zu stark war und die Rolle der Polizei zu deutlich würde. Grundrechte werden mit Füßen getreten, Demokratie soll weiträumig ausgesperrt werden."

Dienstag, 27.März 2001

Auf der Infowiese nehmen wir begeistert zur Kenntnis, daß in Wendisch Evern inzwischen 1500 Leute eingetroffen sind und die Bahnstrecke blockieren. Der Castor-Zug muß inzwischen Göttingen umfahren, weil hier 500 Menschen an und auf den Schienen unterwegs sind.

Gegen Abend bin ich noch einmal an einem Bahnübergang, als dutzende martialisch-schwarzgekleidete Uniformierte an uns vorbeirasen - auf die Infowiese an der Esso-Tankstelle zu.

Sekunden später entdecke ich ein Transparent mit einer Aufschrift, an der ich erkenne, daß hier nicht nur Anti-Atom-Leute zu Gange sind, sondern jene, die weltweit gegen Neoliberalismus und Globalisierung protestieren. Klar, die werden als gefährlich betrachtet und noch bevor die erste Bierdose fliegt, waren die Schwarzen in Trab versetzt worden. Es kommt zu Gerangel, einige werfen sich dazwischen. Von den Polizeikonfliktmanagern habe ich aber keinen gesehen.

Es ist die Spitze eines Demonstrationszuges, der mit einer Kundgebung auf dem Markt von Dannenberg begonnen hatte, die jetzt die Esso-Tankstelle erreicht hat. Eigentlich wird der Castorzug jetzt bald in Dannenberg erwartet. Ich habe mein Gepäck nicht bei mir, schließe mich aber gemeinsam mit I. an. Zwischendurch biegt eine Gruppe Menschen von der Hauptstraße ab und wird nach 300 Metern von Wasserwerfern zurückgetrieben. I. und ich geraten in die rennende Masse. Ich erlebe meinen ersten Wasserwerfereinsatz und bereue es, meine Regenjacke gerade jetzt nicht dabei zu haben. Deshalb entgehen mir ein paar wunderschöne Fotos bunt beleuchteter Wasserkaskaden vor dunklem Himmel. Es geht weiter in Richtung Verladekran, den ich mir tagsüber schon einmal habe zeigen lassen. Die Stelle, wo vor 4 Jahren die x-1000-mal-quer-Leute gecampt und blockiert haben, ist hermetisch abgeriegelt.

Es kann ja keiner sagen, die Polizei sei nicht lernfähig. Das Abriegeln kostet aber Kräfte. Eine Weile versucht die Polizei, diese durch eine Hundestaffel zu verstärken, muß sie aber nach Protesten zurückziehen. Also stehen wir den Polizistinnen und Polizisten wieder direkt gegenüber. Die vorderen Reihen sind ziemlich gesprächsbereit. Von hinten wird zugehört, Leute ausgewechselt... Den PolizistInnen hat man gesagt, daß Säureattacken zu erwarten seien. Später erfahren wir, daß der Anlaß dazu war, daß "in der Umgebung von Dannenberg mehr Essigsäure und Zahnbürsten als sonst verkauft worden wären". Die PolizistInnen versuchen, die "friedlichen Demonstrierer" gegen die "bösen Gewaltbereiten" auszuspielen. Letztlich werden in der abgesperrten Sackgasse 500 m vor dem Verladkran alle zusammen gedrängt.

Irgendwann sind einige auf einer Wiese hinter dem Damm, der die Straße begrenzt. Auf dem Damm selbst ist die Aussicht am besten. Auch ich gelange auf die Wiese hinterm Damm, ein halbfertiges Neubauhaus wird gespenstisch beleuchtet von Polizeifahrzeugen und bald auch von Leuchtgeschossen. Eigentlich passiert nichts weiter. Die Leuchtgeschosse aus den Reihen der Demonstranten zielen in ca. 30 bis 45 Grad in den Himmel, werden 50 m von der Polizeikette entfernt gestartet und nicht etwa den PolizistInnen ins Gesicht. Weiter passiert nichts. Aber wir sind zu nahe am Verladekran, wo man niemanden haben will. Deshalb bekomme ich hier meine erste Wasserwerferdusche.

