Von der Meinung zur Idee

Ich bevorzuge einerseits Situationen, in denen alle Interessierten selber denken und sich "ihre Meinung" bilden können - andererseits habe ich aber selbst den Anspruch, das "Wesen" der Sachverhalte zu durchdringen, sie auf den "Begriff" zu bringen. Das Verharren in gleichgültig nebeneinander oder gegeneinander stehenden Meinungen wäre Relativismus. Das andere Extrem wäre eine dogmatische Einigung der Meinungen in einem geschlossenen Ableitungssystem. Wodurch wäre ein angemessenes Vorgehen gekennzeichnet?

1. Die Meinung

Aussagen über konkrete, sinnliche Sachverhalte beinhalten bereits einen Bezug zum Sprecher. Sie transportieren Bedeutungen.

 

Bedeutungen wirken vermittelnd zwischen dem handelnden Individuum und seiner Umgebung (Lenz, Meretz, S. 59). Der konkret mögliche Weltbezug ist durch die gesellschaftliche Lebens- und Reproduktionsweise der Menschen durch objektive Bedeutungsstrukturen (Holzkamp, S. 229f.) charakterisiert. Diese stellen die Grundlage für objektive Gemeinsamkeiten von individuellen Bedeutungen dar, von denen ausgegangen werden kann. (Hier zeigt sich bereits eine "Rückwirkung" der Einheit von Objektivem und Subjektivem aus 4.).

 

Diese Bedeutung von Meinungen ist nicht gebunden an bewußte Begründbarkeit. Sie ist nicht als notwendig nachgewiesen (begründet) und insofern "zufälliger Gedanke" (Hegel VL,S. 18) und für Hegel unwichtig.

 

In Diskussionen können sie uns aber beim gegenseitigen Verständnis sehr helfen.

  • Oft kommen wir weiter, wenn wir uns auf den impliziten Bedeutungsgehalt der Meinungen beziehen. Das Hinterfragen der Voraussetzungen der Vorstellungen gehört dazu (wie bei Sokrates, vgl. Hegel, VL, S. 375).
 

Eine zusätzliche Verwechslungsgefahr ist noch vorhanden. Während Symbole selbst Bedeutungen sind, dienen Zeichen lediglich als sinnliche Hülle und sind beliebig vereinbar (Lenz, Meretz, S. 73f.). Die symbolische Dimension der Sprache verweist auf Bedeutungsstrukturen - während die zugeordneten Zeichen und Worte in ihrer Verwendung oft mißverständlich sind.

  • Eine Klärung der Bedeutungen ist hier hilfreich.

(Abb.: Casswell bei Benking)
 

Zusätzlich jedoch ist der Hintergrund der jeweiligen Bedeutungsgebung wichtig. Wenn Personen bei empirischen Sachverhalten aneinander "vorbeireden", sollte der begriffliche Hintergrund abgeklärt werden, (was erst mit dem Wissen aus dem Punkt 3. möglich ist) - Unterschiede auf dieser Ebene erklären sich durch i.a. durch unterschiedliche Auffassungen über das Wesen der Erkenntnis, die vielleicht noch im theoretischen Gespräch abklärbar sind. Die Stellung und Interessen in den realen gesellschaftlichen Prozessen jedoch ist nur noch über lebenspraktisch übergreifende Prozesse in Einklang zu bringen (nach Holzkamp S. 29ff.):

 

(Abb: Casswell bei Benking)

 

2. Von der Meinung zum Wesen

  • In einer erörternden Diskussion (Erörterungen der Voraussetzungen des Gemeinten/ der Vorstellungen) wird es demzufolge möglich sein, das Gemeinsame von verschiedenen "Meinungen" herauszuarbeiten.
  • Ebenso wichtig ist es jedoch, die Unterschiede möglichst klar zu benennen.
  • Weiterführend ist dann das Aufzeigen der in den Bestimmungen selbst enthaltenen Widersprüche (vgl. Sokrates).

"Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn außerhalb seiner selbst anzugreifen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht." (WdL II, 250)

Im Wesen erfassen wir die (verborgen in der Erscheinung steckenden, nur durch Überlegung zugänglichen) inneren und bleibenden Bestimmungen des Sachverhalts. Wir erhalten sie als Antwort auf die Frage: Was bleibt erhalten, wenn sich der Sachverhalt bis an die Grenze seiner Aufhebung verändert? Oder: Wodurch existiert der Sachverhalt, was ist der Grund dafür? Oder: Was kennzeichnet den Sachverhalt gegenüber dem Früheren als völlig neu?
Wir können dann die gefundenen Bestimmungen aufzählen, sie bleiben im Wesen sowieso nur relativ gegeneinander (Enz I., S. 231).

Schauen wir uns die Wesen kennzeichnenden Bestimmungen genauer an, sehen wir deutlich, daß die Unterschiede zwischen ihnen aber nicht gleichgültig gegeneinander sind. Sie verhalten sich sogar gegensätzlich (WdL II, 151, 157).

