Materialismus und Naturwissenschaft

Frank Richter, Freiberg

Der philosophische Materialismus, spätestens seit Friedrich Engels und W. I. Lenin hat einen Alleinvertretungsanspruch gegenüber den Naturwissenschaften vertreten:Kein Ergebnis der Naturwissenschaft könne materialistischen philosophischen Prinzipien widersprechen - und umgekehrt.

Das ließ sich aber nicht immer so leicht beweisen; und auch die Naturforscher selber konnten oftmals ihre persönliche Religiosität mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit vereinbaren. Um das zu erklären, wurden die Begriffe naturwissenschaftlicher Materialismus und spontaner Materialismus erfunden: Jemand konnte danach Materialist sein, ohne es zu wissen...Das ist natürlich unbefriedigend. Auch die Leninsche Reduktion des Materialismus auf eine erkenntnistheoretische Konzeption war dann wohl mehr oder weniger nur eine ad-hoc-Konstruktion, um das Gebäude überhaupt retten zu können.

Es soll keine Angabe sein, wenn ich von mir behaupte, das schon vor 1989 erkannt zu haben. Nach der Wende war es deshalb durchaus sinnvoll, dieses Problem noch einmal aufzugreifen. Die nachfolgend wiedergegebenen Auszüge aus einem Aufsatz sind ein Teil dieser Bemühungen.

 

Analogien im Gegensätzlichen - marxistische Philosophie und katholische Theologie auf der Suche nach dem richtigen Verhältnis zu den Naturwissenschaften

(Auszüge aus einemVortrag in Jena am 30. November 1996, erschienen in: Philosophie der Naturwissenschaften: Ergebnisse und perspektiven (Jenaer Forum für Bildung und Wissenschaft e. V., Schriftenreihe Heft 28) Jena 1997, S. 5-13)

Daß es bestimmte Ähnlichkeiten gibt, ist mir schon früher ganz im allgemeinen aufgefallen, wenn ich bestimmte Züge marxistisch-leninistischen Philosophierens mit dem katholischen Philosophieren oder Theologisieren zu vergleichen in die Verlegenheit kam: die starke Orientierung auf kanonische Schriften, das Zitieren als Ausdruck eines Zwanges, immer wieder die eigene Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Rechthaber und Rechtgläubigen nachweisen zu müssen, die Existenz eines (auch geographischen!) Zentrums der wahren Philosophie (Moskau, auch Berlin), die Verknüpfung des Philosophischen mit Institutionellem, Apparativem, die immer mögliche Ausschließung aus der community und gar Verurteilung einzelner Philosophen wie Peter Ruben oder auch Naturwissenschaftler wie etwa Robert Havemann - nicht nur mit politischen Begründungen, sondern auch mit "philosophischen". Und letzteres geschah dann nicht einfach durch Parteifunktionäre, sondern durch Philosophen selber - unabhängig davon, ob die Parteifunktionäre waren oder nicht.- Ich muß heute sagen, daß ich letztendlich solche Parallelen verdrängt oder nur für zeitweilige gehalten habe und daß ich glaubte, einen Beitrag zur Überwindung solcher Strukturen leisten zu können.

Ich bin der Meinung, daß solche Parallelen auch in unserem Gebiet Philosophie und Wissenschaften existierten, wobei es ja nach der Wende Kollegen gab (und noch gibt?), die glauben, daß gerade und einzigartig in unserer community solche Tendenzen nicht vorgekommen sind.

Vielleicht ist es deshalb auch übertrieben, wenn ich sage: Endgültig klar ist mir dieser Zusammenhang erst geworden, als ich gelesen habe, wie der gegenwärtig amtierende Papst, Paul Johannes II, im Jahre 1990 in den Streit um das "richtige" Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft eingegriffen hat.

