Pluralität und Pluralismus Die PDS und das Problem des Pluralismus. (Frank Richter, Freiberg)

1. Das Thema des Pluralismus ist für die PDS aus einem (scheinbar) rein akademischen Problem längst auch zu einem praktischen geworden, das von der "Basis" auf deren Weise und dazu noch mehr oder weniger kritisch zur Kenntnis genommen oder diskutiert wird: Pluralismus könne es in einer Partei nicht geben, die sich zu einer Weltanschauung bekenne und außerdem politisch definierte Ziele anstrebe. Zwar seien die Prinzipien der Einheit, Reinheit und Geschlossenheit der Partei in der SED durch die Deformation des demokratischen Zentralismus ausgehöhlt und verfälscht worden, aber letztendlich sollte man sich doch heute, unter neuen Bedingungen, an diese Prinzipien halten, wenn die PDS nicht in inneren Grabenkämpfen ausbluten und dann doch auseinanderfallen solle.
 
 

2. Pluralismus, ja schon Pluralität passen nicht zu einem Parteienverständnis, das - sei es überholt oder nicht - von Parteimitgliedern Einheitlichkeit im Denken und Handeln fordert. Mag es zwischen verschiedenen Parteien Nuancen in dieser Frage geben - im Grundsätzlichen sind sie sich da alle - eben als klassische politische Parteien - einig. Das erscheint auch logisch: Wer die Grundidee oder entscheidende Positionen einer bestimmten Partei nicht mittragen will, muß ja nicht Mitglied dieser Partei sein. Deshalb verlassen Leute "ihre" Partei, gibt es Parteiausschlüsse, man erklärt sich als Sympathisant u.a.
 
 

3. Aber schon vom Prinzip her kann man Einheitlichkeit immer nur im Grundsätzlichen fordern. Abweichungen wird es überall und immer geben. Die Frage ist also, wie weit das Grundsätzliche reicht und ob man dem Einigenden zuliebe das Trennende zurückstellen darf oder sogar muß, um den Sinn einer Partei nicht zu gefährden. Letzteres mag für die Arbeit einer Partei unter den Bedingungen der Illegalität wie im zaristischen Rußland sinnvoll sein; für eine "herrschende" Partei erwies sich dieses Prinzip allerdings als kontraproduktiv und letztlich selbstzerstörerisch.

Unter diesen Aspekten erscheint der Gedanke, über das Zulassen von Pluralität (oder sogar von Pluralismus) in einer Partei wie der PDS eine Einheit der Linken (oder einer bestimmten Gruppe von Linken) trotz der Existenz verschiedener linker Strömungen zu ermöglichen, als wichtige innovative Zielsetzung. Aber man kann nicht dieses Resultat haben wollen und alles andere beim alten lassen wollen.
 
 

4. Es ist offensichtlich, daß sich die PDS als Ganzes - und nicht nur ihre theoretischen Köpfe - einem völlig neuen Anspruch stellt, nämlich erstmals eine solche pluralistische Partei sein zu wollen. Wenn das so ist, erscheint es zwingend, daß dieser Anspruch mit dem traditionellen Politik-, Theorie- und Weltanschauungsverständnis, das ja auch in der PDS noch existiert, in Konflikt gerät. Zu einem solchen traditionellen Verständnis gehört die Vorstellung, daß es unabhängig von allen menschlichen Irrtümern eine, die Wahrheit gibt, der sich wir uns unaufhörlich nähern, daß wir über eine wissenschaftliche begründete Weltanschauung verfügen, daß sich aus einer gegebenen Weltanschauung und Theorie die Politik eindeutig ableiten läßt. Alle diese "Voraussetzungen" haben sich als problematisch erwiesen, und das will im Sinne von Friedrich Engels heißen: Die hier auftretenden Fragen lassen sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Das heißt auch: Wer die Dialektik für sich pachtet, muß sie auch auf sich selber anwenden wollen und können.
 
 

5. Noch problematischer ist die Überzeugung, daß eine Politik, die sich auf einen wahren weltanschaulichen Ansatz stützt, unbedingt erfolgreich sein muß. (Vgl. solche DDR-Lehrbuchweisheiten wie: "Die Politik der SED ist richtig, weil sie sich auf die materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie stützt" u.ä.) Selbst wenn die materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie eine absolute, ewige Wahrheit wäre, geht ein solcher Satz nicht auf, weil erwiesenermaßen mit Bezug auf dieses philosophischen Prinzip auch "falsche Politik" gemacht werden kann. Politische Forderungen sind niemals eindeutig auf philosophische Prinzipien gründbar. Insofern ist es auch vorstellbar, daß verschiedene politische Ziele auf ein und dasselbe philosophische Prinzip Bezug nehmen können. Das Marxsche Prinzip "Der Mensch ist das höchste Wesen für den Menschen" kann mit sehr verschiedenen politischen Strategien verknüpft werden und es gestattet auch nicht, zwischen verschiedenen Wegen zum Sozialismus o.ä. den einzig richtigen auszuwählen.
 