Glücklicherweise nur eine kleine. Ich muß zugeben, sie haben dreimal gewarnt, ehe es losging. Ich selbst bin dann bald wieder im genehmigten Bereich, auf der Straße hinter dem Damm. Auf dem Damm stehen, wie den ganzen Tag schon, Demonstranten und Zuschauer. Von der Straße aus höre ich nichts mehr von Warnungen. Ich höre nur einen Lautsprecher der Polizei, der einen Pfarrer aus den Reihen der Demonstranten zur Polizeilinie bittet, wohl um Konflikte zu besänftigen. 5 Sekunden später zischt der Wasserwerferstrahl von hinten auf die Dammkrone. Fegt die dort Stehenden mit Gewalt runter - voll drauf auf die Darunterstehenden. Und das Wasser sprüht alle auf der Straße ein - Teilnehmer an einer genehmigten Demonstration, auf einer noch nicht gesperrten Straße. Nach einem Pfarrer fragt dann niemand mehr... Aber einige Leute mehr werden beim nächsten Mal etwas weniger friedvoll im Herzen sein.

Es geht wohl noch länger weiter hier, aber ich gehe mit der Tochter meiner Gastgeberin und ihrer Freundin zurück. Noch ein paar Mal Aufregung - die Kids zieht es immer dahin, wo etwas los ist. Sobald ein Pulk Grüner irgendwo hin marschiert, marschieren die Kids hinterher. Bis knapp unter die Wasserwerferlinie. Sie kriegen das gut hin, ohne naß zu werden. Die Bürgerinitiative hatte zu dieser Kundgebung aufgerufen mit den Worten: "Niemand muß mutiger sein, als er sich fühlt. Aber jeder muß sich entscheiden, auf welcher Seite er steht." Ja, wir haben uns entschieden. Ob Autonomer oder Oma mit ihren Enkeln...

Danach gehe ich zur Esso-wiese und warte auf das Eintreffen der x-1000-mal-quer-Leute, die nach der Durchfahrt des Castor-Zuges hier von Dannenberg aus weiter machen wollen. Sie kommen abends an, durchfroren und erschöpft. Viele gehen zur Turnhalle, manche rollen sich auf dem Platz zum Schlafen zusammen. Ich weiß nicht, wo K. und Ka. geblieben sind. Ka. mußte wohl sowieso eher nach Hause zurück, ob Kathrin noch da ist, weiß ich nicht. Mein Herumfragen bringt nichts. Ich überlege, ob ich nachts mit hier bleibe. Aber da der Castor-Zug wegen der spektakulären Aktion der Robin-Wood-Leute einen Tag Verspätung hat, bringt das nichts. Viele x-1000er wollen nicht lange warten und planen neue Schienenbesetzungen. Dies wird morgen die Menge jener reduzieren, die zum nächsten x-1000-Camp aufbrechen. Erst einmal wird es ruhig...

Ich stelle mich mit einem Anti-Atom-Aufkleber an die Tankstelle, um zur Unterkunft zu trampen. Eine junge Frau hält, läßt noch zwei junge Männer einsteigen und weiß dann überhaupt nicht mehr, in welche Richtung sie eigentlich fahren will/muß.

Am nächsten Parkplatz eines Einkaufszentrums halten wir. Sie ruft ihre Verwandten an, die sie abholen wollen. Ich bleibe bei ihr, damit sie nicht allein ist. Und prompt stehen fünf Minuten später Polizisten vor dem Auto, die eine "Verkehrskontrolle" durchführen wollen. Er sagt, daß sie jetzt bei allen Menschen "erst einmal davon ausgehen, daß sie Gewaltbereite sein könnten...". Jetzt wird mir klar: Das sind nicht mehr nur Schikanen, wie in den Tagen vorher, sondern die haben wirklich Angst vor jeder Bürgerin und jedem Bürger, dem sie hier begegnen! Der Verwandte fährt mich dann noch zu meiner Unterkunft.