Nun ist ja bekannt, daß die katholische Theologie eigentlich über ihre gesamte Existenz hinweg ein "positives" Verhältnis zu den Naturwissenschaften insgesamt besessen hat - freilich nicht zu allen ihren Ergebnissen. Auch die protestantische Kritik von Luther, Kant oder Schleiermacher, später von Karl Barth an zu engen Beziehungen zu den Wissenschaften, das Verwerfen der Physikotheologie, der natürlichen Theologie und der Gottesbeweise haben sie darin nicht verunsichert. Zwar werden von den Kosmologen oder Evolutionsbiologen nicht (mehr) unbedingt Beweise für die Existenz Gottes gefordert, aber eine Unterstützung katholisch-theologischer Positionen wurde schon für möglich gehalten. Mittlerweile hat sich dieser Trend verstärkt: Bestimmte naturwissenschaftliche Theorien wie z. B. im Bereich der Kosmologie oder auch Konzepte der Selbstorganisation werden in theologischen Kreisen in wachsendem Maße zustimmend und positiv diskutiert. Nicht zuletzt die ESSSAT, die European Society for Studies of Science and Theology erörtert auf regelmäßigen Konferenzen die Relevanz neuer naturwissenschaftlicher Theorien für die katholische Theologie bzw. für die Theologie überhaupt.

Paul Johannes II hat 1990 direkt in diese Diskussionen eingegriffen. Nachdem er die Verurteilung Galileo Galileis als unnötiges (?), tragisches gegenseitiges Verkennen bezeichnet - ein Teil der Schuld also Galilei zugesprochen wird, sei nun die Gelegenheit gekommen, das Thema neu anzugehen. "Reflections on the new view from Rome" lautet der Untertitel der Schrift aus dem Vatican Observatory von 1990, in der eine Botschaft des Papstes sowie zustimmende wie ablehnende bzw. skeptische Positionen zu dieser Botschaft veröffentlicht werden. (John Paul II: Reflections on the new view from Rome. Observatory press 1990)

Die Botschaft des Papstes läßt sich wie folgt zusammenfassen:

1. Wir beobachten einen allgemeinen Prozeß hin zu Offenheit, Dialog und wechselseitiger Abhängigkeit zwischen verschiedenen Religionen, Weltanschauungen, Wissensformen. In den Wissenschaften geht ein Prozeß der Vereinheitlichung vor sich.

2. Eine einfache Neutralität zwischen Naturwissenschaft und Religion kann heute nicht mehr zufriedenstellen. Zwar geht es dabei nicht um eine Vereinheitlichung in institutioneller Hinsicht, und die Differenzen dürfen nicht verwischt werden. Aber die Ergebnisse der Naturwissenschaften hinsichtlich der Struktur und Evolution des Kosmos sowie der Entstehung des Menschen tragen zu einer einheitlichen Weltsicht bei, in der sich Naturwissenschaften und christliche Religion treffen können.

3. Insofern haben zunächst die Theologen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen und nach ihren theologischen Implikationen zu fragen. Moderne naturwissenschaftliche Erkenntnisse sind geeignet, den christlichen Glauben klarer zu machen, zu "illuminieren"; Evolutionstheorien des Kosmos (der Papst bezieht sich dabei auf den "Urknall") sind auf ihre Weise Stellungnahmen zum Problem der Schöpfung. Aber die Naturwissenschaften dürfen dabei nicht die Rolle der Theologie übernehmen, und Theologie darf nicht zur Pseudo-Wissenschaft werden wollen.

4. Theologen sollten nur bestätigte Theorien für ihre Argumentation verwenden und nicht versuchen wollen, die Wahrheit wissenschaftlicher oder philosophischer Entdeckungen zu beurteilen. An die Erfahrungen aus der Zeit des Mittelalters ist anzuknüpfen ("fides quaerens intellectum").

5. Der Nutzen für die Wissenschaft aus einem solchen Dialog erwächst aus der hier neu zu gewinnenden Selbstbescheidenheit und Selbstbeschränkung, in der Auseinandersetzung mit Scientismus und Technizismus und der dann möglichen tiefgründigeren Behandlung ethischer Fragen der Wissenschaften.