 

>6. Das geht schon deshalb nicht, weil sich nicht einmal philosophische Prinzipien - und das gilt auch für den Materialismus - als ewige Wahrheiten darstellen. Zu einem philosophischen Prinzip gehört: Ich muß die Wahrheit dieser These begründen, mich mit anderen Auffassungen auseinandersetzen und auch gegebenenfalls selbst Korrekturen an diesem Prinzip vornehmen. Es reicht also nicht aus, einfach das Primat der Materie zu behaupten. Ich muß das Thema systematisch darlegen, diskutieren, verschiedene Antworten prüfen. Nur für den "Dogmatiker" ist da schon alles klar und jede Diskussion eigentlich schädlich.
 
 

7. Erst recht zeigt sich das, wenn man die philosophische Ebene verläßt und z. B. konkrete Gesellschaftsmodelle, die weit über die Philosophie hinausgehen müssen, entwickeln will. Den Kapitalismus (der nicht einfach mit dem Grundgesetz oder dem Kapital identisch ist!) beseitigen und dabei vielleicht zum Realsozialismus zurückkehren, die "moderne Gesellschaft" reformieren oder einen dritten Weg suchen - das zu diskutieren muß heute in der PDS möglich sein. Das funktioniert innerhalb einer Partei natürlich nur dann, wenn jede dieser Plattformen die beiden anderen respektiert und die Wahrheit nicht schon dann für sich beansprucht, wenn die Praxis überhaupt noch nicht als Wahrheitskriterium in Aktion treten konnte.
 
 

8. Wenn Politik und Theorie nicht so eng aufeinander bezogen sind, wie das in der SED immer behauptet wurde (und dabei kaum jemals wirklich realisiert wurde), so kann man besser begreifen, warum sich Theoretiker und Praktiker oftmals nicht verstehen können. Beide Seiten können daraus aber auch lernen, daß es für jede eine Existenzberechtigung und daß es Spielräume im Gefüge theoretischer und praktischer Anforderungen und Aufgaben gibt, die konkret in Raum und Zeit, also unter konkreten historischen Bedingungen in strategische Programme umgesetzt und erprobt werden müssen. Das geht wiederum nur, wenn sie in politisch-praktische Konzepte auf den verschiedenen Ebenen (Bund, Land, Kommune) umgesetzt und auf diesen Ebenen getestet werden. Das erfordert Zeit. Rückschlüsse aus erfolgreichen oder erfolglosen politischen Aktionen auf die Strategie müssen mit Vorsicht erfolgen. Man sollte nicht auf jedem Parteitag eine neue Strategie beschließen.

Hinzukommt, daß die Politik auf den verschiedenen Ebenen jeweils wieder mit variierenden Zielsetzungen, Methoden und Bündnissen betrieben werden kann. Solche Bündnisse müssen nicht immer direkt zur Strategie passen, sie müssen aber auch nicht nur in solchen Kompromissen bestehen, die vom jeweiligen Ziel wegführen. Das darf nicht mit bedingungslosem politischen Pragmatismus und theoretischer Beliebigkeit verwechselt werden. Diese Frage tritt erst auf, wenn es in der Diskussion um die theoretischen Prämissen der Strategie der PDS geht: Ist die angestrebte theoretische Offenheit Ausdruck einer zu begrüßenden Vielfalt in der Partei oder bereits jene theoretische Beliebigkeit, die dann auch mit Marxismus überhaupt nichts mehr zu tun hat?
 
 

9. Offensichtlich gibt es verschiedene Formen von Vielfalt: praktisch-politische, theoretische oder solche in Gestalt von "Plattformen" als Synthese beider Aspekte innerhalb von Parteien. Solche Vielfalten können sowohl auf ein und derselben Ebene (Bund, Land, Kommune) als auch zwischen diesen Ebenen auftreten. Vielfalt auf der praktisch-politischen Ebene ist dabei leichter zu akzeptieren als auf der theoretischen oder der organisatorischen. Aber auch hier erfordert das Gelingen einer bestimmten Politik letztendlich eine bestimmte Einheitlichkeit.

