Kosmologie – Theologie – Philosophie

 

Auf der wissenschaftlichen Tagung der Gesellschaft zur Förderung der Religion/Umweltforschung e. V. zu ihrem 10jährigen Bestehen sowie zum 75. Geburtstag ihres Vorsitzenden, Prof. Dr.Manfred Büttner Anfang Juli 1998 in Bochum habe ich einen Vortrag zu diesem Thema gehalten, der mittlerweile auch in Band 5 der Reihe Geographie im Kontext beim Lang Verlag ("Beziehungen zwischen Religion/Geistshaltung/ und wissenschaftlicher Umwelt/Theologie, Naturwissenschaft und Musikwissenschaft) erschienen ist.

Diesen Vortrag habe ich genannt Wie theologisch ist die Kosmologie? Fragen und Erwägungen eines Nicht-Theologen

Nach einigen einleitenden Bemerkungen, in denen ich u.a. mein heutiges Verständnis von Marxismus und Materialismus bestimme, behandele ich folgende Einzelthemen:

– Philosophie, Theologie, Naturwissenschaften

– Neues im Verhältnis von Theologie, Philosophie und Wissenschaft

- Selbstorganisation, Evolution und Singularität
- Renaissance der christlichen Physik?
 

Den ganzen Beitrag will ich hier nicht abdrucken, sondern mich auf einige Aspekte konzentrieren, und zwar auf das Thema Singularität im Zusammenhang mit der sog. Lückenbüßer-Problematik in der Beziehung von Theologie und Naturwissenschaft:

Ich will hier keinen Vortrag über Selbstorganisation und Evolution halten. Ich will nur sagen, daß durch diese neuen Theorieansätze nicht nur in den betreffenden Naturwissenschaften eine neue Entwicklungsetappe eingeleitet worden ist, sondern auch für die materialistische Philosophie und die Theologie(n) in ihrem jeweiligen Verhältnis zu diesen Wissenschaften.

Die Ausgangssituation war dabei ganz verschieden – oder sie schien es wenigstens zu sein:

1. Hatte der Materialismus schon immer die Auffassung vertreten, die Welt sei Ursache ihrer selbst (causa sui), sie sei in ständiger Bewegung und Entwicklung begriffen, so konnten nun Selbstorganisation und Evolution als Anwendungsfälle von Dialektik und Materialismus systematisch ohne Schwierigkeiten angenommen werden. Wechselhafte Mehrheiten 
z. B. in der Auseinandersetzung um den Darwinismus sollten nun der Vergangenheit angehören, "dialektische Sprünge" durch Singularitäten belegbar werden, usw.

2. Hatten Theologien dagegen in der Regel ein Schöpfungskonzept (creatio ex nihilo, providentia) vertreten und Evolutionstheorien zumeist abgelehnt, mußten Selbstorganisation und Evolution auf den ersten Blick als kontra-religiös erscheinen. Sprachen noch klassische Kosmologien (Wärmetod-Konzept, Urknall-Theorie) eher für theologische Thesen zur Genesis, so tauchten nun kosmologische Modelle auf, die erneut ohne Gott als Schöpfer auskamen oder aber Gott mit der Selbstorganisation selber identifizierten. Da stand dann die Auseinandersetzung mit dem Pantheismus an, usw.

Sehr schnell zeigte sich, daß diese Gegenüberstellung prinzipiell nicht richtig ist. So wie der Materialismus in neue Schwierigkeiten geriet (bzw. die "alten" nicht völlig ausräumen konnte – Urknall, Lebensentstehung), konnten Theologen und Physiker den neuen Theorien auch neue theologische Interpretationen unterlegen. Ich hatte nach der Wende die Gelegenheit, solche Anstrengungen in Veranstaltungen der ESSSAT (European Society for the Studies of Science and Theology) zu beobachten. Die Selbstorganisation und Evolution im Universum läßt sich sogar mit der providentia zusammenbringen (Gott ist nicht nur Schöpfer zu Weltenbeginn, sondern auch Weltenlenker zu jeder Zeit, die Schöpfung ist mit der Weltentstehung nicht abgeschlossen). Gleichzeitig muß sich vor allem die evangelische Theologie erneut verstärkt mit dem Thema der natürlichen Theologie beschäftigen.

Diese Situation ist durch eine neue Erscheinung noch verstärkt worden: Die Entdeckung der Singularität durch systematisch vorgehende Wissenschaften. Solche individuellen, streng genommen nicht wiederholbaren natürlichen Ereignisse treten im Zusammenhang mit modernen Forschungen zur Evolution und Selbstorganisation deutlich in das Blickfeld: Der Urknall, wenn es ihn denn gab (und wenn es sich dabei tatsächlich um eine Singularität handelt), die Entstehung des Lebens auf unserem Planeten, die Entwicklung des Menschen, historische Einschnitte in der Gesellschaftsentwicklung wie gravierende Einschnitte im Leben jedes einzelnen Menschen – von der Geburt bis zum Tod.

