Philosophie in der DDR.

(Frank Richter, Freiberg)

 

Abschnitt 1:  Gab es in der DDR überhaupt Philosophen?

Wie man in der DDR zum Philosophen werden konnte und was Philosophie mit Risiko zu tun hat

Ein Jahr nach der Wende wurde ich in einer Diskussion mit der Frage konfrontiert, ob es in der DDR überhaupt Philosophen gegeben habe. Eigentlich gab es dem Namen nach ja eine ganze Menge - aber ob das nun wirklich Philosophen waren, also Freunde der Weisheit? Oder waren es nur einfach Apologeten der Politik der SED-Führung, die - wenn es denn so war - den Ehrennamen "Philosoph" wohl wirklich nicht verdient hatten?!
Wenn es richtig ist, daß Schwarz-Weiß-Malerei in den seltensten Fällen komplizierten Situationen gemäß ist, dann müßte man dieser Frage also genauer nachgehen. Im folgenden soll das versucht werden, wobei sich dann weitere Abschnitte anschließen, in denen ich meine ganz persönliche Auffassung zu bestimmten Quellen der "DDR-Philosophie" darlegen werde.

1. Materialismus heute?

Sowohl die Strategiedebatte in der PDS als auch die Diskussion über die Existenzberechtigung des Marxismus ist natürlich ohne bestimmte weltanschaulich-philosophische Grundlagen nicht zu führen - unabhängig davon, ob die PDS als Weltanschauungspartei verstanden wird oder nicht. In welcher Weise kann der dialektische und historische Materialismus noch für eine solche philosophische Grundlage gehalten werden? Die Positionen hierzu gehen weit auseinander: Für die einen ist der Materialismus seit Hegel tot, andere halten ihn immer noch für die einzige wissenschaftliche Weltanschauung, die nur durch den Realsozialismus bzw. dessen Politiker und Ideologen verzerrt und verfälscht worden ist. Gleichzeitig sind über den Begriff des Materialismus viele Unklarheiten und Differenzen zu beobachten. Es gibt ja auch Personen wie den Papst Johannes Paul II., die ihn gegenwärtig lebendig wie nie sehen - nämlich im Konsumdenken der westlichen Industriegesellschaften. Dazu paßt, wenn der Fußballstar Klinsmann sagt: "Ja, ich brauche mir keine Sorgen mehr zu machen. Das ist ein unglaublich gutes Gefühl. Es gibt mir die Freiheit, auch mal in den Tag hinein zu leben. Dieser Druck, Geld verdienen zu müssen, ist weg. Auf der anderen Seite bin ich kein großer Materialist. Ich führe kein Luxusleben."

Ich hoffe, daß keiner von diesen Materialismusdeutern recht hat, und daß es möglich sein wird, die materialistische Philosophie auf ihre Stärken und Schwächen hin zu befragen und sie auf den Stand der heutigen Zeit zu bringen. Ich bin zwar eigentlich kein großer Freund von sogenannten ISMEN mehr, also von Wörtern, die mit "-ismus" enden: Materialismus, Idealismus, Relativismus, Skeptizismus, Patriotismus, Nationalismus u.v.a.m. - in solchen Begriffen steckt immer eine Verabsolutierung - wie es sich freilich für ein Prinzips gehört. Im täglichen Leben wie auch in der Theorie kommt man natürlich nicht ganz ohne Prinzipien aus; freilich gibt es zumeist mehrere, und man ist genötigt, Kompromisse zu machen. Die Frage ist dann, was man mit den im Angebot der Philosophen vorhandenen Ismen anfangen kann und ob die sich nicht auch mit der Zeit überleben. Oder gibt es einige wenige oder vielleicht auch nur ein einziges Prinzip, das - einmal gefunden - niemals veralten kann? Gehört der Materialismus zu diesen Prinzipien? Und ist es tatsächlich möglich und notwendig, eine Politik, eine Strategie auf solch ein philosophisches Prinzip zu gründen oder geht der Pluralismus in einer modernen Partei, wie sie die PDS sein will, so weit, daß solche weltanschaulichen Bastionen längst geschliffen sein sollten?