Sogar der Polizeidirektor weiß, daß Leute mit Demo-Erfahrung wissen, daß mit "Latschdemos" nichts zu erreichen ist. Deswegen sind andere Aktionen nötig: Greenpeace-Aktivisten besetzen heute vormittag eine Brücke. Abends kommt der Castor-Zug ins Stocken: Bei Bavendorf muß der erste Festgekettete herausgeschnitten werden und Robin-Wood-Leute haben sich bei Suschendorf einbetoniert. Diese Aktion ist es, die den Castor fast einen Tag aufhält!!! Er muß sogar 3 km zurück zum nächsten Bahnhof (Dahlenburg) fahren.

In der Presse erhalten "Chaoten", "Mob" und "Autonome" große Beachtung.

Mittwoch, 28.März 2001

Wir erfahren, daß eine der Robin-Wood-Heldinnen - die 16 jährige Marie - eine Schulkameradin von mehreren Bekannten hier ist. Der Titel in der Bild-Zeitung: "Das dumme Castor-Mädchen" stößt auf Empörung - an der Tankstelle muß die Bild-Zeitung hinter dem Tresen versteckt werden.

Es wird Zeit, daß ich mich auch an einer konsequenteren Aktion beteilige. Es war ja von vornherein geplant, daß die x-1000-mal-quer-Aktionen jetzt von hier aus weiter gehen. Ich stehe vor dem Problem, Anschluß an eine Bezugsgruppe zu finden. Die Esso-Wiese bietet heute ein anderes Bild als an den anderen Tagen. Nicht mehr nur lose Grüppchen, sondern feste Runden sitzen um die Feuerchen. Ich suche Kathrin oder Katharina, finde sie aber nicht. Am X-1000-Mobil gibt es die Möglichkeit, Bezugsgruppen zu bilden oder zu finden. Ich entdecke vorher aber schon R. und T. und schließe mich ihrer Gruppe an. Es scheint eh ziemlich durcheinander zu gehen, viele TeilnehmerInnen der vorigen Tage müssen nach Hause, viele beteiligen sich auch an anderen Aktionen hier vor Ort. Ich komme genau richtig, als bekannt wird, daß wir uns jetzt aufmachen zu weiteren Treffpunkten. Die Autobesatzungen werden eingeteilt und wir haben gerade noch Zeit, kurz etwas zu essen. Deshalb können wir uns nur zwei Lieder von Klaus, dem Geiger anhören. Das ist die richtige Verabschiedung! Die gute Stimmung hält auch noch eine Weile an, als bei der Autofahrt wieder klar wird, daß die Polizei partout kaum jemanden dahin fahren lassen will, wo er hin will. Weder Fremde noch Einheimische. Meine Berliner Mitfahrerinnen sind jedoch clever. Wir gelangen problemlos zum ersten Infopunkt und bekommen hier mitgeteilt, wohin es weiter geht. Wir sind zeitig genug, um auch dann noch über recht passable Wege dort anzukommen. Kurz danach wird der Ort des geplanten Camps, Laase, auch offiziell bekannt gegeben (die Polizeihubschrauber sehen die Bewegungen dahin eh) und ab dieser Zeit wird die Gegend weiträumig abgesperrt.

Inzwischen ist auch klar, daß kein Camp genehmigt wird. Während wenigstens eine ständige Mahnwache beantragt wird, kommen die ersten überraschten Einwohner von Laase mit heißem Tee für uns. Der Wagen mit den Klos ist auch aufgehalten worden - kurz darauf spricht sich herum, wo wir im Dorf aufs Klohäuschen gehen dürfen. Es ist genau so, wie es Jochen Stay aus Philipsburg berichtete: "Es ergab sich folgende Grundregel. Egal, was die Polizei bei uns beschlagnahmt, wir bekommen es in doppelter Menge aus der Bevölkerung wieder. Wer hätte dies vorher gedacht?".