6. Wichtig für die Realisierung dieser Aufgabenstellung ist die gründliche Beschäftigung der Theologie mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften; günstig ist es, wenn Wissenschaftler auf beiden Gebieten zu Hause sind.-

Die Parallelen oder Ähnlichkeiten zur in den fünfziger und sechziger Jahren insbesondere von Hermann Ley, aber auch Helmut Korch entwickelten marxistischen Konzeption sind unübersehbar. Auch hier geht es um Kooperation, wechselseitige Forderung und Unterstützung, um die beiderseitige Kenntnisnahme und Akzeptanz. So wie der marxistische Materialismus sicher war, die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften seien nicht nur mit den philosophischen Prinzipien des Materialismus vereinbar, sondern erstere wären imstande, letztere zu bestätigen bzw. sie brächten quasi automatisch eine materialistische Weltanschauung hervor - so sieht auch die katholische Theologie in den Naturwissenschaften für die Theologie nutzbare Potentiale. Hier beobachte ich also jene anfangs angesprochenen Analogien bzw. Homologien: In beiden Weltauffassungen existiert bzw. - weil ja der Marxismus eine offene Frage geworden ist - existierte bei aller sonstigen Gegensätzlichkeit eine ähnliche Konzeption in Bezug auf das Verhältnis von Theologie bzw. Philosophie zu den Wissenschaften. Der Marxismus ging dabei wohl noch radikaler vor, weil er unbedingt eine Ähnlichkeit mit dem theologischen Anspruch zurückweisen mußte. Andererseits hatten die katholischen Theologen schon längst einen quasi-religiösen bzw. -theologischen Anspruch des Marxismus zu erkennen geglaubt. Analogien? Homologien? Vielleicht können wir uns damit trösten: Wenn es wirklich Ähnlichkeiten mit abstammungsgeschichtlichem Hintergrund sind, dann nicht in der Art, daß der Marxismus von der katholischen Theologie abstammt, sondern daß wir offensichtlich bestimmte gemeinsame Vorfahren haben. Vielleicht Aristoteles...

Dabei hat es den Anschein, als ob sich die katholische Theologie in letzter Zeit mit noch größerem Engagement und größerem Optimismus sowohl der Kosmologie als auch der Evolutionsbiologie zuwendet - obwohl doch von diesen Wissenschaften ursprünglich für sie größte Gefahren auszugehen schienen.

Gibt es für solche Aussagen einen aktuellen Anlaß? Hat sich irgend etwas im Verhältnis von Philosophie, Theologie und Naturwissenschaften in letzter Zeit verändert? Gibt es neuere Forschungsergebnisse oder gibt es irgendeinen anderen Grund, an der Richtigkeit der Einschätzung von Helmut Korch aus dem Jahre 1964 (!) zu zweifeln, die da lautet:

"Wenn wir in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts über den atheistischen Charakter der Naturwissenschaft und damit auch über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion sprechen, dann nicht deshalb, weil dieses Problem in seiner allgemeinen Form heute erst noch gelöst werden müßte. Historisch gesehen ist dies bereits vor einigen hundert Jahren geschehen, und in der Zwischenzeit gibt es von der Sache her keine neuen Befunde, die Anlaß geben könnten, das geschichtliche Urteil der Unvereinbarkeit von Naturwissenschaft und Religion zu korrigieren." ( Helmut Korch: Der Atheismus im naturwissenschaftlichen Denken. In: Olof Klohr (Hrsg.): Moderne Naturwissenschaft und Atheismus. Dt. Verlag der Wissenschaften, Berlin 1964. S.13

Es dominierte damals wie auch bis eigentlich zum "Schluß" die von Olof Klohr im Vorwort zu der eben zitierten Schrift geprägte These: "Die Naturwissenschaft führt folgerichtig zu weltanschaulichen Aussagen materialistischer Natur". Bekanntlich ist das ja eigentlich nichts anderes als das, was Friedrich Engels im Anti-Dührung oder in der Dialektik der Natur schon verkündet hatte und was dann nicht zuletzt von Hörz und Erpenbeck in Philosophie contra Naturwissenschaft? Berlin 1977, S. 36f. wissenschaftstheoretisch noch einmal untermauert worden war.

