Volker Braun: Das ungezwungene Leben Kasts.
Aufbau- Verlag. Berlin und Weimar. 1979
Das vergilbte Büchlein entführt mich in eine vergangene Welt. Seine Realität ist die DDR, ihr problematischer und widersprüchlicher Alltag. In einer engagierten und beteiligten Sichtweise, wie sie heute absolut verpönt und leider auch von den allermeisten wirklich vergessen und verleugnet wird.

In den vier nicht gleichzeitig entstandenen Erzählungen werden Lebensabschnitte Kasts beschrieben. Diese Beschreibung beginnt mit der harten Arbeit "im Schlamm" des Aufbaus einer neuen Stadt, führt über den "Hörsaal" und die "Bühne" bis hin zur "Tribüne", auf welcher der zum Funktionär gewordene Kast sich wieder findet.

Schon was Volker Braun als Problem bestimmt, wirft ein kennzeichnendes Licht auf die Potenzen dieser Epoche. Bereits 1959, im schlimmsten Dreck des notwendigen Neuaufbaus des zerstörten Landes, geht es ihm gerade nicht um Plankennziffern, sondern um die Menschen, um ihren Sinn im Leben. Das also war mein Leben. Eine Arbeit, endlos, ohne große sichtbare Erlebnisse. die brauchte soundsoviele Leute, auch mich, oder einen anderen....

Wie lange kann man so leben? ... Mein Leben, das ich beginnen wollte, wie mußte es sein? Es ging hin...

Den meisten hier ging es nur ums schnelle Geldverdienen, Kast jedoch macht sich Gedanken um die größeren Zusammenhänge. Die Pläne sollen erfüllt werden, die Voraussetzung ihrer Erfüllung - geeignete Technik, gute Arbeitsorganisation - waren aber oft nicht vorhanden. Zu Wettbewerbssiegern wurden diejenigen, die unter besseren Voraussetzungen arbeiteten. Wie soll man da seine Leute überzeugen "Kollektiv der sozialistischen Arbeit" zu werden? Aber ihm öffnet ein alter Genosse auch die Augen für das Neue, das er selbst kaum erkennt: Da liegt ein Haufen krummer Stäbe rum, der Genosse spricht mit dem Arbeiter "Du baust doch den Sozialismus... da kannst die krummen Stäbe nicht liegenlassen, zieh sie durch und hämmre, das macht keine drei Prozent weniger. Aber das macht: besser leben. Dazu mußt du erst besser sein." Obwohl der Arbeiter widerspricht, wurde der Haufen nicht mehr größer. Sind das die kleinen Erfolge, an die man glauben darf? Du weißt, ich hab versucht, ganz selbstlos, von mir absehend zu arbeiten, mitten im Land. Jetzt stehe ich noch immer da ohne Sinn, ohne Ziel. Wir besitzen alles, aber alles geht noch langsam, träg, von unten her, aus dem Schlamm! Wie lange geht das so? Alles was wir tun ist vom Mangel diktiert, alles geschieht noch aus nackter Notwendigkeit. Und so verhalten wir uns. Wie gekettet in die Bedingungen, die wir vorfinden und mit winzigen Feilen aufbrechen. Vieles wird noch wie ein fremder Besitz behandelt: auch das Leben. Als Philosophiestudent wird er Parteigruppenorganisator, aber bald wieder abgelöst, weil er nicht nur Aufgaben durchstellt, sondern Fragen stellt. Zum Beispiel jene nach der einem Ende der Selbstlosigkeit, nach der Entfaltung der Individualität. Ich sage aber: freilich müsse man sich einsetzen, aber sich dabei selbst "realisieren"! Sonst käme nur der augenblickliche Vorteil für unsere "Sache" heraus, aber hernach sei der einzelne immer wieder bei dem Nullpunkt, als Nichts, der sich nicht mitentwickelt hat. Ich sagte. Der Vorteil ist wohl größer, wenn du auch nach dir fragst. Ja, die Gesellschaft bildet uns aus, aber wir können nicht mehr so stur und ausgerichtet herleben und uns zu etwas machen und sonst nichts. Das ist nicht natürlich sondern ein blöder Zwang - auf den wir bequemen Apparate allerdings schnell geeicht sind. Nur durch unsere ganze Person wird die Gesellschaft natürlich: zu unserer Natur. Auch in der Liebe und der Ehe entstehen neue Momente, die vom bürgerlichen Ideal der lebenslangen Zweisamkeit abweichen. Ja, "Liebe ist der Augenblick, in dem wir unsere Stärke fühlen - in dem wir uns bestätigen ineinander." Solch ein Augenblick kann wohl nur selten ein Leben lang währen. Eine Ehe wäre überfordert, diesen Augenblick immer wieder herbeizwingen zu sollen. "Die Ehe kann, bestenfalls, diese Heiterkeit des Beieinanders sein, durch nichts aber so gefährdet wie durch, der sie sich verdankt, die Liebe." Wenn einer dem Zwang zur Zweisamkeit dann entflieht, weil sie die Heiterkeit nicht gefunden haben, oder eine neue Liebe entstand, bekommt er Vorwürfe: "Und dann rügten wir ihn nicht, weil er ohne Freundschaft lebte und lieblos wär, wir rügten seine Freundschaften." Ich erinnere mich an einen alten DDR-Film aus den 60ern, der unlängst mitten in der Nacht gesendet wurde: Auch hier wurde versuchsweise in Frage gestellt, dass eine Partnerschaft eine lebenslange, gesetzliche Bindung benötigt, dass eine Gemeinsamkeit doch nur aus der konkreten, wirklichen Bindung bestehen kann - die entweder vorhanden ist oder nicht (mehr) - und nicht durch eine Rechtsform konstituiert wird.