Auch das Dorf Laase war nicht von vornherein ein Widerstandsnest. Aber sie können doch 200 Leute auf ihrer Dorfwiese nicht einsam vor sich hinbibbern lassen! Wir erfahren, daß es genügend Scheunen und Stroh für die Nacht geben wird. Denn uns ist bald klar, daß es wenig Sinn macht, jetzt schon eine Straßenblockade zu machen.

Im Ort findet mein Handy kein Netz, ich gehe 300 Meter aufs Feld. Von dort aus rufe ich bei I. an, um ihr mitzuteilen, daß ich diese Nacht nicht "nach Hause" kommen werde. Und was antwortet I.? "Wo bist Du denn gerade? Wir sind in Laase an der Mahnwache..." ! Sie waren, wie schon immer, hingefahren, wo etwas los war. Deshalb stehen sie jetzt 300 m neben mir. Ich laufe zurück und habe das Glück, aus ihrem Auto noch mit einer Decke und einem Schlafsack versorgt zu werden (die heute in meinem Gepäck gefehlt hatten).

Nach zwei Stunden habe ich die letzten kalten Sonnenstrahlen in mir gespeichert, es wird kühl und es ist günstig, daß ich mich zu einem Postengang gemeldet habe. Wir wissen inzwischen, daß die Polizei das Dorf weiträumig abriegelt. Wer an einer "falschen Stelle" angetroffen wird, bekommt einen Platzverweis, und beim zweiten Platzverweis gibt’s In-Gewahrsamnahme. Man muß genau wissen, wo die 50 Meter von der Transportstraße aus enden - mitten im Dorf. Einige sind wegen einem falschen Schritt eingefangen worden. Aber aus der anderen Richtung wollen noch Leute zu uns, zur Mahnwache - "Camp" darf man jetzt nicht mehr sagen. Sie werden von der Polizei ab- und zurückgewiesen und wir wollen sie aus einiger Entfernung zu uns heran winken. Nach einer Stunde sollen wir abgelöst werden. Wir hatten erfahren, daß die erste Sperre von uns aus nicht sehr weit entfernt sein soll. "Einfach gerade aus - dann seht ihr sie schon". Also gehen wir einfach gerade aus. Wir gehen und gehen und gehen... Die Stunde ist fast um. Als wir schon ans Umkehren denken, begegnet uns das erste Auto. Die Fahrer erzählen uns, daß sie mit Müh und Not auf einem Waldweg in diese Richtung gelangt sind und sind froh, daß wir ihnen sagen können, daß sie auf dem richtigen Weg sind. Deshalb gehen wir noch weiter - vielleicht können wir noch anderen diese frohe Botschaft bringen. Tatsächlich, noch ein weiteres Auto begegnet uns. Sie berichten, daß die Polizei keine Autos mit Campingausrüstung mehr durchläßt. Minuten später kommen uns dann die ersten Wanderer, hochbepackt, entgegen und auch sie freuen sich, von uns bestätigt zu bekommen, daß sie in die richtige Richtung laufen. Wir sehen später ihr Auto, 3 km vom Dorf entfernt, gleich hinterm Polizeiauto stehen. Die Polizeiautos stehen an allen Abzweigen der Straße. Es gibt keinen freien Weg mehr, in den wir jemanden lotsen könnten. Auf dem Weg hierher hat uns kein Polizeiauto belästigt. Wir haben aber hinter uns mehrfach Polizeifahrzeuge die Wege queren gesehen. Vielleicht ist auch uns der Weg zum Dorf abgeschnitten. Wir gehen ein Stück auf der Straße entlang und wollen rückzu einen anderen, parallelen Waldweg benutzen. Nach 500 Metern erreicht uns ein Polizeiauto, das uns von der Straße her gefolgt war. Der leipziger Polizist ist schon sehr genervt. Als wir keinen Grund sehen, uns auszuweisen, haben wir nur Glück, daß er keine Frau im Wagen hat, sonst hätte er uns durchsuchen lassen. So schickt er uns nur den Weg wieder zurück. Wieder ohne rechtliche Begründung. Er spricht sogar eine Art Platzverweis aus, ohne den "Platz" zu benennen. Insofern ist uns außer dem Quadratmeter, auf dem wir da gerade stehen, nichts verboten. Deshalb gehen wir in Ruhe zur Straße und zurück auf den Weg, von dem wir ursprünglich gekommen waren. Eine Weile erwarte ich wieder die Scheinwerfer im Rücken - aber nichts geschieht. Nur vor uns sehen wir wieder Lichter von Polizeiwagen. Wir denken nur kurz darüber nach, im inzwischen dunklen Wald zu verschwinden. Es wäre ja zu peinlich, durch Wärmebildkameras aufgespürt zu werden. So jedoch haben wir eigentlich alles Recht auf unserer Seite.