Wie wollen wir es denn nun mit jener These halten? Hatte Engels wenigstens in seiner Zeit noch Recht oder schon nicht einmal das? Ist es überhaupt möglich, von naturwissenschaftlichen Aussagen oder Theoriensystemen mehr oder weniger direkt zu philosophisch-weltanschaulichen Erkenntnissen zu kommen? Und ist dieser Zusammenhang, sollte er so existieren, dann notwendigerweise mit materialistischen Konsequenzen verbunden? Ist es vielleicht wirklich so, daß - wie sich die Naturwissenschaften auch entwickeln - letztendlich die alten theologischen Fragestellungen immer wieder relevant sind? Wie halten wir es mit Havemanns Einschätzung, es sei viel leichter, von den Naturwissenschaften her zum Idealismus zu kommen als zu einem spontanen naturwissenschaftlichen Materialismus?

Ich klammere bei dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, die historischen Irritationen aus, die es zwischen marxistischer materialistischer Philosophie und den Einzelwissenschaften (also nicht nur den Naturwissenschaften!!) mannigfaltig gegeben hat, obwohl wir uns natürlich auch im nachhinein fragen müssen, inwieweit diesen historischen Defiziten auch solche systematischer Natur zugrundegelegen haben. Insofern wäre es natürlich interessant, die mich damals so faszinierende Auseinandersetzung von Georg Klaus mit dem Jesuitenpater Gustav Wetter noch einmal aufzuarbeiten. (Siehe:Georg Klaus: Gott Jesuiten Materie. Des Jesuitenpaters Wetter Revolte wider Vernunft und Wissenschaft. Dt. Verlag der Wissenschaften Berlin 1958.) Hier wird noch keine Kritik an Stalin bzw. an Verzerrungen im Verhältnis von marxistischer Philosophie und Naturwissenschaft geübt; das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft wird prinzipiell über das Muster "philosophische Verallgemeinerung der Ergebnisse der Naturwissenschaften" beschrieben, S.80; Es wird eine Kritik an "idealistischen Astronomen" geübt S. 81, Ablehnung der Wärmetod-Hypothese S.174, 177.)

Gleiches gilt für die Auseinandersetzung zwischen Havemann und Ley ca. 6 Jahre später, in der dann auch die Kritik an dogmatischen Positionen im marxistischen Materialismus im Zusammenhang mit dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 reflektiert, von Havemann aber als unzureichend empfunden wird. (Robert Havemann: Dialektik ohne Dogma. Naturwissenschaft und Weltanschauung. Rowohlt Hamburg 1964. Dort sagt Havemann: "Und der Ordinarius für Philosophie der Naturwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität, Ley, hat erst kürzlich erklärt, daß Theorien, nach denen die Zeit einen Anfang t=0 hatte, im Falle ihrer Richtigkeit die Erschaffung der Welt durch Gott beweisen würden und daher mit dem dialektischen Materialismus unvereinbar seien." S.14. Damit stellte Havemann Ley allerdings in eine Ecke, in die dieser nicht gehörte.) Der dialektische Materialismus habe erstaunlicherweise bisher bei der Entwicklung moderner naturwissenschaftlicher Theorien der letzten 50 Jahre keine oder fast keine schöpferische, produktive Rolle gespielt(S. 137). Als einen der entscheidenden Gründe dafür führt er an, in ihrer angemaßten Rolle als Wächter ewiger Wahrheiten hätten die auf den amtlichen philosophischen Kathedern Lehrenden die Naturwissenschaftler zurückgestoßen und die Dialektik damit diskreditiert. Das müsse jedoch nicht so bleiben.

Damit waren freilich die meisten von uns, die wir hier heute reden wollen und sollen, getroffen, selbst wenn wir auf der Karriereleiter noch nicht zu den Lehrstuhlleitern aufgestiegen waren.

Nun hat es natürlich auch damals schon kaum jemanden gegeben, der den Hoheitsanspruch der Philosophie gegenüber den Naturwissenschaften so ganz ungeschminkt vertreten hat; eher dominierte die folgende Argumentationsweise: Die Naturwissenschaften können dem Materialismus gar nicht widersprechen; scheint doch solch ein Widerspruch vorzuliegen, dann kann es sich nur um eine unrichtige theoretische Behauptung oder um eine unzulässige, idealistische Interpretation solcher Behauptungen handeln.-