Die spätere Arbeit Kasts als Bühnenautor ermöglicht eine neue Ebene der Reflexion. Er erlebt das Leben nicht mehr nur im "Schlamm", studiert es nicht nur im "Hörsaal", sondern er kann wesentlichen Widersprüche herausarbeiten und auf das Leben einzelner Individuen und ihre Konflikte beziehen. Er kann modellhaft zeigen, was es heißt: "Eine Gesellschaft ist danach zu beurteilen, welche Möglichkeiten sie dem letzten ihrer Bürger gibt."

Seine Theaterarbeit will kritisch sein und er versucht, die Schauspieler in die Entwicklung des Inhalts und der Darstellung einzubeziehen. Sie bringen ihre Konflikte, ihre persönliche Erfahrung und Haltung mit hinein. Aber das reicht noch nicht:

Die Zuschauer, und nicht nur im Saal, müssen einbezogen sein - in ein ständiges öffentliches Proben gesellschaftlicher Lösungen. Kein Vorspielen und Ansehn von "Abbildern" - sie müssen es mit machen, sich das Bild machen. Vorweggenommene Praxis, eine Praxis im Versuchsstadium, wo die Kosten der Experimente ertragbar sind. Ja, große und kleine Gruppen können ihre Möglichkeiten durchspielen und üben, alles übrige ist Museum. Letztlich muss Kast jedoch, nach den Geschehnissen im Prager Frühling, sogar die nur vorgeführten Widersprüche glätten. Wenn schon die realen Lebenskonflikte nicht zu glätten waren, sollten wenigstens die gezeigten Probleme ihre Härte verlieren, aber damit auch ihre Spannung, die Chance des kreativen Lösungsversuchs.

Kam diese Forderung für Kast noch "von oben", so entwickelte er sich selbst als Parteifunktionär zu einem Entscheider. Wieder in einem Betrieb tätig hatte er alles zu tun, um die Notwendigkeiten der effektiven Produktion voranzutreiben. Wir würden die Truppe in den geltenden Fahrplan einrangieren und mußten es, auf Biegen und Brechen, um die höheren Pläne zu bringen; wir würden sie einpressen in den Plan und die Norm und die Pflicht. Aber etwas von dem, das ihnen der Wert ihrer Arbeit war, das ein Sinne des Lebens war, etwas Zukünftiges, für das allein es lohnte, einen Finger zu bewegen - wir würden es vernichten. Indem er seine Lage klar erkennt - und uns damit zeigt, in welchem Dilemma auch die so viel beschimpften Funktionäre und Entscheider steck(t)en - zeigt er, was hätte möglich sein sollen beim Versuch, den Sozialismus zu entwickeln. Kast zählt auf, wofür er von den Menschen kritisiert wird: Statt um die Leute müsse ich mich um die Dinge kümmern; statt des Vielen, das sie wollen, interessiere mich nur das Eine: die Scheißproduktion. Die ich suchte nach einem Wort (Strukturen) müßten so verändert werden, daß wir das Gefühl hätten - nein, daß wir wirklich gefordert würden und gebraucht für ein Leben aus mehr als blinder Mühe! Das "ungezwungene Leben Kasts" endet dort, wo die Aufgaben für uns angefangen haben. Und die wir nicht erledigt haben. Weder bis 1990 noch danach.

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