Aber selbst wenn das so ist, kann es niemandem verboten werden, weiterhin Materialist sein zu wollen. Allerdings dürfte es sinnvoll sein, die Bindungen, welche der Materialismus in seiner Geschichte mit verschiedenen Formen der Politik, aber auch der Wissenschaft eingegangen ist, dahingehend zu prüfen, ob er als philosophisches Prinzip überhaupt noch aktuell ist und ob er aus jenen Bindungen einigermaßen unbeschadet hervorgegangen ist.
Wenn heute ehemalige DDR-Bürger solche oder ähnliche Fragen aufwerfen, wird das immer auch ein Stück Autobiographie. So auch hier:

2. Wie jemand Materialist werden konnte

Seit dem Jahre 1961 beschäftige ich mich mit dem oben angesprochenen Thema des Materialismus berufsmäßig, auch wenn ich ursprünglich an der Bergakademie Freiberg studiert habe. Über die Studentenzeitung "Forum" kam ich an damals hochaktuelle Diskussionen zum Verhältnis von Materialismus und moderner Naturwissenschaft heran und nach dem Studium wechselte ich das Fach. Hermann Ley und die Mitarbeiter wie Aspiranten des Lehrstuhles für philosophische Fragen der modernen Naturwissenschaften wurden damals meine Lehrer und Mitstreiter; freilich ist diese kleine Gemeinschaft mittlerweile ganz (un)schön zusammengeschrumpft bzw. eigentlich gar nicht mehr existent.
Die Wissenschaft der Philosophie begeisterte mich; die religiöse Erziehung in meiner Kindheit hatte ich schon "abgestreift", sofern so etwas möglich ist, und der Materialismus schien alle Probleme lösen zu können. Damit verbunden war die Hoffnung, daß die durch den XX. Parteitag der KPdSU kritisierte Erstarrung des philosophischen materialistischen Denkens durch eine Analyse der philosophischen Aspekte der Naturwissenschaften, insbesondere der Quantentheorie, der Relativitätstheorie, aber auch der biologischen Genetik überwunden werden könnte. Naturwissenschaftler, Mathematiker, dann in zunehmendem Maße auch Ingenieure, möglich gemacht durch eine Aspirantur bei Hermann Ley, bildeten sich als eine nicht ganz unumstrittene Gruppe mit einem engen Zusammenhalt, regelmäßigen Konferenzen in Kühlungsborn und später auch an den neuen Wirkungsstätten der ehemaligen Aspiranten sowie mit umfangreicher Publikationstätigkeit heraus. Kontakte zu den sogenannten Einzelwissenschaftlern herzustellen und diese dann zu pflegen und zu entwickeln, war unsere wichtigste Aufgabe. Allmählich begann das Eis des dogmatischen Beharrens auf den Lösungen einer Philosophie, die sich einseitig auf die klassischen Physik stützte, zu tauen, und die Physiker nahmen mit Interesse zur Kenntnis, daß marxistische Philosophen moderne physikalische Theorien wie die Relativitätstheorie oder die Quantenmechanik einigermaßen zu begreifen (!) vermochten und neu philosophisch zu interpretieren suchten. Analoges geschah in Biologie, Genetik, Mathematik, Chemie, Kosmologie, dann auch in Hermann Leys Lieblingsdisziplin Kybernetik bzw. operations research. In all diesen Wissenschaften hatte es zuvor Diskrepanzen zu traditionellen, oftmals für materialistisch gehaltenen Positionen gegeben: Die Heisenbergsche Unschärferelation schien Ausdruck von Erkenntnispessimismus, die Einsteinsche Relativitätstheorie ein Argument für die Endlichkeit des Weltalls, die Genetik eine Stütze idealistischer Bevorzugung innerer Triebkräfte der Evolution des Organischen, die kosmologische Annahme eines Urknalls eine Bestätigung des göttlichen Schöpfungsaktes zu sein, usw. usf. Nun schien sich auf diesem Gebiet plötzlich alles zum Guten zu wenden; eine marxistische Naturphilosophie sollte es zwar immer noch nicht geben dürfen, dennoch spielte nun die Behandlung philosophischer Fragen der Einzelwissenschaften die Rolle, die ihr gebührte - nicht zuletzt auch deshalb, weil es sich dabei nur in den seltensten Fällen wirklich und ausschließlich um philosophisch wichtige Problemstellungen der Naturwissenschaften handelte.- Gesehen haben wir freilich erst später, daß es sich doch leider nicht um eine Revolution innerhalb der marxistischen Philosophie handelte: Jene Öffnung gegenüber neuen Fragestellungen bzw. Lösungsansätzen für uralte philosophische Fragen, etwa hinsichtlich der Beziehung von Objekt und Subjekt in der Wissenschaft, der Relation von Fortschritt, Stagnation und Rückschritt in der Entwicklung oder in Bezug auf das Verhältnis von Zufall und Notwendigkeit wurde durchaus nicht von allen Philosophen mitgetragen und ihre Aufnahme in den Fundus der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften gelang erst recht nicht. Robert Havemann sah diese Situation Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre offensichtlich weitaus klarer als die progressivsten DDR-Philosophen jener Zeit. Seine Vorlesungsreihe zu den naturwissen-schaftlichen Problemen der Philosophie - womit er also sofort auch eine Abgrenzung von Hermann Leys Lehrstuhl "Philosophische Probleme der modernen Naturwissenschaften" vornahm und sich zu diesem in Konkurrenz begab, war einerseits radikaler als das, was aus den philosophischen Instituten zu diesen Fragen gesagt wurde und differenzierte andererseits aus meiner Sicht zu wenig, was innerhalb der marxistischen Philosophie geschah und was dort selber noch im Wachsen war. Dazu kam, daß Havemanns Freund Wolf Biermann, damals noch Student der marxistischen Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin, in seinen Gedichten einen immer radikaler werdenden politischen Kurs einschlug, der in eine Sektion marxistisch-leninistische Philosophie damals beim besten Willen nicht zu integrieren war. Hermann Ley stand trotz gelegentlicher Spitzen gegen die Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik der SED letzten Endes immer bedingungslos "zur Sowjetunion" und also auch lange Zeit zur Führung der SED, zum Schluß dann wohl nur noch zur DDR. Sicher wäre es interessant und wichtig, daß jemand - vielleicht einer der Nachfolger bzw. engsten Mitstreiter Hermann Leys - diese Vorgänge einmal genauer aufarbeitet. Hier kann nur konstatiert werden, daß eigentlich identische Ansätze zur Reformierung oder besser Revolutionierung marxistischen philosophischen Denkens bei Robert Havemann und Hermann Ley nicht in gemeinsame Anstrengungen münden konnten, weil auf die Dauer - und das sah also der Naturwissenschaftler klarer als der Philosoph - eine progressive Entwicklung der Philosophie auf einem Teilgebiet nicht möglich ist bzw. in eine gesamtgesellschaftliche Bewegung einmünden muß, soll sie sich nicht selbst zur Erfolglosigkeit verurteilen.