Geht es nicht nur um Pluralität, sondern wirklich um Pluralismus, so wird die Vielzahl nicht nur als eben gegeben hingenommen, sondern zum Prinzip erhoben: Der Inhalt der einzelnen Positionen, die zum gegebenen Zeitpunkt als mit den Grundsätzen der PDS wenigstens im Grundlegenden in Übereinstimmung befindlich angesehen werden, steht letztendlich in der Bedeutung hinter der Tatsache und der Anerkennung von Pluralität als Grundprinzip zurück. Alle vertretenen Positionen sind zudem gleichberechtigt und gleichwertig. Eine Wahrheitsentscheidung zwischen diesen Positionen gibt es nicht und sie ist auch nicht notwendig.-

Dennoch gibt es auch hier immer das Problem, eine Grenze ziehen zu müssen: Was außerhalb dieser Grenze liegt, wird trotz des Pluralismus für die betreffende Gemeinschaft als inakzeptabel ausgeschlossen. Beispiel: Soll es in der PDS eine kommunistische Plattform geben, ist in der PDS Antikommunismus für einzelne Mitglieder denkbar und tolerierbar? Die Antwort hierzu liegt offensichtlich im Begriff des Kommunismus verborgen, der jeweils verwendet wird. Gegen einen Kommunismus, in dem die Befreiung des Einzelnen die Voraussetzung für die Befreiung aller ist, kann eigentlich niemand etwas haben; gegen einen Kommunismus, der die Herrschaftsformen Stalins oder Honeckers wiederherstellen will, schon! Nur - so klar sind die Positionen ja zumeist nicht artikuliert, und oftmals wird das auch nicht so deutlich. Da hilft nur Diskussion und nicht vorschnelle Ausgrenzung. Aber notfalls muß man sich dann auch mal von jemandem trennen können.
 
 

10. Es ist schon problematisch genug, ob es für Personen und Gruppen eine wirkliche Pluralität von Konzeptionen geben kann - von Pluralismus ganz zu schweigen. Eine Person kann wohl höchstens im Verlaufe ihres Lebens verschiedene Konzepte vertreten. (Aber immerhin kennen wir den Zustand, daß verschiedene "Seelen in ein und derselben Brust" miteinander kämpfen!) Bei einer Gruppe wie den Parteien ginge das nur über Plattformen. Für die Gesellschaft als Ganzes, die immer in Gruppen gegliedert ist, ist es etwas Normales. Unnormal wäre hier das Gegenteil. Genau hier liegt der Unterschied von offenen und geschlossenen Gesellschaften.

Möglicherweise handelt es sich aber bei der Vielfalt oftmals nur um spezifische Konkretisierungen ein und desselben theoretischen oder praktischen Grundprinzips (etwa: verschiedene Konzepte stützen sich jeweils auf das Grundgesetz, auf das Christentum, auf den Marxismus bzw. auf einige deren Leitsätze). In diesen Fällen ist die Pluralität nur eine scheinbare (besser: eine interne) bzw. nur eine solche auf "unteren" Ebenen: aus dem gleichen Grundprinzip werden verschiedene konkretere Theorien entwickelt. Zu dem Mißverständnis, es handele sich dabei um ganz verschiedene, sogar feindliche Auffassungen, können zusätzlich verschiedene "Sprachen", unzureichende theoretische Begriffsarbeit (z. B. zum Verhältnis von Stalinismus und Sozialismus in der Sowjetunion), unterschiedliche Traditionsbezüge, aber auch persönliche oder scheinbar dringende, aktuell-politische Gründe beitragen. Ich denke, daß zumindest einige wechselseitige Vorwürfe im Zusammenhang mit der kommunistischen Plattform in der PDS hier ihre Wurzeln haben.

Aber natürlich gibt es auch echte Pluralität: Religion und Atheismus; verschiedene Gesellschaftskonzepte, verschiedene Auswege aus der globalen Krise der Menschheit, aber auch Kommunismus und Antikommunismus. Wenn wir auch solche Gegensätze in der PDS, nicht nur als vereinzelt auftretende individuelle Meinungen, sondern in Gestalt von Plattformen als mit der Strategie der PDS vereinbar und sogar als wünschenswert zulassen, dann und nur dann würde Pluralismus im strengen Sinne des Wortes vorliegen.- Das ist aber offenkundig gar nicht der Fall. Insofern haben wir es wohl hinsichtlich des "pluralistischen Charakters der PDS" mit einer modernistisch-euphorischen Ausdruckweise zu tun, der wir als moderne Partei gar nicht verpflichtet sein müssen. Außerdem entsteht eine Nähe zur Thematik der Postmoderne, die wahrscheinlich nicht gewollt ist.
 
