Sozialismus? Kapitalismus?

Frank Richter, Freiberg

 

Wenige Wochen nach Gründung der PDS wurde ich auf einer Versammlung gefragt: Wenn denn der reale Sozialismus schon gescheitert sei, wird wenigstens der Marxismus bestehen bleiben? Meine Antwort war ein JEIN, was sowohl Zustimmung, Überraschung, aber auch Empörung bzw. Ablehnung fand. Später bat mich ein Ingenieur, Sympathisant der PDS aus Dresden, an der Wiederherstellung eines von politischen Deformationen (aus DDR-Zeit) freien dialektischen Materialismus mitzuwirken. So verlockend das Angebot zunächst auch war, ich trennte mich dann von dem Projekt, weil ich den Eindruck hatte, hier sollte eine Neuauflage eines kurzen Kurses des Diamat erfolgen, die einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollte, wie komplex die Probleme unserer Zeit sind und wie vorsichtig man als Philosoph oder Sozialwissenschaftler mit ihnen umgehen muß.
Auch die nicht abreißenden Diskussionen über die kapitalistische Natur der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland sprechen dafür, die Frage nach unseren sprachlichen Instrumentarien, die wir für die Orientierung in der natürlichen wie sozialen Welt verwenden und mit denen wir theoretische Konzepte darstellen, wieder aufzuwerfen und zur Diskussion zu stellen. Dabei ist es mir klar, daß es für ein politisches Programm sinnvoll, ja notwendig ist, schlagkräftige Formulierungen, Benennungen, Begriffe zu haben, mit denen ein Ziel oder eine Lagebeschreibung schnell und eindeutig bestimmt werden können. Hier scheinen solche Begriffe wie Sozialismus, Kommunismus, Kapitalismus, aber auch Marxismus oder Materialismus noch ihren Sinn zu haben; je differenzierter und analytisch präziser jedoch eine Aussage über ein bestimmtes politisches Problem wird, je stärker Schwarz-Weiß-Denken vermieden wird, desto unbestimmter wird ihre Stoßrichtung. Die Abwägung verschiedener Bedenken wird dazu führen, daß das Risiko einer bestimmten Aktion in das Blickfeld gerät und den vielleicht zu Anfang vorhandenen Schwung erlahmen läßt. Aber wenn es gegen den Kapitalismus geht...?! Da mag es dann befremden, wenn eine Avantgardistin der PDS wie die Genossin Ostrowski aus Dresden, offen erklärt, sie könne durchaus im Kapitalismus leben und für die Sache eben dieser PDS hier kämpfen. Wieso will sie nicht den Kapitalismus dieser BRD abschaffen, wie es sich für eine linke Partei zu gehören scheint??
Aber wenn auf einmal die Marktwirtschaft zur Debatte steht, mit ihren sozialen Komponenten, politischen Rechten - bei allen Einschränkungen, muß man die vielleicht sogar noch gegen Deregulierung, erneute Umverteilung und Globalisierung verteidigen? Und: Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Kapitalismus reden?
Nachfolgende Überlegung stelle ich nicht deshalb an, um den Verfassungsschutz zu beruhigen oder zu täuschen; es geht mir also nicht um eine taktiererische Frage. Vielmehr geht es um ein strategisches Problem und zugleich um die Widerspiegelung dieser Strategie in regional-aktueller Politik. Es kann ja nicht sein, daß beide Ebenen vollständig getrennt nebeneinander stehen. Es kann auch nicht sein, daß wir die strategische Sicht nur in globalen Dokumenten mehr oder weniger verpacken, dafür aber annehmen, in der Tagespolitik unabhängig von der Strategie vorgehen zu können. Und dann sind natürlich auch in einer Partei wie der PDS sogar verschiedene Strategien denkbar... Das hängt nun aber wieder mit den Grundbegriffen zusammen, die wir bei der Erarbeitung unserer Strategie verwenden.
Leider ist es sogar noch komplizierter: Es spielt auch eine Rolle, was man überhaupt unter Begriffen versteht, wie man sie auf Realität(en) bezieht, wie man ihre Widerspiegelungsfunktion bewertet. Was meinen wir eigentlich, wenn wir "Sozialismus" sagen? Denken wir dabei an alle die Länder, die sich eine "sozialistische" Verfassung gegeben hatten, mit all jenen Eigenheiten, Merkmalen, Strukturen, Politikern und politischen Konzepten, also in ihrer "Totalität", ihrer Ganzheitlichkeit, mit ihren positiven wie negativen Erscheinungsbildern - also mit dem "Volkseigentum" an Produktionsmitteln, mit den "demokratisch-zentralistisch" verfaßten Parteien der "Arbeiterklasse", der Bündnispolitik, mit der sozialen Fürsorge, der Vollbeschäftigung, dem Kollektivismus, den Genossenschaften in Landwirtschaft und Handwerk, den ewigen Knappheiten und Mängeln und nicht zuletzt mit den Leuten, die das alles mittrugen, realisierten und auch kritisierten? Oder denken wir dabei nur an ein ganz bestimmtes Merkmal, das wir als wesentlich, also bestimmend für einen Typ von Gesellschaftsordnung halten - z. B. eine ganz bestimmte Verteilung des Eigentums oder die bestimmenden Klasseninteressen?