Tatsächlich wurde aber auf diese Weise doch ein Alleinvertretungsanspruch des Philosophen vertreten, der noch dadurch erhärtet wird, wenn jener die kritische Diskussion seiner eigenen theoretischen Voraussetzungen ablehnt und sie - wie die materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie oder den Materiebegriff - zur ewigen Wahrheit erklärt und sie von kritisierbaren philosophischen Hypothesen unterscheidet. Genau an dieser Stelle sehe ich die entscheidenden Defizite unserer Bemühungen zu DDR-Zeiten auf dem Gebiet Philosophie-Wissenschaften. Selbst wenn Herbert Hörz später zwischen Wissenschaftlichem und Weltanschaulichem in der marxistisch-leninistischen Philosophie zu differenzieren suchte (Herbert Hörz: Was kann Philosophie? Dietz Verlag Berlin)schlug der Szientismus in der Philosophie immer wieder durch - siehe z. B. auch die verbreitete Gegenstandsbestimmung der Philosophie über die allgemeinen Gesetze in Natur, Gesellschaft und Denken.

Insofern wäre heute über diese Problematik noch einmal neu nachzudenken. Früher zu dem Thema Gesagtes wird dadurch nicht einfach falsch, gegebenenfalls muß es aber auch als wenigstens historische Wahrheit relativiert werden. Unsere Selbstkritik muß aber so radikal wie möglich sein, soll marxistisches Denken eine neue Perspektive erlangen. Dazu gehört dann auch die Verabschiedung von bestimmten Thesen, an denen wir lange Zeit festgehalten haben, wie die von der prinzipiellen Überlegenheit des Materialismus, des spontanen Materialismus der Naturforscher, der Unvereinbarkeit von Religion und Naturwissenschaft bzw. idealistischer Philosophie oder Theologie u. a. - also von jenen Thesen, in denen ich Analogien zur katholischen Theologie erblicke.

Die Gültigkeit der These der Unvereinbarkeit von Religion und Wissenschaft bzw. der eindeutigen Zuordnung von Wissenschaft und Materialismus müßte ja voraussetzen:

- Der philosophische Materialismus ist heute noch und immerfort die den Naturwissenschaften adäquate einzige Weltanschauung und vielleicht sogar auch allgemeine Methodologie

- Philosophie ist Wissenschaft

- Die Naturwissenschaften sind nicht nur hinsichtlich ihrer Theorien und empirischen Ergebnisse ein durch und durch rationales Unternehmen, sondern auch in Bezug auf ihre weltanschaulichen und praktischen Voraussetzungen und Konsequenzen

- Religion, Idealismus und Theologie sind durch und durch irrationale Unternehmen.

 

Treffen diese Bedingungen nicht zu - und es gibt eine ganze Reihe von Argumenten, die gegen diese vier Voraussetzungen sprechen - , dann könnte der Einladungstext für eine Veranstaltung der Katholischen Akademie in Berlin e. V. im September des Jahres 1995 durchaus relevant sein:

  "Paul Davies hat einmal behauptet, die Naturwissenschaften eröffneten heute einen sicheren Weg zu Gott als die Religionen. Diese Behauptung kann schon deswegen nicht richtig sein, weil das erste Ziel der Naturwissenschaft die Einsicht in die Gesetzmäßigkeit des Materiellen ist und die dazu erforderlichen Methoden niemals einen Zugang zur nichtmateriellen Welt ermöglichen.

Die Religion und die Theologie wiederum befassen sich mit dem Sinn des Unsagbaren, mit dem göttlichen Geheimnis, dessen Zeugnisse sie in heiligen Schriften untersuchen und in Symbolen, Gleichnissen und durch rationales Denken darstellen.

Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, daß die heutige Naturwissenschaft an die Grenze des Anschaulichen und sprachlich Formulierbaren geraten ist. Damit befindet sie sich in einer vergleichbaren Situation wie die Religion. Weil der fragende und suchende Mensch zwar zwischen Religion und Naturwissenschaft unterscheiden, aber auf Dauer nicht brückenlos in zwei voneinander getrennten Welten leben kann, wagen beide - der Wissenschaftler und der gläubig denkende Mensch - immer auch die Grenzüberschreitung: der eine in die Welt der Materie, der andere in die Welt des Glaubens und der Mystik.