Wir befinden uns nicht in der verbotenen 50-Meter-Zone, wir sind mitten auf freien Waldwegen und in Richtung eines Dorfes, in dem eine genehmigte Mahnwache stattfindet! Das hatte zwar den Leipziger auch nicht aufgehalten uns den Weg zu versperren - aber nach einer kurzen Beratung war uns klar, daß wir nicht noch einmal umkehren würden. Wenn sie uns schon nicht im Dorf haben wollen, sehen wir keinen Grund, uns woanders ein Bett zu suchen. Dann schon lieber in Gewahrsam übernachten! Inzwischen sind wir 3 Stunden unterwegs, es ist dunkel und sehr windig. Ich habe eine große Blase an den Füßen. Nein, jetzt kann ich gar nicht mehr umkehren! Das nächste Polizeiauto stoppt vor uns. Interessanterweise bin ich jetzt total ruhig. Eine Sekunde lang steht die Welt still. Der Beamte mustert uns. Fragt - mit dem Finger in Richtung Dorf zeigend - : "In diese Richtung?" Als wir sprachlos nicken meint er nur: "In Ordnung, da seid Ihr richtig." - - - R. und ich schauen uns an. Das aufgestaute Adrenalin zischt durch die Adern. Jetzt bin ich zum ersten Mal nicht mehr ruhig. Na gut. Die nächsten Polizeiautos, die uns im Entgegenkommen blenden, können wir fast anfeixen. Wahrscheinlich wollen sie jetzt auch keinen Ärger mehr. Wer von draußen kommt, soll aufgehalten werden - wer schon so weit da ist, soll halt drin bleiben. Glück gehabt. An der Mahnwache hatten sie uns schon mehrfach ausgerufen. Wir suchen den Freund von R. und schauen dabei in alle Scheunen, die recht gemütlich zur Nachtruhe einladen. Glücklicherweise kennt sich R. gut aus und weiß, welche Dorfstraßen außerhalb der 50-m-Zone liegen. Jetzt wäre es zu dumm, noch geschnappt zu werden. Wir finden Platz in einem Schuppen. Ich bin ziemlich k.o. und hülle mich erst mal in den Schlafsack. Nach einer Stunde kommen die SprecherInnen vom SprecherInnenrat zurück und ich muß mich wieder entblättern und fröstelnd zu den anderen stellen. Wir hatten am Nachmittag schon in unserer Gruppe besprochen, wozu wir bereit sein würden, wie die Stimmung und die Möglichkeiten sind. Inzwischen wird der Castor - mit ca. einem Tag Verspätung - in Dannenberg von der Schiene auf die Straße umgeladen und er ist ab frühem Morgen hier auf der Straßenstrecke nach Gorleben zu erwarten. Wir klären noch einmal, wozu wir bereit sind. Grundsätzlich ist "x-1000-mal-quer" auf eine friedliche, gewaltfreie Blockade des Transportweges (was rechtlich einer Ordnungswidrigkeit entspricht) aus. Wir haben gesehen, welches Polizeiaufgebot diesmal verhindern will, daß wir überhaupt auf die Straße kommen und wir wissen, daß nicht alle, die sich beteiligen wollen, bis zu uns durchdringen. Sogar Einheimische kommen nicht heran. Ich lerne zum ersten Mal verschiedene Überlegungen kennen, wie man trotzdem auf die Strecke kommen kann, in welcher Art welche Gruppen wie die Polizeikette durchbrechen können und wie sich jede/r Einzelne daran beteiligen kann. Einige von uns waren in den letzten Tagen an den Schienenblockaden beteiligt. Einige noch nie. Einige sind bereits total erschöpft, andere haben noch frischere Kräfte. All diese Vielfalt soll nun zusammenlaufen in Aktionen, die alle mit tragen können, wo keine/r weiter gehen muß, als sie/er kann und doch jede/r mehr erreicht als wenn sie/er alleine wären. Ich fühle mich sehr aufgehoben hier. Ich kenne kaum jemanden aus meiner Gruppe. Aber ich weiß, daß wir uns aufeinander verlassen können. Wir wissen, daß wir nicht zum Schlafen hierher gekommen sind. Aber wir können uns zur Ruhe begeben, der Weckdienst ist organisiert. Ich schlafe wohl überhaupt nicht. Erstaunlicherweise bleibe ich warm. Das Postenlaufen hat die innere Wärme mobilisiert und mich rettet außer dem Schlafsack von I. eine Rettungsfolie, die mir R. noch gegeben hat. Sobald sich die Folie im Wind etwas verschiebt, wird es dort kalt, wo sie fehlt. Aber ich kann sie fast immer ganz um mich wickeln. Ich lasse die letzten Tage noch einmal durch meine Gedanken ziehen. Egal, was jetzt noch passiert - es war eine wichtige Woche... Ja, die Nacht ist noch einmal ziemlich lang.