 

11. Wenn es um den Pluralismus gehen soll, wäre deshalb zu prüfen, ob vielleicht gar kein Pluralismus gemeint ist, sondern "nur" Toleranz. Hier kann dann wiederum Toleranz in verschiedenen Formen auftreten: Akzeptanz der Gleichwertigkeit verschiedener Positionen (Ringparabel) oder als Duldung des Vertretendürfens bestimmter, letztendlich jedoch als falsch angesehener Positionen. Auch bei Toleranz gibt es jedoch das Grenzproblem (z. B. Toleranz gegenüber nationalsozialistischen Ideologien, aber auch schon in Bezug auf die freie Marktwirtschaft oder den "Realsozialismus").
 
 

12. Aus dem Voranstehenden ließe sich folgendes Bild einer Beziehung von "Einheit" (als Identität, Singularität, Geschlossenheit) und "Vielfalt" (Mannigfaltigkeit, Pluralität) ableiten und graphisch darstellen, wenn wir davon ausgehen, daß "Theorie" nicht etwas ist, das die Realität ein und für alle mal richtig, wahr, abbildet, sondern ein komplexer Prozeß der Vermittlung von Theorie und Praxis darstellt, also selber auch schon etwas Praktisches ist - wie die Praxis auch etwas Theoretisches (vgl. dazu die Feuerbachthesen von Marx). Zur Vereinfachung werden nur 3 Ebenen angenommen. Klar ist, daß es dazwischen weitere Ebenen geben kann:

Ebene I : Singularität eines abstrakten (vor-) theoretischen Prinzips (z. B. Demokratie, Gott, Materie als Primat, Sozialismus oder Kommunismus), das als Grundsatz noch nicht konkret ausgearbeitet ist. Sobald diese Konkretisierung erfolgt, wird aus dem Singular ein "Plural in und durch Singularität". Aus dem Punkt wird eine Fläche bzw. ein Kegel.
 
  Ebene II: Theoretische und/oder praktische Vielfalt von Konzepten, die einander ergänzen oder bekämpfen (Supplemente, Komplemente, Widersprüche, Einheit) - als Ergebnisse unterschiedlicher Konkretisierungen desselben Grundprinzips.
 
  Ebene III: Suche nach einer praktikablen Synthese verschiedener theoretischer Systeme als Voraussetzung für praktisches Handeln von Personen und Gruppen , im Idealfall der "ganzen Partei", z. B. bei Wahlen. Zurücknahme der Vielfalt, Vereinfachung, Einbringung zeitlicher Horizonte und konkreter Aufgaben.

13. Daraus ergibt sich weiter, daß Personen, Gruppen, Parteien oder ganze Gesellschaften strenggenommen weder pluralistisch noch singulär (monistisch) sein können, sondern daß sie es immer mit beiden Aspekten zu tun haben. Zwar führen verschiedene Wege nach Rom, aber doch wiederum auch nicht alle, und in bestimmten Situationen ist eine einheitliche Frontstellung o.ä. erforderlich. Wer sich diesen Synthesen, die auch mit Kompromissen verbunden sind, nicht anschließen kann, muß nun selbst auch tolerant sein können - oder er muß die Partei verlassen.

Eine Partei wie die PDS muß also ein Konzept entwickeln, wie sie mit der Pluralität umgehen will, ohne selbst pluralistisch sein zu können. Dabei zeigt es sich, daß die theoretische Vielfalt nicht identisch mit der programmatischen und diese wiederum nicht identisch mit dem Spektrum der Tagspolitik sein kann und sein muß. Aus diesem Grund wäre es für die PDS tödlich, wenn die verschiedenen Ebenen geleugnet, nivelliert oder gegeneinander ausgespielt würden.
 
 

14. Ein besonderes Problem dabei ist, daß unser Leben immer noch von allzu vielen ISMEN geprägt ist: Sozialismus, Kapitalismus, Marxismus, Pluralismus usw. Da wird aus Marx' Lehre der Marxismus, der dann schnell zum Dogma gerät, da wird aus dem Kapital das heilbringende Gesellschaftssystem und aus der Berücksichtigung des sozialen Aspektes die alle Probleme lösende Alternative. Und aus überall vorkommender und eigentlich nützlicher Vielfalt wird der Pluralismus, der aus der Vielfalt dann schon wieder eine Barriere gegen einen vernünftigen Umgang mit Vielfalt macht. Hüten wir uns vor ISMEN, da sie allzuoft den rationalen Kern einer historisch-konkreten Theorie oder ein in der Erfahrung gegebenes Faktum zeitlos verallgemeinern, abstrakt fassen und damit gegenüber dem konkreten Leben abschotten. Dort, wo wir sie verwenden müssen, weil wir keine anderen Wörter haben, sollten wir versuchen, dieser immer lauernden Gefahr entgegenzutreten.