3. Philosophische Selbstkritik

Ley-Schüler haben nach der Wende und nach dem Tode unseres verehrten Lehrers Hermann Ley auf einer der letzten Kühlungsborner Tagungen eine Bilanz zu ziehen versucht und eine Antwort auf die Frage nach eigener Leistung und eigenem Versagen in den Jahren von 1959 (Gründungsjahr des Lehrstuhles) bis 1989 gesucht. Und selbst wenn eine solche Ehrung üblicherweise wenig Raum läßt für kritische Analysen, so wurde doch deutlich, daß ein großer Teil des anwesenden Teils unseres Kreises wenig geneigt war, Verantwortung für das Mißlingen des Versuches DDR und der in ihr betriebenen Philosophie zu übernehmen.

Ich habe das damals anders gesehen und auch ausgedrückt: Wir hatten uns in eine eigene Nische zurückgezogen ("Nischengesellschaft DDR"?) und dort auch sicherlich eine ganz gute Arbeit - zu Einschränkungen komme ich gleich - geleistet, die uns allmählich auch Partner in der Bundesrepublik finden ließ. Aber richtige Philosophen gehören wohl nicht in eine Nische... Außerdem erkauften wir uns einen guten Teil unserer Spielräume, indem auf die Klärung bestimmter grundlegender philosophischer Fragen verzichtet und der Angriff von "außen" damit gar nicht erst zugelassen wurde. Robert Havemann hatte also mit seiner Kritik an den "Hütern der ewigen Wahrheiten an den philosophischen Instituten" doch nicht so ganz unrecht behalten, zumal unsere "führenden" marxistischen Philosophen doch bis zuletzt an nicht revidierbaren philosophischen Grundaussagen festzuhalten bereit waren.
Ich habe mich damals selbst gefragt, ob man mit solchen Überlegungen und Äußerungen nicht das eigene Nest beschmutzt und der anderen Seite noch zusätzliche Argumente gibt, uns aus den Universitäten und Hochschulen zu verdrängen. Einmal ganz abgesehen davon, daß ich eigentlich diese Argumentationsweise schon zu DDR-Zeiten nicht gerade lieben gelernt hatte - ich glaubte immer noch daran, daß es einfach notwendig und anständig ist, klar und eindeutig über die eigene Geschichte Rechenschaft zu legen - unabhängig davon, ob das für unsere "Karrieren" förderlich oder hinderlich werden würde. Außerdem gab es ja auch schon zu DDR-Zeiten bestimmte kritische Ansätze, und es war m. E. schon wichtig, darüber nachzudenken, weshalb es da immer bei Ansätzen geblieben war. Mit einem weiteren Philosophenkollegen zusammen hatte ich auch versucht, mich bei den Angehörigen und Studenten der Bergakademie Freiberg (also nicht primär bei den neuen Verantwortungsträgern, obwohl die ja früher auch in den Vorlesungen gesessen hatten) zu entschuldigen - für all jenes, was ich über Jahre hinweg (neben Vernünftigem) an Unvernünftigem, z. T. wider besseres Wissen oder aber z. T. auch aus voller Überzeugung - in den Vorlesungen und Seminaren vorgetragen hatte, oftmals in der Hoffnung, daß die Zeit ausreiche, das alles einmal richtigzustellen und/oder besser machen zu können. Nun blieb also nur noch die Möglichkeit, einen angestrebten neuen Anfang selber zu reflektieren oder aber einfach zur Tagesordnung überzugehen. Ich habe mich für das erstere entschieden. Insofern wird in folgenden Texten einiges zur Geschichte der Philosophie in der DDR vorkommen. Es wird aber keine Geschichte der Philosophie der DDR werden. Die müßte von anderen geschrieben werden.
Es war sicher sehr naiv und blauäugig, an einen neuen Anfang auch marxistischen Philosophierens an ostdeutschen Hochschulen glauben zu wollen. Immerhin habe ich dann noch zwei Jahre im Studium generale an der Bergakademie Freiberg gearbeitet. In dieser Zeit bin ich mit der Frage konfrontiert worden, ob es denn in der DDR überhaupt Philosophen gegeben habe?