"Der Landkreis Dannenberg befand sich gestern in einem unerklärten Ausnahmezustand. Die Polizei sperrte Straßen, kontrollierte Anwohner und Journalisten, leuchtete Höfe aus und ließ die Luft aus den Reifen auf den Feldern anbestellter Traktoren." (Presse am 29.3.)

Auch die Esso-Wiese wird heute unter Androhung von Wasserwerfern geräumt - eine Rache der Polizei für die blamable Verspätung des Transports?

Donnerstag, 29.März 2001

Ich warte auf die ersten Vögel, aber sie bleiben stumm. Es wird hell und alles steht auf. Nein, wir haben den Castor nicht verpaßt, wie die Medien später berichten werden. Wir hatten schon geplant, erst ganz kurz vorher aktiv zu werden und uns nicht schon Stunden vorher abräumen zu lassen. Aufgrund der Sammlung von Meinungen und Stimmungen war nachts noch beschlossen wurden, nicht auf Biegen und Brechen durch die Polizeiketten zu brechen. Gerade mal nicht dasselbe wie immer, sondern flexibel: Diesmal nicht rennen, sondern langsam aber bestimmt gehen. Soweit wie es gewaltfrei geht. Wir erfahren, daß die Polizei jetzt kein Interesse mehr an In-Gewahrsamnahmen hat, denn mit Ankunft der Castoren im Lager Gorleben werden alle wieder entlassen. Jetzt geht es ums Ganze. Sie haben Knüppelbefehl und ihre Nerven liegen blank. Unsere Mahnwachen-Wiese wird total umstellt. Immer mehr Polizisten fahren und laufen heran. Die ersten von uns werden nervös, wollen sich den Polizisten in den Weg stellen. Sie werden von anderen zurückgehalten und auf das Konzept von "x-1000-mal-quer" verwiesen. Ganze 5000 Polizisten hat man für diese Nacht und diesen Morgen noch einmal zusätzlich aus der ganzen Bundesrepublik herangekarrt. Viele davon "bewachen" uns. Es könnte sein, daß wir schon eingekesselt sind. Wir holen die Gummijacken und Planen heraus. Aber auch Presse ist da. Vielleicht schützt uns das. Solange wir keinen Vorwand liefern, muß auch die Polizei stillhalten. Unter uns wird bestätigt, daß die letzten Absprachen: - nicht gehetzt so weit wie möglich gehen - noch aktuell sind. Die armen Polizisten sind nervöser - sie wissen, daß "x-1000-mal-quer" noch auf die Straße will. Und wir gehen auch los. Ich weiß nicht, wieviele wir sind. Zwischen 250 und 300. Nicht alle von "x-1000-mal-quer". Das ist aber jetzt wirklich egal. Ich kann mich zwar nicht orientieren, aber nach einigem Hin- und Her - immer die Polizei hinter und neben uns herschleppend - gelangen wir auf die große Wiese vor der Transportstrecke. Weit aufgefächert gehen wir auf die Straße zu. Dem großen getragenen Holz-X