Das Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Theologie ist notwendig und wird auch heute immer neue gesucht. Wie kann dieses Gespräch gelingen, ohne daß der christliche, geschichtliche Retter- und Erlösergott und der "Schöpfer und Planer" ineinander aufgehen?"

  Ich denke, daß eine solche - immerhin gemäßigte - Auffassung (in Analogie) auch einer von Marx herkommenden Philosophie gut zu Gesicht stehen würde, zumal ja die eigentlichen theoretischen Grundlagen einer solchen Philosophie weitgehend unklar sind. Gerd Irrlitz hat unlängst geschrieben, Philosophie sei überhaupt nur da, um die Aufspaltung der Welt in Objektives und Subjektives zu hinterfragen und letztendlich aufzuheben. Das kann man so lesen, daß wir nun endlich auch die Grundfrage der Philosophie als Denk- und theoretisch sinnvolles Klassifikationsschema aufgeben müssen, damit also auch den Materialismus; oder bleibt uns noch die Möglichkeit eines modernen Materialismusbegriffs? Dieser hätte nun aber wirklich auch alle positiven Resultate idealistischer Philosophien in sich aufzunehmen! Dennoch scheint die Chance für einen solchen neuen Begriff - wie anderswo auch - zunächst einmal sehr schlecht zu stehen. Möglicherweise können wir die Richtigkeit der Behauptung, daß es eine subjektunabhängige Natur gibt, die unter bestimmten Bedingungen eine Evolution bis hin zum Menschen selbst organisiert hat, worauf dann die Geschichte des Menschen mit ihrer Dialektik von materiellen und ideellen Faktoren einsetzte, auch ohne einen Materialismus-Begriff darstellen, der ja für den Bereich der menschlichen Geschichte immer die Gefahr mit sich bringt, daß für die Mensch-Natur-Beziehung richtige Aspekte unzulässig auf die Gesellschaft übertragen werden.

Ein moderner Materialismus hätte es nicht mehr nötig, auf ideelle Faktoren in irgendeiner Art und Weise abschätzig herabzublicken. Das gilt dann natürlich auch für die Religion als eines solchen sozialen (ja, nicht einmal nur ideellen) Faktors, aber auch für die Wissenschaft selber, die auf vielfältigste Weise mit anderen geistigen Erscheinungen verbunden ist - auch mit der Religion. Insofern kann man dann auch die Beziehungen von Religion und Naturwissenschaften offener diskutieren, selbst wenn man daran festhält, daß letztendlich alle religiös-theologischen Interpretationen naturwissenschaftlicher Theorien Ausdruck von Nichtwissenschaftlichkeit und Spekulation sind. Fest steht aber, daß es offensichtlich mehr als nur die beiden, extrem gegensätzlich aufeinander bezogenen Positionen "Die Existenz einer ganzheitlichen, harmonisch gebauten Natur beweist zugleich die Existenz ihres Schöpfers, und die Ergebnisse der Naturwissenschaften widerlegen den Materialismus" und "Die Naturwissenschaften auf der einen, Religion und Theologie auf der anderen Seite sind miteinander unvereinbar; erstere liefern sogar eindeutige Beweise für den Materialismus" gibt. Schon ein Mann wie Alexander von Humboldt, aber auch Einstein, Heisenberg u.a. ließen sich ja hier auf keinen Fall einordnen - weder da noch dort.

Sicherlich ist es möglich, mindestens die folgenden denkbaren Relationen im Verhältnis von Wissenschaft und Religion analytisch festzuhalten:

- Wissenschaft und Religion sind im Ganzen nicht zueinander kompatibel; ihre Sprachsysteme, ihre Methode (etwa bei dem Versuch, "Gewißheit" zu erlangen), ihre Wahrheitskriterien sind prinzipiell voneinander unterschieden. Es existieren also keinerlei systematische Beziehungen und Abhängigkeiten; insbesondere sind Beweisführungen unter Benutzung von Resultaten der anderen Seite unmöglich. Es ist aber vorstellbar, daß Religion und Wissenschaft zueinander im Verhältnis einer (wissenschaftstheoretisch undefinierbaren, aber philosophisch bzw. ethisch verständlichen) "Komplementarität" stehen, sich also einander ergänzen.