Im vergangenen Jahrhundert waren Wissenschaften, die sich mit einmaligen Ereignissen beschäftigten, noch aus dem Kreis der exakten Wissenschaften ausgeschlossen worden. Heute sind Kosmologie, Geologie, Evolutionsbiologie, Ingenieurwissenschaften u. a. mit dem Phänomen der Singularität unmittelbar – und nun auch theoretisch – konfrontiert. Abstrahiert der klassische Theoriebegriff vom einzelnen Ereignis und führt er über eine Verallgemeinerung zu Voraussagen für eine ganze Klasse von möglichen Ereignissen, geht es jetzt auch um das Einzelne – und damit näher heran an die reale Wirklichkeit. Dabei geraten die Wissenschaften an die Grenze ihrer Gegenstände wie ihres Selbstverständnisses. Besonders dramatisch ist es in der Physik. Aus der Relativitätstheorie läßt sich die Existenz von Singularitäten ableiten – von Punkten unendlicher Dichte und unendlicher Raum-Zeit-Krümmung, und das sind schon sehr merkwürdige "Gegenstände", mit denen die Physik eigentlich nichts anfangen kann und wo ihre Theorien ihre Gültigkeit verlieren.

Das führt zu unterschiedlichen neuen Modellansätzen in der globalen Relativitätstheorie bzw. Kosmologie, nicht selten aber auch zu "theologischen" Antworten. Wenn die Standardinterpretation der kosmologischen Evolution zu dem Ergebnis kommt, daß vor dem Urknall "nichts" war, keine Materie, kein Raum und keine Zeit – dann ist das vielleicht ein Beleg für die creatio ex nihilo, usw.? Theologisch-religiöse Positionen zur Schöpfungsgeschichte scheinen physikalisch belegbar zu sein und eine natürliche Theologie könnte wieder hoffähig werden.

Wie gesagt: Früher scharf bekämpfte Theorien wie die der Evolution werden mittlerweile zu Bestätigungen einer creatio continua und zur physikalischen Konkretisierung der providentia als Ausdruck eines auch heute noch allgegenwärtigen und aktiven Schöpfers. Es erscheint aber auch als denkbar, daß Gott eine Welt geschaffen hat, die er mit den Prinzipien der Evolution, und damit auch mit dem Prinzip Zufall ausstattet und nun sich frei entfalten läßt.

Ob es sich dabei immer noch bzw. wieder um die alte Logik des Argumentes handelt, das Gott als erklärenden "Lückenbüßer" in wissenschaftlich nicht klärbaren Fragen einsetzt, und die ja mittlerweile von den meisten Theologen abgelehnt worden war, ist für mich schwer zu klären. Jene Logik geht ja davon aus, daß die Welt insgesamt rational erklärbar sein muß; und wenn das die Wissenschaften alleine nicht können, dann muß eben Gott als erklärende Ursache herhalten. Gleichzeitig ist das dann ein Beleg für die Existenz Gottes.

Diese Logik – das könnte man einwenden – gilt freilich unter der Voraussetzung, daß die Wissenschaften "eigentlich", prinzipiell ohne die Theologie auskommen. Eine richtige wissenschaftliche Erklärung ist uns allemal lieber – Gott als Lückenbüßer. Nomen est omen...

Lassen wir diese Voraussetzung fallen – etwa mit einer Betonung der Rolle von Singularitäten im Naturgeschehen, die nicht auf allgemeine Gesetze zurückgeführt werden können, dann ist das "Finden" von Gott in der Natur nicht mehr unbedingt das Resultat einer Lückenbüßer-Argumentation. Es gibt deshalb wohl eine – eher systematische als unbedingt historische – "Entwicklung" der Lückenbüßer-Logik:

– Gott wird als Naturkraft eingesetzt, wenn die verfügbare Theorie für einen bestimmten Fakt keine Erklärung liefert (so löst z. B. Newton bestimmte Gravitationsprobleme im euklidisch-unendlichen Weltall, oder Gott ist die Entstehungsursache hochkomplexer biologischer Organismen, oder Gott löst den Urknall aus, da die Kosmologie keine physikalische Ursache für den Urknall angeben kann). Historische Erklärungsgrenzen werden dabei (vorschnell?) für prinzipielle wissenschaftliche Erkenntnisgrenzen gehalten.

– Der Übergang von der klassischen Physik zur Quantenphysik bzw. Relativitätstheorie wird genutzt, um für Gott einen "Raum" zu finden, in dem er existieren kann, ohne mit den (klassischen?) Gesetzen der Physik in Konflikt zu geraten (Karl Heim). Hier ist nicht ein einzelnes Problem, sondern ein neues, mit der alten Physik nicht verträgliches Paradigma die Lücke.