Im ersten Fall ist es ziemlich einfach: solche sozialistischen Länder hat es tatsächlich gegeben, und sie waren tatsächlich durch einen "realen", relativen und nicht utopischen Sozialismus gekennzeichnet. Man konnte sich zwar immer einen weitaus besseren Sozialismus vorstellen ("Nichts ist so gut, daß es nicht noch verbessert werden kann" - das durfte ja selbst für den Sozialismus gelten), aber unter bestimmten Bedingungen und Kompromissen konnte man in ihm leben, und selbst viele von denen, die nicht in ihm leben wollten, hätten gerne in einem "richtigen" Sozialismus gelebt. Immerhin hatte dieser Sozialismus seine historische und grundsätzliche Wurzel in einer Kritik am Kapitalismus, die auch heute zu einem großen Teil immer noch gerechtfertigt ist. Insofern mag die These Peter Benders ihre Berechtigung haben, die Ostdeutschen seien in ihrer Mehrheit "unbewußte Sozialisten".
Im zweiten Fall wird es schwierig: Hatten wir denn wirklich Volkseigentum, und waren wirklich die Interessen der Arbeiterklasse die "führenden", so daß wir tatsächlich von Sozialismus sprechen konnten? Konnte es einen Sozialismus geben, in dem die "Diktatur des Proletariats" weitgehend durch eine Diktatur der Parteinomenklatur ersetzt war? Und wurde möglicherweise dann all das, was uns im realen Leben als Nähe, sozialer Kontakt und Kollektivität so wertvoll war, durch jene Defizite an Demokratie vollständig entwertet? War denn nicht auch der Sozialismus in jedem einzelnen Land unteilbar - in dem Sinne, daß es nicht Sozialismus sein konnte, wenn die Massen nicht wirklich die Macht besaßen, sondern nur ein Sozialismus-Surrogat, ein Ersatz? Wir sehen gleichzeitig, daß wir mit dem Sozialismus-Begriff durchaus verschiedene Maßstäbe an reale Verhältnisse anlegen können: Der Sozialismus-Begriff von Stalin war nicht unbedingt der von Erich Honecker, und dieser auf keinen Fall identisch mit dem von Robert Havemann oder Dubcek. Dabei ist es sehr schwierig, den Wahrheitsgehalt der verschiedenen Sozialismus-Modelle eindeutig zu bestimmen - zumal diese stark ideologisch belastet sind und auch die Gesellschaftswissenschaften, speziell die marxistischen, in diesem Teufelskreis drinsteckten; die Komplexität der Realität verführt außerdem oftmals dazu, falsche Konzepte zu stützen und zu propagieren.
Wenn es heute darum geht festzustellen, ob die BRD eine kapitalistische Gesellschaft ist oder nicht bzw. ob man mit diesem Ausdruck diese Gesellschaft hinreichend und ausreichend definiert hat, ob man als Linke/r in einem solchen Kapitalismus zu Hause sein kann oder nicht oder wenigstens "anzukommen" versuchen soll - dann liegt hier ein analoges Problem vor uns. Verwenden wir den Ausdruck Kapitalismus für die Beschreibung all der Seiten der Bundesrepublik Deutschland, von der Wirtschaft über die Parlamente und Parteien, Kommunen, Staat und Justiz, Bildung und Wissenschaft, Außenpolitik, Beschäftigung bis hin zu Menschenrechten, sozialer Sicherheit und Unsicherheit, Bildung, Medien, Lebensqualität - oder benutzen wir diesen Begriff nur zur Benennung des Kapitalprinzips, also des Strebens nach Kapitalverwertung um der Kapitalverwertung willen? Und wenn wir letzteres bevorzugen: Gibt es nur eine einzige Möglichkeit, den Kapitalismus zu definieren - oder existiert auch hier ein theoretischer Raum von Möglichkeiten und Wirklichkeiten, die zugleich den Kampfplatz der Auseinandersetzung um Rolle, Wesen und Perspektiven des Kapitalismus in der heutigen Welt ausmachen? Meint Kapitalismus immer und einfach nur das unrühmliche Kapitalverwertungsprinzip, oder gibt es vielleicht doch eine Vielzahl von historischen und strukturellen Formen, in denen sich Kapitaldominanz realisiert - bis hin zu einem Konzept, das eine Entwicklungs-, Reform- und Friedensfähigkeit des Kapitalismus mitzudenken in der Lage ist?