Solange wir nicht genügend Bestimmungen der untersuchten Sachverhalte kennen, die ihr Gesetz "in sich ruhen" lassen (d.h. vollständig in dem Sinne sind, daß ihre gegensätzlichen Verhältnisse in autopoietischer Weise den Sachverhalt entstehen lassen) haben wir den "Gegenstand" unserer Erkenntnis noch nicht ausreichend definiert.

 

Dabei ist die Festlegung des Erkenntnisgegenstands bereits ein Ergebnis wissenschaftlichen Denkens, denn in den empirischen Daten ist der "Gegenstand" nicht einfach gegeben, sondern bestimmt sich nach den Kategorien/Begriffen (Holzkamp, S. 34).

 

Gesetze sind der Grund für das Existierende - wissenschaftliche Begründung hat deshalb das Erkennen von Gesetzen als Inhalt.

 

Wissenschaft orientiert also weder auf Dogma noch Beliebigkeit. Sie zielt auf die Erkenntnis der Bestimmungen in ihrer Vollständigkeit und das Verstehen ihrer gegenseitigen (prozessualen) Beziehungen im Gesetz.

 

3. Vom Wesen zum Begriff

Im Gesetz (wesentliche Beziehung) sind zwei Inhaltsbestimmungen als wesentlich miteinander verbunden. Jedes von ihnen ist aber nicht durch das andere bestimmt (WdL II, S. 155).

 

Zeit und Raum sind im Fallgesetz miteinander verbunden, existieren aber (im Rahmen der klassischen Physik) ansonsten auch unabhängig voneinander (der Begriff des Raumes ist nicht in dem der Zeit enthalten und umgekehrt).

 

Wir können auch das Gesetz selbst bisher nicht als notwendig begründen. Dies ist erst möglich durch den Begriff (Enz. I., S. 313). Gesetze sind dann lediglich besondere Bestimmungen des Begriffs (Enz. I., S. 313).

Im Begriff sind die Bestimmungen nicht mehr nur in ihrem Zusammenhang benannt, sondern jeder seiner Momente kann nur unmittelbar aus und mit den anderen gefaßt werden (Enz I., S. 314).
Mit dem Begriff kommt Vernunft in die Welt, denn er zeigt alle vom Verstand als fest angenommenen Gegensätze als Übergehende (WdL II, 560).
Im Begriff als Totalität ist jedes der Momente selbst das Ganze (Enz.I, 307).

Jeder Begriff ist in seiner Totalität die Ursache seiner selbst. Mit Schelling ist "das Durch-nichts-Bedingte" gleichzeitig "das durch Freiheit Wirkliche" (Schelling 1795 ,S. 67, vgl. Hegel Enz.I, S. 84).
Dabei enthält jede einzelne Bestimmung als besondere alle anderen Bestimmungen des Begriffs. Das Einzelne und Besondere enthält das Allgemeine - das begriffliche Allgemeine ist nicht abstrakt, sondern enthält das Besondere und wird im Einzelnen zum Subjekt.

Der Begriff ist "die aus der Wechselwirkung resultierende Totalität" (WdL II, 251). Er kennzeichnet das "wahre Allgemeine" als den "je konkreten Bewegungskomplex, in den das Einzelne real eingebunden ist (Wagenknecht, S. 79).

  • Zum Begriff führt deshalb nur die vollständige Betrachtung der Wechselverhältnisse selbst. Dies kann aber nicht abstrakt allgemein erfolgen, sondern nur über das konkrete Besondere.

Wäre das Allgemeine ein Abstraktes, so würde das Besondere ihm äußerlich und beliebig sein (VLI, S. 390). Der konkrete Bewegungskomplex - das Allgemeine - steht dem Einzelnen nicht äußerlich gegenüber, sondern wird durch deren Bewegungsprozeß gebildet (Autopoiese).

"Begreifen" bedeutet dabei, den Inhalt als notwendig nachzuweisen.

 

Die Notwendigkeit bezieht sich dabei nicht auf einzelne Geschehnisse und Sachverhalte, sondern auf die Beziehungen, die das Möglichkeitsfeld aufspannen.

 

"Während es der Intelligenz nur darum zu tun ist, die Welt so zu nehmen, wie sie ist, so geht dagegen der Wille darauf aus, die Welt erst zu dem zu machen, was sie sein soll." (Enz.I, 386).

 

Hegel betont, daß "das unbefriedigte Streben verschwindet, wenn wir erkennen, daß der Endzweck der Welt ebenso vollbracht ist, als er sich ewig vollbringt. Dies ist überhaupt die Stellung des Mannes, während die Jugend meint, die Welt liege schlechthin im argen und es müsse aus derselben erst ein ganz anderes gemacht werden." (Enz.I, S. 387).