Die Frage ist starker Tobak, offensichtlich - und wenn sie dann noch einem DDR-Philosophen gestellt wird.. Man sollte aber im Sinne des Vorangesagten versuchen, ganz "cool" an das Problem herangehen und das Problem selber nicht vorschnell negieren. Auf die Frage gibt es - wie so oft - zwei extreme Antworten: NEIN, es gab sie nicht oder nur in ganz wenigen Exemplaren, die sich der Verbindung von Philosophie und realsozialistischer Politik bzw. deren Deformation entzogen; JA, es gab sie, insofern marxistisches Philosophieren als neue Qualität der Philosophie überhaupt erst die Aufgabe der Philosophie richtig bestimmte als Befreiung der Menschheit von jeglicher Art von Entfremdung, speziell der durch das Kapital. Die Deformation des Sozialismus durch die SED-Führung hatte damit nichts zu tun.-
Nun hatte uns Friedrich Engels gelehrt, daß es doch nicht nur ein Ja, ja oder Nein, nein gäbe - sondern noch das dialektische Herangehen an die komplizierten Probleme der Wirklichkeit bzw. des Denkens. Also vielleicht gibt es auf unsere Frage auch ein JEIN, welches zwischen beiden Extremen vermittelt und das so oft vorkommende Schwarz-Weiß-Denken überwindet?!
Eigentlich müßte man aber erst den Philosophiebegriff gründlich behandeln, um die Frage beantworten zu können. Ganz werden wir um diese Aufgabe auch nicht herumkommen, aber an dieser Stelle wollen wir uns mit einer Metapher begnügen. Nietzsche hat einmal gesagt, Philosophen sollten ihr Domizil "am Rande des Vesuvs" aufschlagen, um so immer der Gefahr ins Auge sehen zu können, die uns bedroht. Das wäre also eine Philosophie, die als risikovolles Unternehmen verstanden wird - mit Giordano Bruno als dem Philosophen, der seine Profession wirklich als Berufung verstand und mit dem Leben bezahlte. - Waren DDR-Philosophen risikobewußt, selbst wenn es dabei vielleicht nicht immer gleich um das eigene Leben gegangen wäre? - Da es verschiedene Risiken mit unterschiedlichem Gefahrengrad gibt, könnte man dann sagen: Man ist um so mehr Philosoph, je riskanter die jeweilige philosophische Tätigkeit ist.