galoppiert die Pferdestaffel der Polizei entgegen. Wir sind ca. 50 m daneben, aber auch uns drängt die Pferdestaffel zurück. Die großen Augen der Tiere schauen entsetzt. Sie wollen Menschen nichts tun und werden doch auf sie getrieben! Bald stehen wir voreinander. Ich muß ehrlich sagen, daß ich vor diesen Pferden weniger Angst habe, als vor knüppelbereiten Polizisten. Wir hatten die Hände - um unsere Wehrlosigkeit zu demonstrieren - gehoben. Bald umschmeicheln sie die Nüstern der verwirrten Pferde. Nur ein Reiter, wahrscheinlich ein höherer Dienstgrad, und eine Reiterin mit langem blonden Haar bleiben auf Konfrontationskurs. Die anderen ReiterInnen haben mit sich und den Pferden zu tun. Eine verrät uns, daß die Pferde schlecht trainiert sind und immer wieder durchzugehen drohen. Na, das gäbe erst Pressebilder! Als die Pferde einmal etwas zur Seite abweichen, drängen wir vor in Richtung Postenkette. Ich bin eine der Vordersten und muß sogar wie abgemacht auf die Gruppe warten. Ein völlig ungewohntes Gefühl: zu spüren, daß ich mehr könnte. Ein Polizist warnt uns: "Sie kommen jetzt wieder mit den Pferden - geht zurück!" Nichts da - wir bleiben. Jetzt stehen wir wieder mal direkt vor den Polizistinnen und Polizisten. Wir singen "gegen die Atomkraft hier im Land... gegen Polizeistaat und Gewalt..." und ich ärgere mich zum ersten Mal im Leben über meine schwache und falsche Stimme. Hinter uns drängen immer mehr Menschen auf die Wiese. 2000 sollen es noch geworden sein. Wir sind selber überrascht, wo die noch herkommen - es war doch alles abgesperrt. Ja, jetzt würde ich durchbrechen. Ich würde es tun, wenn wir nicht etwas anderes beschlossen hätten. Und das nächstemal kann ich mich - aufgrund dieser Erfahrung - auch in der Vorbesprechung mutiger äußern. Die Situation ist für mich eine völlig andere als vor zwei Tagen am Verladekran, als ich zwar in Menschenmassen, aber für mich allein entscheiden mußte, was ich jeden Moment tue...

Kurz bevor die Castor-Transporter kommen, holen die Polizisten auf Befehl die Knüppel heraus. Einer bittet uns: "Macht jetzt nichts mehr, wir müssen sonst zuschlagen." Er hat Glück gehabt. Er braucht sich nicht vorwerfen, auf wehrlose friedliche Menschen eingeschlagen zu haben. Wir hatten etwas anderes beschlossen. Deshalb stehen wir in der vordersten Reihe, als die Castoren vorbeirollen. Einfach so vorbeirollen... Sie werden begleitet von vielen Tränen. Und die Fernsehkamera hält voll drauf. Was die Weinenden zu sagen haben, werden sie später nicht mit senden.