Weil das Lebendige im Anderen nur mit sich selbst zusammen geht (Enz.I., 376), kann das Bewußtsein als Vernunft "die Realität in Ruhe ertragen, denn es weiß, daß die Wirklichkeit nichts anderes ist als es" (Phän. S. 157). Auch mein Anders-Wollen gehört damit zu dieser Wirklichkeit:

"Der einzige Umstand, daß wir existieren, daß wir etwas anderes denken und wollen, als das, was existiert, ist für uns ein Grund zu hoffen"(Weil, S. 136).

Hegel zieht jedoch einen strikte Trennung zwischen diesem Wollen und der Philosophie: "... wer wäre nicht so klug, um in seiner Umgebung vieles zu sehen, was in der Tat nicht so ist, wie es seinsoll? Aber diese Klugheit hat unrecht, sich einzubilden, mit solchen Gegenständen und deren Sollen sich innerhalb der Interessen der philosophischen Wissenschaft zu befinden. Diese hat es nur mit der Idee zu tun, welche nicht so ohnmächtig ist, um nur zu sollen und nicht wirklich zu sein, und damit mit einer Wirklichkeit, an welcher jene Gegenstände, Einrichtungen, Zustände usf. nur die oberflächliche Außenseite sind." (Enz.I, S. 49).

Dies kritisiert Bloch und ergänzt als Kategorie des "Noch-Nicht-Gewordenen" den Vor-Schein, in dem das Subjektive als Treibendes erhalten ist. Dieser Vorschein objektiviert sich zuerst in Kunst und hebt ihn dadurch ins Bewußtsein und den Horizont bewußten Handelns der Menschen.

Literatur:

Benking, H., Embodying Situations & Issues, Sharing Contexts, and Encouraging Dialogue, online in:
http://www.ceptualinstitute.com/genre/benking/ifsr/IFSRnov98pp.htm, mit Abb. Von T.Casswell
Fichte, J., G., "Die Bestimmung des Menschen", Reclam Leipzig, 1976
Hegel, G., W., F., (VL) Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Erster Band, Leipzig 1982
Hegel, G., W., F., (WdL I) Wissenschaft der Logik I, Werke Band 5, Frankfurt am Main 1986
Hegel, G., W., F., (WdL II) Wissenschaft der Logik II, Werke Band 6, Frankfurt am Main 1986
Hegel, G., W., F., (Enz. I) Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Erster Teil, Werke Band 8, Frankfurt am Main 1986
Hegel, G., W., F., (Phän.) Phänomelogie des Geistes, Hamburg 1988
Holz, H., H., Einsatzstellen der "Ontologie des Noch-Nicht-Seins", in: Materialien zu Ernst Blochs "Prinzip Hoffnung", hrsg. v. Schmidt, B., Frankfurt/Main 1978, S. 263-260
Holzkamp, K., Zum Verhältnis zwischen gesamtgesellschaftlichem Prozeß und individuellem Lebensprozeß, in: Streitbarer Materialismus, Diskussionssonderband 6 der Zeitschrift "Konsequent", Westberlin 1984, S. 29-40
Holzkamp, K., Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/Main, New York 1985
Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, Hamburg,1993 (nach Ausg. B)
Lenz, A., Meretz, St., Neuronale Netze und Subjektivität. Lernen, Bedeutung und die Grenzen der Neuro-Informatik, Braunschweig/Wiesbaden 1995
Marcuse, H., Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. München 1998
Schelling, F.W.J. (1795): Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (in Ausgew.Schriften, F.a.M. 1985, Band 1)
Schelling F.W.J. (1800): System des transzendentalen Idealismus, Leipzig, 1979
Schelling F.W.J. (1804): System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, in Ausgew. Schriften, F.a.M. 1985, Band 3
Schelling F.W.J. (1809): Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Stuttgart 1964
Wagenknecht, S., Vom Kopf auf die Füße? Zur Hegelkritik des jungen Marx oder das Problem einer dialektisch-materialistischen Wissenschaftsmethode, Pahl-Rugenstein, Bonn 1997
Weil, S., Unterdrückung und Freiheit, Politische Schriften, München 1975
Zimmermann , R., E., The Klymene Principle. A Unified Aproach to Emergent Consciousness, Philosophy Preprints PP 981201, IAG Phil. Grundlagenprobleme, FB 1, Universität-Gesamthochschule Kassel, 1998

Eigentlich wollte ich nur einige Beiträge zu einer Fragestellung in einer Internetdiskussion einbringen. Es zeigte sich aber wieder einmal, daß zum Begreifen jedes kleinen Gedankenkomplexes der "ganze" Hegel notwendig ist.

nebenbei:

... wegen der Ausführung desselben darf ich... noch erwähnen, daß meine Amtsverhältnisse und andere persönliche Umstände mir nur eine zerstreute Arbeit in einer Wissenschaft gestatten, welche einer unzerstreuten und ungeteilten Anstrengung bedarf und würdig ist. (Hegel 1816, in WdL II,S.244))

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