4. Das Risiko des DDR-Philosophen

Auch wenn (fast) alle marxistischen Philosophen auf die eine wie die andere Weise ihren Frieden mit der SED-Führung (auch auf der Ebene der jeweiligen Kreisleitung!) geschlossen hatten, einige wenige waren doch risikofreudiger als die meisten derjenigen, die in der DDR als Philosophen galten. Im übrigen kann dieses Prinzip auch als Gradmesser für viele andere Tätigkeiten angesehen werden, deren Aufgabe es ist, Neues zu denken, zu entwerfen, zu schaffen: Wissenschaft, Management, Kunst, in gewisser Hinsicht jede menschliche Tätigkeit. Das Neue hat sich immer gegen das Alte durchzusetzen, und jenes tritt zumeist mit dem Attribut der Bewährtheit in den Ring.. Insofern hatte also auch der DDR-Philosoph eigentlich zwei "Gegner": Zum einen jene kapitalistische Gesellschaftsordnung, der nicht zufällig, sondern mit guten Gründen von Seiten der Arbeiterbewegung der Kampf angesagt worden war (ob die Gründe und erst recht die darauf aufbauenden strategischen Konzepte ausreichten, ist eine andere Frage). Zum anderen ging es aber auch gegen erstarrte realsozialistische Strukturen in Politik, Wirtschaft, Bildung, Ideologie und Kunst und dabei insbesondere wieder um die Radikalität der vorzuschlagenden Veränderungen. Es gab ja wohl kaum einen, dem alles an der DDR gefallen hatte; aber man traf nur wenige, die an die Wurzeln dieses Systems heran und den Sozialismus wirklich neu machen wollten. Kompliziert wurde das Ganze freilich immer wieder durch das beliebte Argument, daß solche Diskussionen nur dem Gegner nützen würden..
Aber Philosophen sollten die Welt ja bekanntlich nicht nur interpretieren, sondern sie verändern! (Ob Marx in der 11. These über Feuerbach wirklich die Philosophen angesprochen hat, wäre wieder ein Thema für sich!) Wer sich als DDR-Philosoph dieser Aufgabe entzogen hat, indem er sich in eine mehr oder weniger politikferne Geschichte zurückzog (auch wenn das in einer anderen Hinsicht durchaus sinnvoll sein kann), wer sich nicht mit der "Welt als Ganzem", sondern mit eher marginalen, speziellen Problemstellungen befaßte oder wer gar wirklich nur apologetisch wirkte, also mehr oder weniger nur die bekannten politischen Thesen und Losungen der DDR-Führung zum hundertsten Mal "begründete", der sollte sich die obige Frage schon gefallen lassen müssen. Natürlich ist es schwierig, heute nun die einen von den anderen scheiden zu wollen. Es gibt von den Philosophen der DDR wohl kaum einen, der in diesen Fragen eine völlig weiße Weste hat - mich eingeschlossen. Insofern geht es also weniger um Personen, als vielmehr um Haltungen, die von den einzelnen dann natürlich in differenzierter Weise, oftmals auch different entlang der eigenen Lebenslinie, eingenommen worden sind.

Am 8. Oktober 1989 (!) saßen ost- und westdeutsche Philosophen in Knappenrode zusammen und diskutierten über eine beliebte, schon lange hin- und hergewälzte Frage, nämlich über die nach der Risikoproblematik in den Ingenieurwissenschaften. Da fragten also Philosophen nach den Risiken, die Ingenieure in ihrer Arbeit eingehen (dürfen) und versuchten, diese zu klassifizieren, zu definieren usw. Spätestens an diesem Tage hätten wir endlich anfangen sollen, über das Risiko des Philosophierens nachzudenken.
Alle diese Fragen sind mittlerweile praktisch entschieden worden, genau so praktisch, wie seinerzeit Diogenes die Zenonschen Paradoxien von der (Unmöglichkeit der) Bewegung dadurch "widerlegte", indem er vor seinen Schülern hin- und herging, also eine theoretische Frage mit den Füßen entschied. (Ich halte mir mit dieser Analogie also noch ein Hintertürchen offen: Es war in der Antike die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz der Bewegung eine der schwierigsten philosophischen und mathematischen Fragen überhaupt. Die spätere Differentialrechnung ist ein Kind dieser Diskussionen, die mit dem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität, von Leerem und Vollem, von Teilbarkeit und Unteilbarkeit verbunden waren. Zenon hatte die scheinbare Unmöglichkeit von Bewegung, z. B. über die Parabel von Achilles und der Schildkröte, auf logischem Wege zu beweisen versucht. Diogenes konnte ihn nicht widerlegen, wohl aber entkräften. Analog dazu dürfte die Frage nach Sinn und Möglichkeit des Sozialismus theoretisch doch noch nicht völlig eindeutig entschieden sein.)
"Wir", die wir vor der Wende über das Problem des technischen Risikos philosophierten, "sitzen" heute in der Regel nicht mehr auf den Lehrstühlen und tragen unseren Titel nur noch pro forma; und selbst die, welche von uns noch in Amt und Würden philosophisch arbeiten können, wissen vielleicht nicht genau, ob sie sich deshalb tatsächlich glücklich schätzen dürfen. Diese Tatsache jedoch und ihre systematische und historische Einordnung könnte helfen zu erkennen, was philosophische Tätigkeit bedeuten sollte - nicht zuletzt unter gesellschaftlichen Bedingungen wie in der DDR, die man - um u. a. mit F. Schorlemmer zu sprechen - als ambivalent bezeichnen kann: Im Unterschied zur NS-Gesellschaft des deutschen Faschismus war der sog. reale Sozialismus ein System, das unter einem wirklich humanistischen Anspruch, die Menschheit befreien zu wollen, angetreten war. Dennoch entmündigte er ganze Völker, er diskreditierte die Ideen des Sozialismus und repräsentierte so den von Philosophen schon immer beschriebenen Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit, ob nun als Entäußerung oder Entfremdung verstanden, selber auf fatale und extreme Weise. Wer sich in einer solchen Gesellschaft als junger Mensch entschied, Philosoph zu werden, konnte diese Dialektik sicher noch nicht hinreichend scharf erkennen. Wer aber immer noch Philosoph sein wollte, nachdem er einige Erfahrungen gesammelt hatte, mußte diese Ambivalenz erkennen, in die er da hineingeraten war: Oder aber er war eben doch kein Philosoph gewesen - und insofern ist die obige Frage schon berechtigt.
Ist der Mensch ein "riskiertes Wesen" (was heißen soll: er ist - im Unterschied zum Tier - ein Wesen, das grundsätzlich in der Risikosituation lebt, sich als Individuum und als Gattung selbst jederzeit zerstören zu können), so müßte ein Philosoph dies zum einen genau so, zum anderen noch in gesteigerter Form sein: Er ist es (als historisches Subjekt), der diese existentielle Grundbefindlichkeit des Menschen aufgedeckt und zum Gegenstand theoretischer Reflexion gemacht hat, und er ist es als Individuum, das diese Befindlichkeit bewußt annehmen und so leben, also auch lehren müßte. Deshalb also Nietzsches Forderung bezüglich der Wohnungen von Philosophen.