Als wir ins Dorf zurückkommen, erwartet uns in der Scheune wieder heißer Kaffee und Tee. Unsere Gruppe wertet die letzten Stunden aus. Die Tränen sind versiegt. Angesichts des Kräfteverhältnisses konnten wir nicht mehr tun. Angesichts dieses Kräfteverhältnisses - das gesamte Wendland wurde polizeilich besetzt - war der Widerstand insgesamt gewaltig. Die Zerstreuung der Camps konnte dem sowieso dezentral angelegten Widerstandskonzept nicht viel anhaben. Obwohl von 1500 "x-1000-mal-quer"-Leuten hier in Laase nur noch ca. ein Fünftel angekommen war und die Gruppen mehrmals durcheinander gewirbelt worden waren, hat sich die Bezugsgruppenstruktur grundsätzlich bewährt. J. betonte, daß sie "ganz sie selbst bleiben konnte, aber in der Gruppe den nötigen Rückhalt und Stärke fand". Die Polizei bildet sich ein, uns durch "Finten legen" und den Überraschungseffekt ausgetrickst zu haben. Nein, es war unsere Entscheidung, uns nicht massenhaft wegknüppeln zu lassen - denn dies wäre es geworden, wenn wir auf die Straße gedrängt wären. Falls es wieder einmal so kommt, wird es Menschen geben, die auch dies auf sich nehmen; nur um hämische Meldungen zu verhindern, daß "die wenigen Proteste effektlos geblieben" wären.

Gerade hier in Laase bewährte sich wieder einmal die Verbundenheit mit der örtlichen Bevölkerung. In unserer Auswertung halten wir fest, daß wir uns bereit erklären, den hiesigen Bauern durch einen Arbeitseinsatz die eventuell durch uns zerstörten Bodenkulturen ersetzen zu wollen. Es geht nun alles ganz schnell. Sogar mein Gepäck ist inzwischen schon im Sammelauto und ich muß ihm in Dannenberg auf der Esso-Wiese hinterherlaufen. Meine Gastgeberin holt mich mit dem Auto ab und bald kann ich mich zum ersten Mal nach vielen Tagen in eine heiße Badewanne begeben und die Sachen wechseln. Ausschlafen ist jetzt auch bald fällig...

"Die erfolgreichen Proteste gegen die Castor-Transporte sind thematisch und regional eng begrenzt. Trotzdem sind sie ein ermutigendes Beispiel für die Möglichkeiten sozialen und politischen Widerstands hierzulande." (R. Balcerowiak in Junge Welt. 29.3.2001)

 

"Da immer mehr Menschen die Festlichkeiten zum Tag X zu schätzen wissen und sich aktiv ins Spielgeschehen einbringen, wird es für die Drahtzieher der Castor-Wahns zusehends schwieriger, als Sieger aus dem großen Geländespiel hervorzugehen."

 

Gezeichnete Bilder aus:
Ein kleiner Leitfaden durch Sitten und Gebräuche des Wendlandes aus der Zeitung Restrisiko

Dieser Text kann ergänzt werden unter:
http://www.opentheory.org/proj/castor

 

Mehr Wissenswertes zum Castor-Transport

Warum Querstellen? *
Wendländische Bauernregeln *
Die konkrete Gefahr *
Zu den verschiedenen Widerstandsformen *
Die Rechtslage *
Zur Kriminalisierung des Protestes *
Meinungen aus LeserInnenbriefen der örtlichen Elbe-Jeetzel-Zeitung *

Hinter dem Castor steht das System (Jörg Bergstedt)


Zum Castor-Transport 2008


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