Zu Gast im Philosophenstübchen:

Eine Rezension von Werner Braeuner:

Überwachen und Strafen -
die Geburt des Gefängnisses

Wir leben in einer ARBEITsgesellschaft heißt es oft. Jenes vielgehörte Wort will wohl sagen, das Allerwichtigste in unserer Gesellschaft wäre die Arbeit. Der Franzose Michel FOUCAULT (1926 - 1984) sah das anders. Er behauptete, wir würden in einer DISZIPLINARgesellschaft leben. Denn der Mensch solle ja nicht nur arbeiten, sondern noch viele andere Dinge tun. Dahin würden die Menschen vom Staat diszipliniert werden, und deshalb eben hätten wir eine Disziplinargesellschaft.

Um die angestrebte Diszipoin herzustellen, müsse der Staat überwachen und strafen können. So veröffentlichte M. Foucault im Jahre 1975 das bald in viele Sprachen übersetzte Buch

ÜBERWACHEN UND STRAFEN
und kleiner darunter steht auf dem Einbanddeckel noch:
Die Geburt des Gefängnisses
Das Gefängnis ist nach Ansicht Foucaults eine Art von medizinischem Labor, nur daß darin keine Mäuse, sondern Menschen gehalten werden. Im Gefängnis kann experimentiert werden, man kann dort genau überwachen, ob das Strafen auch den gewünschten Erfolg hervorbringt, nämlich gute (disziplinierte) Staatsbürger heranzuziehen.

Michel Foucault zeichnet nach, wie die Geburt des Gefängnisses aussah. Sie dauerte rund 20 Jahre, von etwa 1800 - 1820. Überall in Europa wurden damals unzählige Gefängnisse gebaut. Diese sahen anders aus als die düsteren Verliese in der Zeit davor. Die neuen Gefängnisse waren licht- und sichtdurchflutete Überwachungsmaschinen. Ungeführ ab dem Jahr 1840 lief der Betrieb in den Gefängnissen ganz so wie heute: Pflichtarbeit, Disziplinarmaßnahmen, ärztlich-psychologische Behandlung und Überwachung, Begutachtung der Entwicklung des Gefangenen, eventuelle vorzeitige Entlassung bei guter Führung, Lockerungen und so weiter... Und schon damal stellte sich heraus, wie unfähig das Gefängnis ist, gute Staatsbürger heranzuziehen. Schon bald erkannte man, daß die Gefangenen durch das Gefängnis sogar immer krimineller wurden. Folglich war der allererste Schrei dieser neugeborenen staatlichen Einrichtung der Schrei nach Reform.

So viel man bis heute auch reformierte, so ergab sich doch immer wieder das selbe Ergebnis: Durch das Gefängnis erschafft der Staat eine von der übrigen Gesellschaft klar abgegrenzte Gruppe von Menschen, die sogenannte "Kriminalitätsbevölkerung". Mit deren Ab- und Ausgrenzung wurde der Weg frei, den vom Gefängnis erschaffenen "kriminellen Delinquenten" als ABARTIG, als KRANK und PATHOLOGISCH abzustempeln: In der Folge kam es nicht mehr so sehr auf die begangene Straftat an, sondern auf den Nachweis eines persönlichen Entwicklungsweges, der als typisch für den Delinquenten entdeckt werden konnte.

Michel Foucault beschreibt, wie der Staat nach und nach um das Gefängnis herum eine Vielzahl spezialisierter Einrichtungen schuf, die dem Gefängnis verblüffend ähnelten: Erziehungsheime (in die hinein meist die Kinder der Gefangenen kamen), Therapieeinrichtungen, Psychiatrien und so weiter... Nun konnte die Behauptung einer pathologischen Abartigkeit und Andersartigkeit des "kriminellen Delinquenten" mit typischen Stationen seines Lebensweges weiter untermauert werden. Der Kriminelle wurde so in den Augen der Öffentlichkeit immer weiter zum Begriff einer furchterregenden Figur ausgemalt. Diese Figur beging immer die selben Straftaten: Diebstähle, Betrügereien, Straßenraub, Körperverletzungen und Suchtmittelmißbrauch.

Das sah Michel Foucault so: Was könnten sich die großen Verbrecher aus der ehrenwerten Gesellschaft Besseres wünschen? Denn diese werden nun von der allgemeinen Öffentlichkeit nicht als kriminell wahrgenommen. Kavaliere begehen Kavaliersdelikte, denken gute (disziplinierte) Staatsbürger! Darüber hinaus kann ein sozial isoliertes und staatskontrolliertes Milieu von typisierten "Delinquenten" den Herrschenden noch etliche andere nützliche Dienstleistungen anbieten.

All dies und vieles andere steht in dem Buch des Hochschullehrers aus Paris, dessen Lebensmotto lautete: "Wirklich traurig wäre allein, nicht zu kämpfen."

Michel Foucault:
Überwachen und Strafen - Die Geburt des Gefängnisses.
Suhrkamp - Taschenbuch, 397 Seiten, 11 Euro

JVA Meppen, 21.12.2002 - Werner Braeuner

 
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