Blicken wir auf die DDR-Philosophiegeschichte zurück, so war dieses Risiko objektiv wohl gegeben: Die Nähe zur offiziell-orthodoxen, marxstisch-leninistisch genannten Linie der "Partei der Arbeiterklasse" war für die Philosophie ganz sicher eine ständige Bedrohung und Herausforderung - und wir meinten wohl auch: Chance zur Mitwirkung bei Veränderungen im Rahmen eines Gesellschaftskonzeptes, das zunächst nicht einmal Philosophen wie Ernst Bloch prinzipiell in Frage stellen wollten. Und die Gefahr begann ganz konkret bereits hier, an dieser Stelle, wo von "Gesellschaftskonzept" die Rede ist:

5. Philosophie und Politik

Worin bestand eigentlich ein solches Gesellschaftskonzept, welche theoretischen Grundaussagen enthielt es und wie transformierte es solche Leitsätze in Strategien? Oder konnte sich ein Philosoph auf relativ abstrakte Ideale, auf eine Utopie, zurückziehen und dann den Abstand zur Realität beklagen?
Und wie sollte er philosophieren, wenn er gleichzeitig Parteisekretär oder staatlicher Leiter war (die sowieso überall als Sündenböcke herhalten mußten), wo solches Klagen völlig fehl am Platze gewesen wäre und wo natürlich sehr schnell klar wurde, wie klein der Spielraum war, der einem für die Entwicklung von Alternativen zur Verfügung stand!?
Aus heutiger Sicht, wo alle so viel klüger sind und wo auch frühere DDR-Philosophen sofort utopische Elemente bereits im Marx’schen Ansatz selber aufzudecken vermochten, so daß die gesamte Entwicklung nach dem Oktober 1917 als gigantischer Irrtum und als prinzipiell zum Scheitern verurteilt angesehen werden muß (oder kann ich noch sagen: müßte?), erscheint vieles von dem, was ich selber erlebt und gemacht habe, geradezu paradox und absurd.