Mit einer solchen Pluralität von Konzepten umzugehen ist schwierig, insbesondere in jenem Schmelztiegel von Politik und Theorie, der die Arbeit einer Partei wie der PDS bestimmt. Aber wenn der Marxismus überhaupt noch einmal eine Chance bekommen soll, dann dadurch, daß er dieses komplizierte theoretische und praktische Problem aufgreift und im Konzert der Weltanschauungen und Theorien versucht, seinen Teil beizutragen, ohne sofort wieder in Alleinvertretungsansprüche zu verfallen. Ende der 80er Jahre vermeinten wir plötzlich zu erkennen (oder besser: zugeben zu dürfen), daß die Entwicklung nach vorn offen ist. Deswegen muß man nicht einmal - um ein Beispiel zu nennen - die Zielsetzung Kommunismus aufgeben. Aber es muß sich dabei um eine neue, den heutigen Bedingungen gemäße Zielsetzung handeln und sie muß ihre Wurzeln, wie der Marxismus insgesamt, wirklich in der Geschichte der gesamten Zivilisation haben.
Ganz sicher wird die PDS kein System wollen, in dem das Kapitalprinzip uneingeschränkt herrscht - selbst wenn dessen Apologeten nicht müde werden zu versichern: ohne dieses Prinzip keine Demokratie, kein Wohlstand, keine Dynamik. Das mag ja sein, wir wissen jedoch auch um ziemlich schwerwiegende Konsequenzen dieses Prinzips wie Massenarbeitslosigkeit, soziale, ethnische und sexuelle Diskriminierung, ungerechte Verteilung des Reichtums, Aushöhlung demokratischer Rechte, Naturzerstörung. Das Geld regiert die Welt. Man kann gegen ein solches System kämpfen und dennoch bzw. gerade deshalb auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Dieses steht u. a. für die Durchsetzung von Menschenrechten und eine vernünftige Verwendung von Eigentum. Wenn also eine Forderung nach Abschaffung des Kapitalismus den Eindruck erweckt, es solle damit gleichzeitig das Grundgesetz abgeschafft werden (was ja nicht dasselbe ist wie seine weitere Ausgestaltung), dann wird nicht nur - wenigstens in diesem Falle zu Recht! - der Verfassungsschutz aufmerksam, dann wird eine spezielle Forderung unzulässig ausgeweitet. Diese wäre ja auch niemals mehrheitsfähig und führte zu Politikunfähigkeit.
Jene Verläßlichkeit der PDS, von der André Brie gesprochen hat - sie ist ein Problem, das genau in dieser begrifflichen Unklarheit in Bezug auf die Begriffe Sozialismus und Kapitalismus und der darauf beruhenden Unsicherheit bei den Mitgliedern der PDS eine wichtige Ursache hat. Die Forderung der Erfurter Erklärung, die PDS solle sich stärker von der DDR-Vergangenheit distanzieren, hängt damit zusammen. DDR-Nostalgie ist kein Kavaliersdelikt, und erst recht nicht, wenn sie zu einer nachträglichen Verklärung des Sozialismus im Sinne einer Rechtfertigung des in der DDR herrschenden Sozialismustyps führt. Und wir müssen auch begreifen, daß man nicht einfach bestimmte Elemente des Systems der DDR (z. B. die niedrigen Mieten oder den sicheren Arbeitsplatz) in die BRD überführen kann - weil (und das müßten wir Dialektiker eigentlich begreifen) jedes dieser Elemente von einer Vielzahl anderer Elemente und Bedingungen abhängig war, die es eben in der BRD nicht gibt. Wenn uns etwas hier und heute nicht gefällt, dann muß man etwas Neues machen. Nostalgie ist reaktionär - das stand schon in DDR-Nachschlagewerken, auch wenn das damals gegen die "gute alte Zeit" des Kaiserreiches o. ä. gerichtet war. Etwas anderes ist es, wie jeder einzelne die DDR ganz persönlich erlebt hat, mit ihren guten und schlechten Seiten; und daß sich da eine/r der guten Seiten gerne erinnert, dürfte ganz normal sein. Aber für eine Strategie reicht das nicht aus.

(Der Text stammt aus dem Jahr 1998. Dieser Beitrag ist gleichzeitig für eine Veröffentlichung auf der Forum-Seite der Tageszeitung Neues Deutschland eingereicht worden.)