Rüdiger Lutz:

Sachzwänge - das Unwort der CORCORAN-Apologeten

Bestimmte Umstände verlangen nach adäquaten Handlungsmaximen und Entscheidungshilfen. Dazu gehören die sogenannten Sachzwänge als Rechtfertigungsbasis. Dabei übt eine Sache an sich niemals einen Zwang aus, sondern dieser kann nur durch Menschen initiiert und exekutiert werden (H.W.J. Rittel). Ein Atomkraftwerk ist kein Sachzwang, weil es ohne die menschliche Denk- und Arbeitsleistung überhaupt nicht existieren würde. Eine FolgenabschätzungsAnalyse hätte auf jeden Fall ergeben, dass es besser wäre keinen Nuklear-Reaktor in Betrieb zu setzen. Amory Lovins hat noch in den siebziger Jahren, also schon in der Realisierungsphase des Atomzeitalters, konstatiert, dass es immer noch billiger wäre, die existenten Atomkraftwerke abzuschalten als weiterzubetreiben. Doch durch ihre blosse Existenz sind diese gefährlichen und umweltschädigenden Energieproduzenten jetzt aber zum Sachzwang geworden - man muss mit ihnen leben. Vergiftung oder Energiemangel sind die Skylla und Charybdis im "Atomic Cafe" (amerikanischer Aufklärungsfilm für Schulkinder als Persiflage) des Spätindustrialismus.

Mit Sachwängen zu argumentieren heisst, den variablen Gestaltungsspielraum einzuengen und damit die anstehenden "issues" zu reduzieren im Hinblick auf eine schon bestehende "hidden agenda" des jeweiligen Proponenten eines Szenarios. In der Energiepolitik kann dies z.B. der Fall sein, wenn "Atomenergie unvermeidlich ist" oder alternative Energien einfach "nichts bringen". Eine solche Strategie führt zwangsläufig zu "selffulfilling prophecies" im Sinne des Erfinders, wo nicht sein kann, was nicht sein darf. Eine derartige Zukunftsforschung verkommt zu eindimensionalem "technological forecasting" oder modischer Trendanalyse. So sind z.B. die "Megatrends" (John Naisbitt) ja keine Futurologie mehr, denn wenn ein Trend millionenfach belegt werden kann, ist er schon Historie und nicht vorausschauende Antizipation (Juvenel), welche ja gerade die kleinen, noch nicht für alle wahrnehmbaren Strömungen neuer Entwicklungen erkennt. Robert Jungk setzte sich für diese Art von Frühwarnsystemen und leisen Ansätzen kommender Wellen ein. Wie ein Tsunami startet jede grosse Flutwelle als kleine, kaum merkliche Verzerrung in der Tiefenstruktur, um dann zu einer gewaltigen Sturmgewalt anzuwachsen. Ein Megatrend ist also schon über uns, wenn wir ihn "voraussehen", es ist die Feststellung einer offensichtlichen Tatsache - also redundant. Bei der Zukunftsforschung müssen wir uns verhalten, wie ein vorsichtiger Segler auf dem Meer der Möglichkeiten, nicht wie der Raser in einem 1000 PS Powerboot, der nur noch seine eigene Bugwelle sieht Jede kleine Strömung und Veränderung muss bemerkt werden und die eigene Mitverursachung im resultierenden Gesamtsystems, der Zukunftsforscher ist nie nur Beobachter, sondern immer Partizipant (W. Heisenberg).
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