War z. B. der Versuch, im marxistisch-leninistischen Grundlagenstudium die Systematik im Kurs Dialektischer und historischer Materialismus (DHM) zu verändern (um, wie ich meinte, die ganze Sache interessanter, lebensnäher gestalten zu können), nicht nur nicht verwirklichbar, sondern geradezu verurteilenswert, da er doch dazu hätte führen können, das Engagement von Studenten für einen sog. real-existierenden Sozialismus zu erhöhen, selbst wenn diese Gesellschaftsform in einem solchen Falle an vielen Stellen sehr kritisch zu beleuchten gewesen wäre? (Was natürlich auch mit der alten Systematik gegangen wäre...). Ich wollte die Philosophie nicht mehr isoliert von Ökonomie und Sozialismustheorie lehren und auch nicht mehr mit den abstrakten Grundkategorien beginnen, wie das traditionell in der Systematik festgeklopft war. Auch wollte ich diese Kategorien selber in die Diskussion hereinnehmen.
Ja - haben wir also Möglichkeiten in ausreichendem Maße gesucht und um deren Verwirklichung gekämpft, um wirklich philosophieren zu können? Wenn wir diese Frage konkret beantworten, ergibt sich wohl ein weitaus differenzierteres Bild, in dem das Bekenntnis zu eigener Verantwortung und Schuld mit dem Selbstbewußtsein einhergehen kann, der Drohung aus der Abteilung Wissenschaft des ZK der SED "Wir erwarten von Euch Gesellschaftswissenschaftlern neue Ideen; Ihr müßt aber den Gegenschlag aushalten, wenn wir diese Ideen für revisionistisch halten" gelegentlich oder des öfteren widerstanden zu haben. In einer solchen existentiellen Situation als Philosoph den Beruf bzw. die Berufung nicht aufgegeben zu haben, wobei es dafür mehrere Wege gegeben hätte, ist dann also auch als ambivalent anzusehen: Man muß es tadeln und loben.
In dem von mir oben angeführten Fall des Versuches einer neuen Systematisierung der Philosophie (in einem Studiengang für Nichtphilosophen, es ging also noch gar nicht ums "Ganze"!!) begegnete ich einer Haltung, die mich tief erschüttert haben müßte, wenn ich nicht schon mit ihr gerechnet hätte: Entgegen allen Prinzipien evolutionären Denkens meinte der stellvertretende Minister im Kreise seiner Prorektoren für Gesellschaftswissenschaften entgegnen zu müssen, daß man ein neues Konzept, zumal ein solch bedenkliches (!), erst dann einführen könne, wenn das alte Konzept überholt und deshalb nicht mehr erfolgreich sei. Diesen Nachweis hätte ich zu leisten.
Ich argumentierte "opportunistisch": Die Evolutionstheorie zeige, daß es keine nahtlosen Übergänge zwischen verschiedenen Arten, Methoden, Theorien u. ä. gibt - aber auch keine absoluten Sprünge, so daß also etwas Neues durchaus im Schoße des Bewährten oder neben diesem, als Konkurrent, auftreten könne, und dann erst zeige sich mit der Zeit, welche Variante unter den gegebenen Bedingungen die bessere ist.
Wenn ich heute darüber nachdenke, warum ich das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium (MLG) damals nicht als völlig verfehlt bezeichnet habe, um mein Konzept zu verteidigen, so war dies nicht einfach nur Ausdruck von Überlebenswillen o. ä. Ich sah keine andere Chance, als auf diese Weise das Bestehende systematisch zu ändern, und ich hatte die Hoffnung immer noch nicht verloren, daß das möglich sei. Die Formel vom Bewährt-Sein des MLG konnte ich für mich (als Dialektiker sozusagen) so weit interpretieren (d. h. dessen Veränderbarkeit mitdenkend), daß ich mich nicht sonderlich schämte, sie zu benutzen - obwohl mir klar war, daß mein Gegenüber das so nicht sah und ihm gegenüber eigentlich eine deutlichere Sprache angebracht gewesen wäre. Dann aber wäre die Diskussion sofort beendet worden oder in eine andere Richtung gelaufen: Niemand von meinen Kollegen Prorektoren hätte meine Behauptung unterstützt, so daß letztendlich herausgekommen wäre, daß nur an meiner Hochschule mit dem MLG "etwas nicht stimme".
Das entsprach aber nicht der Wahrheit, denn es stimmte ja nirgendwo mehr mit dem MLG, und insofern hätte ich die Unwahrheit gesagt, wenn ich die "Wahrheit" ausgesprochen hätte.
Ich mußte aber auch feststellen: Mit einer Ausnahme bewerteten alle meine Prorektorenkollegen mein Konzept als falsch, unhaltbar, unbegründet, revisionistisch. Die Veränderung des systematischen Aufbaus der Lehre des DHM sei der Anfang vom Ende, d. h. der Verlust der theoretisch-systematisch gesicherten Erklärungs- und Überzeugungskraft des Marxismus-Leninismus. Außerdem würde ein Chaos eintreten, wenn jeder sich das Recht nähme, die Systematik und damit das Lehrprogramm zu ändern. Diese Angst teilten übrigens die Protagonisten sämtlicher "Bestandteile" der ML, nicht nur die Philosophen. Erst nach der Wende meinte einer dieser Kollegen, wir hätten vielleicht doch diese Idee aufgreifen sollen...