- Wissenschaft, Theologie und Philosophie stehen in wissenschaftstheoretischen Beziehungen zueinander. Es ist eine philosophische bzw. theologische Verallgemeinerung einzelwissenschaftlicher Fakten möglich und letztere können zu Beweisführungen herangezogen werden. Die in den drei Wissensformen vorkommenden gleichlautenden Namen (wie z. B. Natur, Materie, Raum und Zeit, Struktur, Harmonie) sind zumindest partiell auf identische Gegenstände bezogen.

Daraus können sich auf nachfolgenden Ebenen weitergehende Positionen ergeben:

- In der angenommenen Inkompatibilität wird der einen der beiden Seiten das Primat eingeräumt. Entweder verdrängt die Wissenschaft sukzessiv die Religion, oder aber Religion wird als die immer der Wissenschaft gegenüber überlegene Wissensform verstanden.

- Beide Seiten werden als komplementär zueinander, als für komplexes menschliches Leben sich notwendigerweise ergänzend, aufgefaßt. Weder ein Rationalismus noch ein Mystizismus können uns bei der Bewältigung komplizierter Lebensprobleme jeweils allein hinreichend zur Seite stehen; wohl aber sind rationale wie auf Glauben abgestellte Wissensformen prinzipiell gleichwertig. Für den Wissenschaftler ist dann die eigene Religiosität kein Problem, und auch der Theologe kann sich - nachdem er mittlerweile aufgehört hatte, Lücken in den Wissenschaften zumindest als Hinweise auf die Existenz Gottes zu interpretieren - unbeschwert dem Studium der Naturwissenschaften zuwenden.

- Eine Modifikation dieser Inkompatibilitätsrelation läßt sich bei Karl Heim ausmachen, worauf u.a. Manfred Büttner hingewiesen hat. Heim glaubt in der neuzeitlichen Naturwissenschaft Tendenzen zu erkennen, die eine Vereinbarkeit (bei trotzdem existierender prinzipieller Unterschiedenheit) besser verstehen läßt. Das Abgehen von einem absoluten Objekt, vom absoluten Raum und der absoluten Zeit sowie der Verzicht auf die absolute Determination des Naturgeschehens auf Seiten der Naturwissenschaft, speziell in Relativitätstheorie und Quantenmechanik, machen es wieder möglich, an Gott zu glauben, ohne mit der modernen Naturwissenschaft in Widerspruch zu geraten. Beweise für die Existenz des biblischen Gottes lassen sich daraus jedoch nicht herleiten; das hat wiederum den Vorteil, auf diese Weise nicht doch wieder in Abhängigkeit von den Wissenschaften zu geraten.-

Es wird schon so sein: Naturwissenschaft ist (nur) in theoretischer Hinsicht tatsächlich ein "rein rationales" Unternehmen. Aber dieses rationale Unternehmen stößt nicht nur auf zeitweilige Grenzen der Erkenntnis, sondern gelegentlich auf solche prinzipieller Natur. Zu diesen gehört auf alle Fälle die Frage nach der Existenz des Kosmos in Raum und Zeit und die Frage nach einer Entwicklung im Kosmos oder gar des Kosmos insgesamt, möglicherweise mit dem Menschen als der höchsten Entwicklungsform. Voraussichtlich werden diese Fragen niemals endgültig beantwortet werden können, auch nicht durch einen Materialismus. Insofern sind also auch religiöse Konsequenzen aus diesen Fragen ableitbar, und es ist nicht so, daß solche religiöse Thesen durch den Gang der Wissenschaft widerlegt werden. Insofern gibt es schon eine bestimmte Art von Übereinstimmung oder Kompatibilität, und die Entscheidung pro und contra ist dann eine außerwissenschaftliche, also philosophische, theologische, religiöse.

Wenn wir dann immer noch an einem materialistischen Weltbild arbeiten wollen, das wir dem religiösen gegenüber in bestimmten Fragen für überlegen halten, dann hätten wir zumindest einmal die untragbare Bürde der Alleinvertretung los und könnten uns auf die sachlichen Fragen konzentrieren.