– Jene Logik taucht unter der Bedingung von Zufällen und Singularitäten mit neuer Legitimation wieder auf: es sind – aus heutiger Sicht – nicht mehr historische Erkenntnisgrenzen, die für göttliches Wirken sprechen, sondern mit einiger Begründung scheint es sich nun wirklich um prinzipielle Erkenntnisgrenzen der Wissenschaften zu handeln (wie eben das "Zusammenbrechen" der physikalischen Theorie bei unmittelbarer Annäherung an den Urknall, die Rolle von Zufällen im Naturgeschehen, die es schwierig macht, Verletzungen von Naturgesetzen zu erkennen, usw.)

– Wenn nun auch Singularitäten Gegenstand wissenschaftlicher Theorienbildung werden können (so wie das St. Hawking annimmt), fällt auch die Möglichkeit einer solchen Lücke weg.

Kitty Ferguson sagt, es sei "heute intellektuell nicht mehr vertretbar, den Unglauben lediglich auf die Annahme und die Hoffnung zu gründen, daß die Wissenschaft schließlich doch noch zu umfassenden Erklärungen gelangen wird. Wir gestehen uns eine Art Pattsituation zu.." Die Frage ist aber, ob diese Ergänzung unbedingt durch Religion und Theologie erfolgen muß. Auch wenn eine scientistische Interpretation von Philosophie sicherlich fehlgeht, so sollte man der Philosophie aber nicht jede wissenschaftliche Kompetenz absprechen. In einem gewissen Umfang, der wohl aber historisch keine Konstante ist, läßt sich auch die Welt als Ganzes wissenschaftlich betrachten – auch wenn dies also mit rein naturwissenschaftlichen und mathematischen Mitteln nicht möglich sein sollte. Es ist nur eine Situation denkbar, in der Theologie und Philosophie auch diese Bastion aufgeben müßte: Wenn sich Wissenschaften wie die Kosmologie der Welt tatsächlich erfolgversprechend als Ganzes zuwenden könnten.Aber auch dann würde es sich dabei wieder nur "um die Welt als Ganze in einer bestimmten Beziehung" handeln. Für Philosophie und Theologie bleibt also immer Raum.

Das ist mit der Standardinterpetation des Weltalls als eines zeitlich und räumlich unbegrenzten, zugleich endlichen Systems in gewisser Hinsicht gegeben. Die Unmöglichkeit einer kosmologischen Analyse der Welt als Ganze bezieht sich dann nur noch auf ein offenes euklidisches Weltall. Andererseits ist die Standardinterpretation aber auch noch nicht gesichert. Denken wir in diesem Zusammenhang an die erst unlängst wieder verstärkt in die Öffentlichkeit gedrungene Frage der Neutrino-Masse, von der nicht nur die Bestimmung der Gesamtmasse im Universum abhängt, sondern auch die Entscheidung, welches der drei Friedmannschen Universen (eben offen, gekrümmt geschlossen, gekrümmt offen) unser Weltall am besten beschreibt. Offensichtlich ist aber, daß mit der Wissenschaft etwas passiert ist, das üblichen Wissenschaftsstandards nicht enstpricht. Demzufolge ist auch die Debatte um die Beziehung von Philosophie, Theologie und Naturwissenschaften neu entbrannt.

Dabei werden wir uns beim gegenwärtigen Wissensstand wohl für eine gewisse Weile auf die von Ferguson angesprochene, im allgemeinen Verständnis existierende "Pattsituation" zwischen Materialismus und Theologie in der uns hier interessierenden Frage nach Ewigkeit oder Geschaffensein der Welt einrichten müssen. Bezogen auf die entsprechende kosmologische Theorie würde ich das so akzeptieren.

Auch heute noch lehne ich jedoch eine solche "Gleichberechtigung" auf heuristisch-methodologischer Ebene ab. Würde man nämlich an den Grenzen des Wissens theologische Antworten zulassen und ernstlich akzeptieren, führte das zur Blockade weiterer wissenschaftlicher Forschung. Insofern halte ich auch heute noch "materialistische" erkenntnistheoretische Orientierungen für die Naturwissenschaften für effizienter als theologische. Hinsichtlich der Person des Naturwissenschaftlers mag das schon wieder ganz anders aussehen: Der benötigt vielleicht gerade einen Hinweis auf einen Gott als Schöpfer und Weltenlenker, um sich und seinen Mut im riesigen Weltall nicht zu verlieren.

So weit aus meinem Vortrag. Die Literaturangaben habe ich herausgenommen. Im weiteren Verlauf äußere ich mich auch zum Buch Frank Tiplers Physik der Unsterblichkeit. Das ist schon von Löw verrissen worden. So ganz uninteressant fand ich es dennoch nicht. Vielleicht gibt es Hinweise und Gedanken dazu?