Mittlerweile glaube ich zu wissen, daß solche und andere Vorschläge keine Chance hatten, und zwar deshalb, weil sie dem Wesen nach auf Pluralität, auf Modellvielfalt zielten und damit für das etablierte System tödlich waren, hätte es versucht, sie zu integrieren. Man mag und kann es nun nur als persönliche Rechtfertigung (was es natürlich auch ist...) abtun, aber alle Versuche, die Marx’sche Denkweise, oder sagen wir, da Marx ja ganz sicher auch in seiner Denkart nicht fehlerlos war, besser: eine dialektisch-materialistische Methode am Leben zu erhalten, sie zu praktizieren, und wenn erst einmal nur in der Form, Fragen zu stellen und Zweifel am "Bewährten" anzumelden, waren schon aus diesem internen Zweck heraus sinnvoll, selbst wenn sie zunächst gar nichts änderten. Aber sie machten doch allmählich und zum Schluß schlagartig deutlich, wie hohl das etablierte ideologische, politische, ökonomische System geworden war, das seinem aufrichtigen Jugendtraum (so äußerte sich F. Engels über den "späten" Schelling...) längst untreu geworden war. Daß es dann nicht durch die Philosophen zum Einsturz gebracht wurde, sondern durch die "Massen", entsprach ja dann schon fast wieder dem klassischen Konzept. Analog dazu haben m. E. Tausende einfache Funktionäre und Mitglieder in der SED durch ihre kritische Sicht auf die Dinge dazu wesentlich beigetragen, daß sich die Führung der SED im Oktober 1989 ihrer Genossen nicht mehr bedienen konnte, die "Wende" (wohin und wie oft sich diese dann später auch selber noch "wendete") aufzuhalten oder gar zusammenzuschießen.
Daß es also so war, so kompliziert und vielschichtig, widersprüchlich und gelegentlich auch gefährlich und riskant, läßt mich die Behauptung wagen, daß es in der DDR doch auch Philosophie gegeben hat, wenngleich auch längst nicht alle, die Philosophie studiert hatten, zu Philosophen wurden. Auch kann wohl keiner von uns behaupten, immer und überall dem Anspruch unserer Disziplin gerecht geworden zu sein. So habe ich z. B. damals auf mein Experiment verzichtet, wofür eine ganze Reihe von Gründen sprach; es bleibt aber auch unter dem Strich, hier nicht bis zum Ende gekämpft zu haben und damit den möglicherweise doch größeren Spielraum nicht erzwungen und erfahren zu haben.
Man wird nun leicht einwenden können, daß die Beziehung von Philosophie und Risiko bisher allzu sehr von der subjektiven Seite her, vom persönlichen Leben und Erleben des Philosophierenden selber behandelt worden sei. Dem muß ganz sicher zugestimmt werden; aber es ist eine Möglichkeit, mit der Analyse des Problems einzusetzen. Vielleicht deshalb an dieser Stelle

6. Ein erstes Resümee:

Der Gegenstand philosophischer Überlegung oder Tätigkeit ist - wie jede andere Tätigkeit zunächst auch - richtig betrieben immer zugleich auch ein Risiko für den Philosophen selber, ganz im Sinne von Nietzsches Metapher, aber auch im Sinne des originären Marx, der uns ja auch an allem zu zweifeln riet und dessen "Philosophie" man als in steter Aufhebung befindlich und in praktisches Handeln integriertes Denken auffassen kann - was gelegentlich als geradezu neuer Typ von Wissenschaft konzipiert worden ist. Das hat natürlich Konsequenzen für das "Subjekt", das sich plötzlich in einen Strudel der Ereignisse hineinversetzt sieht - mit ganz persönlichen Folgen für Leib und Seele, und die Möglichkeit einer wertfreien, interessenlosen Betrachtung der Welt bleibt von vornherein ausgeschlossen.

Das hat sofort auch Konsequenzen für die "Objekt-Seite" unseres Problems, nämlich für jene Gegenstände, auf die sich philosophisches Denken richtet: Die 11. These über Feuerbach von Karl Marx, was man auch immer in einer anderen Hinsicht gegen sie einwenden mag, geht die Risikohaftigkeit des Philosophierens konsequent an: Die Welt ist zu verändern, da sie als zu verändernde und zugleich als veränderbare erkannt worden ist.
Selten hat eine These den Gegenstand von Philosophie so sehr berührt, ja - geradezu zu revolutionieren versucht. Das damit gemeinte Ende klassischen, kontemplativen Philosophierens akzeptierend die einen, die Funktion interpretatorischen Denkens für alle Zeiten verteidigend die anderen - und dem dann wie in einer Matrix die verschiedenen politischen Indienstnahmen der Philosophie zugeordnet, so ergibt sich eine plurale Struktur der Beziehungen der Philosophie zur Welt, die dann freilich in der Interpretation von Marx zu einer sehr riskanten Entscheidung führt: Philosophie - und mit ihr der Philosoph - hat sich auf die Welt als veränderbare zu beziehen und nach einem Träger zu suchen, der - damals als Proletariat gefunden und verstanden - die Philosophie in sich aufhebt und quasi als materiell gewordenes Philosophieren die Ideen der Aufklärung, des Humanismus über die bürgerliche Gesellschaft hinausführt. Das ist alles bekannt - und nach dem Zusammenbruch des orthodoxen Marxismus wird noch lange Zeit gründlich über diesen Anspruch, seine Konsequenzen und vielleicht schon im Ansatz existierende Mängel nachgedacht werden müssen - zumindest, um wenigstens die regulative Kraft dieser Idee am Leben zu erhalten.

Teil 1 von  Philosophie in der DDR